Grade statt Stufen

ck/dpa
Acht Jahre nach ersten Vorarbeiten rückt eine Grundsatzreform der Pflege näher. Die drei Pflegestufen sollen bald der Vergangenheit angehören. Was soll die Reform bringen?

Im Kern der Pflegereform von Union und SPD geht es um den sogenannten Pflegebedürftigkeitsbegriff. Warum soll die Pflegeversicherung umgestellt werden?

Seit acht Jahren schon laufen Vorarbeiten, um neu festzulegen, wer offiziell Pflegebedarf hat. Bei der Eingruppierung der Betroffenen in eine der drei Pflegestufen haben die Gutachter des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen heute zu prüfen, welche Verrichtungen Pfleger für den Betroffenen leisten müssen. Viele Menschen mit eingeschränkten Fähigkeiten im Alltag, bei der Wahrnehmung und mit psychischen Störungen fallen durchs Raster. Bis zu 250.000 Demenzkranke gehen heute bei der Pflegeversicherung leer aus. 

Was ist an den Pflegestufen heute außerdem zu bemängeln? 

Es kommt auf die Minuten an. Pflegestufe 1 - monatlich 450 Euro für einen Pflegedienst etwa - erhält, wer 46 Minuten Grundpflege am Tag braucht. Es zählen Waschen, Zahnpflege, An- und Ausziehen, Treppensteigen und Nahrungsaufnahme. Hinzukommt Hilfe im Haus. Die "Minuten-Pflege" soll nun ganzheitlicheren Kriterien weichen. 

Wie sollen die Menschen künftig eingruppiert werden? 

Statt drei Stufen soll es fünf Pflegegrade je nach Beeinträchtigung geben. Es soll gemessen werden, was die Menschen noch können. Und zwar in acht Bereichen - unter anderem Mobilität, geistige Fähigkeiten, Selbstversorgung, Einnahme von Medikamenten und soziale Kontakte. 

Bekommen im Alltag eingeschränkte Menschen heute keine Leistungen? 

Doch - seit 2008 können sie Betreuung mit 100 oder 200 Euro im Monat bezahlt bekommen. Seit 2013 können Demenzkranke auch Pflegegeld oder Sachleistungen bis zu 2.400 Euro bei erheblichem Betreuungsbedarf bekommen. Man spricht von Pflegestufe 0. 

Wieviele Menschen begutachtet der Medizinische Dienst? 

Mehr als 830.000 wurden 2012 erstmals begutachtet. Bei gut 640.000 weiteren Betroffenen ging es um eine Höherstufung oder Wiederholung der Prüfung. Nach einem Widerspruch wurden etwa 110.000 Menschen begutachtet. Bei rund jedem zweiten erstmals Begutachteten wurde Pflegestufe I zuerkannt (Stufe II: 14, Stufe III: 3 Prozent). In fast jedem dritten Fall wurde kein Bedarf anerkannt. 

Was für Vorarbeiten laufen für den neuen Pflegebegriff? 

Schon 2006 wurde unter der damaligen Ministerin Ulla Schmidt (SPD) dafür ein Expertenbeirat eingesetzt. Er legte 2009 einen Bericht vor - doch der blieb folgenlos. Auf Bitten von FDP-Minister Daniel Bahr arbeitete der 37-köpfige Beirat, neu zusammengesetzt, ab 2012 rund 15 Monate lang an einem neuen Bericht. Unklar war etwa die Abgrenzung zur Eingliederungshilfe für Behinderte. 

Was ist nun geplant? 

Zwei weitere Untersuchungen: In rund 40 Heimen wird bei knapp 2.000 Menschen untersucht, welche Pflege sie genau bekommen - künftige Leistungshöhen sollen abgeschätzt werden. Bei weiteren 2.000 Pflegebedürftigen sollen Begutachtungen probeweise im alten und neuen Verfahren durchgeführt und Schwachstellen gefunden werden. Niemand soll schlechter gestellt werden als heute. 

Wann soll der Pflegebegriff umgesetzt sein - und für wieviel Geld? 

2017 soll laut Minister Hermann Gröhe (CDU) das neue Verfahren greifen. Rund 2,4 Milliarden Euro mehr pro Jahr sollen aus der Pflegekasse dafür fließen - der Pflegebeitrag soll dafür um 0,2 Punkte angehoben werden.

Ist es das einzige Vorhaben der Koalition bei der Pflege? 

Nein, bereits 2015 sollen die ausgezahlten Beträge an die Preisentwicklung angepasst werden. Mehr Betreuung und großzügiger bewilligte Leistungen soll es geben. Zudem soll in einem Fonds für später steigenden Bedarf gespart werden. Der Beitragssatz von 2,05 Prozent (Kinderlose: 2,3 Prozent) soll um 0,3 Punkte steigen. 

Worauf zielen Bedenken und Kritik? 

Überlastete Angehörige, Pflege als Armutsrisiko, zu wenig Zuwendung - fraglich ist, wie stark sich die Probleme von heute tatsächlich spürbar verbessern. So ging der Expertenbeirat auch von bis zu vier Milliarden Euro aus, die für den neuen Pflegebegriff nötig wären.

Und: Wer pflegt künftig?

Der Bremer Gesundheitsökonom Heinz Rothgang errechnete eine Lücke von bis zu 500.000 Vollzeitstellen in der Langzeitpflege in den nächsten 20 Jahren.

von Basil Wegener, dpa

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