"Zähneputzen ist kein Kürprogramm!"

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"Wir haben das große Glück in Deutschland, ein flächendeckendes Angebot personaler Kommunikation für alle Kinder zu haben!" Bettina Berg, Geschäftsführerin der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Jugendzahnpflege (DAJ), zum Status Quo der Gruppenprophylaxe.

Frau Berg, wie beurteilen Sie aktuell die Rahmenbedingungen für die Gruppenprophylaxe in  den Settings Kita und Schule?

Bettina Berg: Aus meiner Sicht sind die Rahmenbedingungen für die Gruppenprophylaxe in Kitas und Schulen insgesamt durchaus gut. Damit das so bleibt und wir die Mundgesundheit der Kinder weiterhin möglichst gut fördern können, sollten wir in einigen Bereichen noch aktiver werden.

Um es konkret zu sagen: Die zahnmedizinische Gruppenprophylaxe nach § 21 SGB V ist seit 1989 in den Settings fest etabliert. Wir erreichen in Kitas und Grundschulen jedes Jahr rund 80 Prozent der Kinder mindestens einmal mit einer Maßnahme zur Mundgesundheitsförderung, viele Kinder – insbesondere solche, deren Kariesrisiko höher ist – werden intensiver betreut.

Die Akteure der Gruppenprophylaxe erbringen ihre Angebote in enger Zusammenarbeit mit den pädagogischen Fachkräften in den Einrichtungen. Sie unterstützen die Bildungseinrichtungen dabei, deren pädagogischen Auftrag im Hinblick auf die Gesundheitsförderung umzusetzen. Der Auftrag zur Stärkung gesundheitlicher Potentiale, Kompetenzen und Orientierungen von klein auf ist sowohl Bestandteil der Kita-Gesetze aller Bundesländer als auch Bestandteil der Empfehlung der Kultusministerkonferenz zur Gesundheitsförderung und Prävention in der Schule. Hier setzt die Gruppenprophylaxe mit ihren Konzepten an, die die Kinder von klein auf in ihren Lebenskompetenzen und gesundheitsförderlicher Lebensführung stärken.

Auf Basis des im Juni 2015 verabschiedeten Präventionsgesetzes bauen derzeit viele Akteure ihre Präventionsangebote zu allen Aspekten gesunden Aufwachsens in den Lebenswelten aus. Das ist insgesamt zu begrüßen, muss aber insbesondere auf der kommunalen Ebene abgestimmt geschehen, damit es nicht zu einer Konkurrenz der Themen und Anbieter vor Ort kommt, sondern vielmehr zur Nutzung von Synergien.

Neben diesen gesetzlichen, beziehungsweise formalen Rahmenbedingungen beschäftigen uns auch die konkreten Bedingungen vor Ort: In vielen Kitas herrschen Überbelegung und Personal- beziehungsweise Fachkräftemangel. Da müssen die Fachkräfte der Gruppenprophylaxe immer wieder im persönlichen Gespräch dafür werben, welche Bedeutung das tägliche Zähneputzen für die (mund-)gesunde Entwicklung der Kinder hat: Alle Kitas haben den Auftrag, darauf hinzuwirken, dass Kinder unabhängig von ihrer sozialen Herkunft lernen, in gesunder Weise für sich selbst Sorge zu tragen. Zähneputzen ist hier ein wichtiger Baustein und nicht Kürprogramm.

In der Schule sind die Anforderungen an die Gruppenprophylaxe-Fachkräfte in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen, zum Beispiel durch die Inklusion: Kinder mit sehr unterschiedlichen Fähigkeiten und unterschiedlicher Herkunft werden gemeinsam unterrichtet. Um die Inhalte der zahnmedizinischen Gruppenprophylaxe zu vermitteln, ist immer mehr pädagogisches Know-how und Geschick vonnöten. Auch hierauf müssen wir uns einstellen, zum Beispiel durch mehr Fortbildung für unsere Aktiven.

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Immer mehr Kleinkinder werden in der Gruppenprophylaxe betreut

Seit dem 1. August 2013 haben Einjährige einen Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz. Inwiefern hat sich das auf die Arbeit der Arbeitsgemeinschaften in den Ländern ausgewirkt? 

