Kolliquationsnekrose nach Spülzwischenfall

Gesche Frohwitter, Marco Rainer Kesting, Thomas Mücke
Zahnmedizin
Bei einer 44-jährigen Patientin treten im Rahmen einer alio loco erfolgten endodontischen Therapie des Zahns 31 während der Wurzelkanalspülung mit Natriumhypochlorit plötzlich ausgeprägte Schmerzen auf.

Der Fall

Im Februar 2016 stellte sich eine 44-jährige Patientin im mund-, kiefer- und gesichtschirurgischen Notdienst des Klinikums rechts der Isar in München vor. Im Rahmen einer alio loco erfolgten endodontischen Therapie des Zahns 31 traten während der Wurzelkanalspülung mit Natriumhypochlorit (NaClO) plötzlich ausgeprägte Schmerzen auf.

Die Symptome

Die Behandlung wurde daraufhin abgebrochen, da der behandelnde Zahnarzt  den Verdacht einer Behandlungskomplikation hatte. Er vermutete, dass etwa 1 ml Natriumhypochlorit unter hohem Druck über den Apex hinaus appliziert worden war, was die Beschwerden erklären würde. Daraufhin wurde die Patientin unverzüglich in die Fachklinik überwiesen. Zum Aufnahmezeitpunkt klagte die Patientin über mäßige bis starke Schmerzen submandibulär bis in den Mundboden reichend. Des Weiteren lag eine derbe Schwellung der Regio mentalis vor, die durch leichte Einblutungen in die Haut imponierte.

Es bestanden leichte Schluckbeschwerden. Intraoral zeigte sich das Unterkiefervestibulum pergament dünn und rötlich verstrichen. Die Patientin hatte keine Zahnschmerzen, die Funktion des N. trigeminus und des N. facialis zeigten keine Einschränkungen.

Therapie und Verlauf

Allgemeinanamnestisch ergaben sich keine Besonderheiten. Aufgrund des Hergangs wurde die Patientin stationär aufgenommen und intravenös antibiotisch mit Unacid 3 g dreimal täglich behandelt. Im Verlauf des Tages präsentierte sich die Schwellung deutlich progredient und zunehmend ekchymatös.

Intraoral entwickelte sich eine im Unterkiefer beidseits bis in die Prämolaren-Region reichende kirschrote bis violette pralle Vestibulumsschwellung, die sich im Mundboden bis auf die Höhe der Carunculae sublingualis ausdehnte. Eine Krepitation bei der Palpation lag nicht vor, die Zunge war schmerzbedingt nur eingeschränkt beweglich, der Rachenraum unauffällig.

Die radiologische Diagnostik ergab keine dentalen und ossären Auffälligkeiten im Hinblick auf den intra- und extra-oralen Befund. Neben einer unklaren knöchernen Verschattung regio 046 sowie einer unversorgten Schaltlücke regio 026 zeigte sich auch klinisch ein kariesfreies Gebiss.

Weitere Maßnahmen

Nachdem die Schwellung deutlich zunahm, erfolgte eine unter Lokalanästhesie durchgeführte intraorale Inzision am Punctum maximum sowie eine ausgiebige Spülung des Befundes mit physiologischer Kochsalzlösung und Polyhexanid. In die Wunde wurde ein Polyhexanid-Drainagestreifen eingelegt. Es folgten täglich zweimalige Spülungen und Streifenwechsel über vier Tage, worunter sich der Befund ab dem zweiten stationären Tag langsam regredient zeigte.

Im Anschluss an den stationären Aufenthalt folgte eine regelmäßige Wundspülung über 14 Tage in unserer Ambulanz. Die oralisierte Antibiotikumtherapie mit Amoxiclav 875/125 konnte nach sieben Tagen beendet werden. Nach insgesamt dreiwöchiger Behandlung konnte die Patientin beschwerdefrei aus der mund-, kiefer- und gesichtschirurgischen Nachsorge entlassen werden.

###more### ###title### Diskussion ###title### ###more###

Diskussion

Der infizierte Wurzelkanal kann mit über 700 verschiedenen Keimen besiedelt sein. Im Rahmen kariös induzierter apikaler Parodontitiden ist von einem gramnegativen Spektrum mit anaerobem Schwerpunkt auszugehen [Fabricius, 1982, Moore, 1987]. Die Anzahl koloniebildender Einheiten im infizierten Wurzelkanal kann bis zu 108betragen. Der Verhaltenssynergismus der beteiligten Bakterien ist charakteristisch [Dahlén and Haapasalo, 1998, Kantz and Henry, 1974].

Neben typischen Mundhöhlenbakterien wie Porphyromonas, Actinomyces und Fusobacteriae sind atypische persistierende Wurzelkanalinfektionen mit Escherichia coli oder Enterococcus faecalis möglich.

Die adäquate Therapie einer Wurzelkanalinfektion besteht in der chemomechanischen Aufbereitung des Wurzelkanals mittels endodontischer Feilen und Spüllösungen. Die Spüllösung soll desinfizierend auf den Pulpakanal wirken, Gewebereste entfernen sowie den Smearlayer reduzieren. Hierbei hat sich Natriumhypochlorit, das bereits während im Ersten Weltkrieg in der septischen Wundbehandlung eingesetzt wurde, zu den Standardspüllösungen der konservierenden Zahnheilkunde entwickelt [Dakin, 1915].

Der pH-Wert liegt mit 13 im basischen Bereich. Neben einer kombinierten antimikrobiellen, Gewebe-auflösenden und desinfizierenden Wirkweise, kann zudem ein Bleaching-Effekt der Dentinkanälchen bei eingedrungenem Blut und Geweberesten genutzt werden [Turkun and Cengiz, 1997]. Die handelsüblichen Konzentrationen von 0,5- bis 5,25-prozentigem Natriumhypochlorit zeigen in ansteigender Reihenfolge eine Zunahme der Gewebe-auflösenden Potenz, die deutlich über der nekrotisierenden Wirkung anderer Spüllösungen wie Chlorhexidin oder Wasserstoffperoxid liegt [Naenni, 2004].

Konsekutiv steigt temperaturabhängig die Toxizität [Spangberg, 1973, The, 1979]. Der hochvolumige Einsatz dieser Spüllösung für endodontische Behandlungen wird im Rahmen einer wissenschaftlichen Stellungnahme der DGZMK befürwortet [Hülsmann, 2004].

Mögliche Komplikationen

Komplikationen während endodontischer Behandlungen treten äußerst selten auf. Erfolgt jedoch eine Applikation von Natriumhypochlorit in den periapikalen Raum, in die Kieferhöhle oder ins Weichgewebe, kann es aufgrund der Laugenwirkung zu Kolliquationsnekrosen, Emphysemen und Ulzerationen kommen, die durch die Schädigung von Fibroblasten, Endothelzellen sowie der Zerstörung der Architektur von spongiösem Knochen begünstigt werden [Gatot, 1991, Kerbl, 2012]. Shovelton beschrieb 1957 eine Serie von zwölf Fällen mit einem Weichteilemphysem nach endodontischer Behandlung [Shovelton, 1957].

Als klinisches Korrelat zeigen sich zunächst akute Schmerzen, hämorrhagische Gewebeschwellung, Emphysembildung bis hin zum Pneumediastinum sowie allergische Reaktionen, die bis zur akuten Atemnot und Intubationspflicht führen können. [Al-Sebaei, 2015, Becker, 1974, Gatot, 1991, Smatt, 2004].

Je nach Lokalisation der betroffenen Region kann es allerdings zu persistierenden Nervirritationen in Form von Hyp- oder Parästhesien, Kieferhöhlenbeschwerden und Narbenbildungen kommen. Die Prognose des endodontisch behandelten Zahns bleibt hingegen unbeeinflusst [Kleier, 2008]. Das American Board of Endodontics empfiehlt zur Vermeidung von Spülzwischenfällen die Durchführung einer adäquaten radiologischen Diagnostik in Form von Zahnfilmen vor und während der Wurzelkanalaufbereitung.