Die Gruppenprophylaxe in Deutschland hat sich in den letzten Jahren sehr intensiv in allen Bundesländern darauf eingestellt, dass immer mehr Kleinkinder in die Kitas gekommen sind. Dass diese Kinder nun schon von klein auf durch die Gruppenprophylaxe mitbetreut werden können, ist eine gute Chance zur Vermeidung frühkindlicher Karies. Inzwischen liegt die Betreuungsquote bei 33 Prozent der unter Dreijährigen, Tendenz stetig steigend.

Vom Kita-Jahr 2012/13 zum Kitajahr 2013/14 sind rund 63.000 Kinder in den Einrichtungen bundesweit hinzugekommen. Rund 56.000 Kinder mehr als im Vorjahr haben 2013/14 an der Gruppenprophylaxe in den Kitas teilgenommen: Das bedeutet, der Ausbau der Gruppenprophylaxe für die Kleinsten hält mit dem Ausbau der Betreuungskapazitäten Schritt.

Auch inhaltlich haben wir uns auf die für uns noch recht neue Zielgruppe eingestellt, und die Gruppenprophylaxe entwickelt sich hier stetig weiter: Die DAJ hat 2012 Empfehlungen zur Prävention Frühkindlicher Karies entwickelt, die Empfehlungen für die Elternarbeit und die Kitas umfassen. Alle Landesarbeitsgemeinschaften arbeiten auf dieser Basis.

Nun gehen wir einen Schritt weiter und ergänzen diese Empfehlungen um pädagogische Aspekte, denn Prophylaxe für Kleinkinder, die noch ganz eng an ihre Bezugspersonen gebunden sind, erfordert andere Herangehensweisen als die Prophylaxe für ältere Kinder.

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Es gibt noch Luft nach oben

Es heißt, es gäbe bundesweit noch zu wenig Risikogruppenbetreuung. Kann man das so stehen lassen?

Ich würde sagen: Ja, sicherlich ist die Betreuung von Gruppen mit hohem Kariesrisiko in der Gruppenprophylaxe noch ausbaufähig. Die Sozialschichtabhängigkeit der Kariesprävalenz, beziehungsweise des Kariesrisikos ist vielfach nachgewiesen, und Herr Prof. Pieper hat mit seinen Forschungsarbeiten die Effektivität selektiver Intensivprophylaxe belegt.

Auch in seiner Eigenschaft als langjähriger wissenschaftlicher Leiter der DAJ-Studien bis zum Jahr 2009 hat er in den von der DAJ publizierten Gutachten darauf hingewiesen, dass in der Betreuung von Risikogruppen noch Luft nach oben ist. Zwar profitierten alle sozialen Gruppen vom allgemeinen Kariesrückgang der letzten 20 Jahre, Kinder mit erhöhtem Kariesrisiko jedoch in geringerem Maße.

Die DAJ hat seit langem Kriterien zur Definition erhöhten Kariesrisikos und auch zur Auswahl von Schulen, in denen Intensivbetreuung stattfinden sollte. Die gesellschaftlich insgesamt begrüßenswerte Inklusion, die mit einem deutlichen Rückgang der Förderschulen einhergeht, erfordert aber eine Umstellung von der Gruppenprophylaxe – es wird für uns dadurch schwieriger, Risikogruppen als Gruppen zu erreichen.

###more### ###title### Die Kinder üben im realen Leben, nicht im virtuellen Raum ###title### ###more###

Die Kinder üben im realen Leben, nicht im virtuellen Raum

Kinder sind äußerst souverän im Umgang mit modernen Kommunikationsformen und -geräten. Wie stellt sich die DAJ darauf ein?

Als moderne Institution findet die DAJ moderne Kommunikationsformen zwar super und in vieler Hinsicht hilfreich, sie achtet aber auch darauf, was sich bewährt hat und was wirkt. In der Prävention gilt: Der Erwerb von Gesundheitswissen und die Herausbildung von gesundheitsgerechtem Verhalten sind zwei paar Schuhe. Letzteres ist sehr viel schwieriger zu erreichen und findet im realen Leben statt, nicht im virtuellen Raum.