Des Weiteren sollten Instrumente mit Stoppern versehen werden, um eine Überinstrumentierung zu vermeiden [Kleier, 2008]. Im Rahmen der Wurzelkanalspülungen sollte der Einsatz dünner und spitzer Spülkanülen vermieden werden. Es gibt auch Kanülen mit seitlichem Auslass, damit der apikale Staudruck vermieden wird.

Die Behandlung endodontischer Spülzwischenfälle sollte aufgrund der oftmals starken Beschwerdeprogredienz durch eine Klinik für Mund- Kiefer- Gesichtschirurgie mit der Möglichkeit einer stationären Behandlung erfolgen.

Therapeutisch stehen die Symptomlinderung sowie das Verhindern von Befundverschlechterungen und Superinfektionen im Vordergrund. Eine adäquate Schmerztherapie mit nicht-steroidalen Antirheumatika sowie die Verabreichung eines Breitspektrumantibiotikums zur Vermeidung von lokalen und systemischen Infektionen sind im Hinblick auf die Keimvielfalt der Mundhöhle obligat.

Dadurch wird die Superinfektionsgefahr des nekrotischen Gewebes reduziert. Bei entsprechender klinischer Ausdehnung sollte eine Inzision des Befunds am punctum maximum sowie eine ausgiebige Spülung mittels NaCl oder Polyhexanid erfolgen. Das Offenhalten durch eine Streifendrainage und die Wiederholung der Spülbehandlung bis zum deutlichen Abklingen des Befundes sind essenziell.

Hierunter kommt es wie im vorliegenden Fall in der Regel zu einer deutlichen Besserung der Schmerzsymptomatik sowie zu einer Reparation des Gewebedefekts durch die Granulierung vom vitalen Wundrand aus. Eine orale Gabe von Steroiden kann ebenfalls als Unterstützung zur Behandlung der Schwellung erfolgen. Die radiologische Diagnostik richtet sich nach der Ausdehnung des Befundes.

Insbesondere bei Verdacht auf ein Pneumediastinum sollten eine Computertomografie der Kopf-Hals-Region und des Thorax stattfinden und die Konsultation der Herz- Thoraxchirurgie erfolgen.

Nach Abschluss der Akuttherapie sind die weiteren Behandlungsschritte abhängig von der Ausdehnung des Befundes. Hierbei können Nekrosektomien und plastisch rekonstruktive Operationen mit Gewebetransplantaten erforderlich werden. Eine dreidimensionale Bildgebung ist vor allem bei ausgedehnten Weichteilemphysemen und schwerer Klinik erforderlich. Erfreulicherweise zeigt der klinische Verlauf oftmals nach mehreren Wochen eine restitutio ad integrum. Nur selten bleiben Hypästhesien oder funktionelle Einschränkungen zurück.

Fazit für die Praxis

Natriumhypochlorit erfährt seit Jahrzehnten in der Zahnheilkunde einen routinemäßigen Einsatz - sollte jedoch aufgrund eindrucksvoller Komplikationen bei Anwendungszwischenfällen stets unter bestmöglicher klinischer Kontrolle erfolgen. Es hilft zusätzlich, hohen Staudruck zu vermeiden und sichere Spülkanülen zu verwenden.

Sollte es dennoch zu einem Spülzwischenfall kommen, ist die zeitnahe Weiterleitung des Patienten an eine Fachabteilung für Mund- Kiefer- Gesichtschirurgie unerlässlich, um weitreichende Komplikationen einer Kolliquationsnekrose oder eines Weichgewebsemphysems frühzeitig und adäquat therapieren zu können.

Hierdurch kann die Ausbreitung der Kolliquationsnekrose effektiv gestoppt werden, da die Lauge frühestmöglich durch wiederholte Spülungen mit desinfizierenden und pH-neutralen Lösungen neutralisiert werden kann. Ein Erhalt des Zahns ist oftmals nach Abschluss der Akuttherapie möglich.