Wir haben das große Glück in Deutschland, mit der Gruppenprophylaxe ein flächendeckendes Angebot personaler Kommunikation für alle Kinder zu haben: Alle Kinder üben regelmäßig, ihrem Alter und Wissensstand entsprechend, mundgesundes Verhalten mit einer hoffentlich motivierenden Person ein. Häufig freuen sie sich schon auf den nächsten Besuch der „Zahnfee“, von „Kroko“ oder „Fridolin“:  Sie lernen am Modell, wenn alles gut geht mit persönlichem und emotionalem Bezug! Das hat sich bewährt, und doch sind wir hiermit auch lerntheoretisch absolut auf der Höhe.

Dennoch macht es durchaus Sinn, das Mundgesundheitswissen der Kinder über Apps, Online-Spiele und digitale Unterrichtsmaterialien zu steigern und die Begeisterung der Kinder für die Medienwelt zu nutzen, um das Thema Zähne positiv und präsent zu platzieren. Die DAJ schätzt diese Möglichkeiten und unterstützt sie auch, jedoch sieht sie die Kernaufgabe der Gruppenprophylaxe eher in der Gestaltung guter und erfolgreicher Lernbedingungen im persönlichen Kontakt mit den Kindern.

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Ernährungsbildung wird Schule machen

Die Starköchin Sarah Wiener versucht seit Jahren, mit Präventionskursen ein Bewusstsein für gesunde Ernährung bei Kindern zu sähen. Können Sie Rückschlüsse auf das kindliche Ernährungsverhalten ziehen?

Der grundlegende Ansatz, dass alle Kinder wieder ein direktes und sinnliches Verhältnis zu gesunder und vielfältiger Nahrung und Freude an ihrer Zubereitung erwerben sollten, und zwar von klein auf, ist absolut richtig. Auch das ist meiner Meinung nach integraler, familienergänzender Bildungsauftrag der Kitas.

Durch das Präventionsgesetz wird die Ernährungsbildung in den Settings Kita und Schule nun vermutlich einen Schub erfahren. Hoffentlich werden wir auch Verbesserungen im verhältnispräventiven Sinne sehen, sprich gesündere Angebote in der Gemeinschaftsverpflegung. Zur zahnmedizinischen Gruppenprophylaxe gehört auch als ein wesentlicher Baustein in Kita und Schule die zahngesunde Ernährung, und ich hoffe, dass wir hier in der nächsten Zeit Synergien erzielen.

Was mir an dem Ansatz von Frau Wiener gefällt: die Kinder lernen, es selbst zu tun - in diesem Falle, Gesundes zuzubereiten - und das ist ganz wesentlich, nicht nur beim Zähneputzen!

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Nuckelflaschenkaries ist in der Regel eine psychosoziale Problematik

Was erwarten Sie sich von der Neufassung der Kinder-Richtlinien und den damit verbundenen Verweisen im Rahmen der U-Untersuchungen im kommenden Jahr?

Die Neufassung der Kinder-Richtlinien ist ja seit vielen Jahren in Arbeit gewesen. Mein erster Eindruck ist, dass damit psycho-soziale Aspekte und die Interaktion von Kind und primärer Bezugsperson in den Fokus der Früherkennung gerückt werden. Ich denke, dass dies von hohem präventivem Wert ist - in Bezug auf die kindliche Entwicklung im allgemeinen, aber auch konkret auf die Mundgesundheit bezogen.

Frühkindliche Karies, insbesondere Nuckelflaschenkaries, ist in der Regel eine psychosoziale Problematik.  Mit den vorgesehenen Verweisen zur zahnärztlichen Untersuchung im Rahmen mehrerer U-Untersuchungen wird die pädiatrische und zahnmedizinische Prävention besser vernetzt, und ich hoffe, dass hiermit Erfolge bei der Bekämpfung der Frühkindlichen Karies erzielt werden.

Die Fragen stellte Sara Friedrich.

DieDeutsche Arbeitsgemeinschaft für Jugendzahnpflege (http://www.daj.de/ _blank external-link-new-window) ist ein gemeinnütziger Verein, der sich als bundesweit tätige Institution die Erhaltung und Förderung der Zahn- und Mundgesundheit zum Ziel gesetzt hat. Zahnmedizinische Prophylaxe soll die Mundgesundheit vor allem von Kindern und Jugendlichen verbessern. Dieser Aufgabe ist die DAJ seit ihrer Gründung im Jahre 1949  - damals noch als " Deutscher Ausschuß für Jugendzahnpflege e. V."- verpflichtet.

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