Gesche FrohwitterProf. Dr. Dr. Marco Rainer KestingPriv.-Doz. Dr. Dr. Thomas MückeKlinik für Mund-, Kiefer- und GesichtschirurgieKlinikum rechts der Isar der Technischen Universität MünchenIsmaninger Str. 22, 81675 Münchenth.mucke@gmx.de Literatur 

  • 1.       Moore WE. Microbiology of periodontal disease. Journal of periodontal research 1987 Sep;22(5):335-341.

  • 2.       Fabricius L, Dahlen G, Ohman AE, Moller AJ. Predominant indigenous oral bacteria isolated from infected root canals after varied times of closure. Scandinavian journal of dental research 1982 Apr;90(2):134-144.

  • 3.       Kantz WE, Henry CA. Isolation and classification of anaerobic bacteria from intact pulp chambers of non-vital teeth in man. Archives of oral biology 1974 Jan;19(1):91-96.

  • 4.       Dahlén G, Haapasalo M. Microbiology of apical periodontitis. In: Ørstavik D, Pitt Ford TR, editors. Essential endodontology: prevention and treatment of apical periodontitis: Oxford, United Kingdom: Blackwell Science Ltd, 1998. p. 106–130.

  • 5.       Dakin HD. On the Use of Certain Antiseptic Substances in the Treatment of Infected Wounds. British medical journal 1915 Aug 28;2(2852):318-320.

  • 6.       Turkun M, Cengiz T. The effects of sodium hypochlorite and calcium hydroxide on tissue dissolution and root canal cleanliness. International endodontic journal 1997 Sep;30(5):335-342.

  • 7.       Naenni N, Thoma K, Zehnder M. Soft tissue dissolution capacity of currently used and potential endodontic irrigants. Journal of endodontics 2004 Nov;30(11):785-787.

  • 8.       Spangberg L. Kinetic and quantitative evaluation of material cytotoxicity in vitro. Oral surgery, oral medicine, and oral pathology 1973 Mar;35(3):389-401.

  • 9.       The SD. The solvent action of sodium hypochlorite on fixed and unfixed necrotic tissue. Oral surgery, oral medicine, and oral pathology 1979 Jun;47(6):558-561.

  • 10.     Hülsmann MS, E. Petschelt, A.; Rabb, W.; Weiger, R. Good clinical practice: Die Wurzelkanabehandlung.  Stellungnahme der DGZMK, 2004.

  • 11.     Gatot A, Arbelle J, Leiberman A, Yanai-Inbar I. Effects of sodium hypochlorite on soft tissues after its inadvertent injection beyond the root apex. Journal of endodontics 1991 Nov;17(11):573-574.

  • 12.     Kerbl FM, DeVilliers P, Litaker M, Eleazer PD. Physical effects of sodium hypochlorite on bone: an ex vivo study. Journal of endodontics 2012 Mar;38(3):357-359.

  • 13.     Shovelton DS. Surgical emphysema as a complication of dental operations. British dental journal 1957;102:125—129.

  • 14.     Al-Sebaei MO, Halabi OA, El-Hakim IE. Sodium hypochlorite accident resulting in life-threatening airway obstruction during root canal treatment: a case report. Clinical, cosmetic and investigational dentistry 2015;7:41-44.

  • 15.     Becker GL, Cohen S, Borer R. The sequelae of accidentally injecting sodium hypochlorite beyond the root apex. Report of a case. Oral surgery, oral medicine, and oral pathology 1974 Oct;38(4):633-638.

  • 16.     Smatt Y, Browaeys H, Genay A, Raoul G, Ferri J. Iatrogenic pneumomediastinum and facial emphysema after endodontic treatment. The British journal of oral & maxillofacial surgery 2004 Apr;42(2):160-162.

  • 17.     Kleier DJ, Averbach RE, Mehdipour O. The sodium hypochlorite accident: experience of diplomates of the American Board of Endodontics. Journal of endodontics 2008 Nov;34(11):1346-1350.

   

Melden Sie sich hier zum zm Online-Newsletter an

Die aktuellen Nachrichten direkt in Ihren Posteingang

zm Online-Newsletter


Sie interessieren sich für einen unserer anderen Newsletter?
Hier geht zu den Anmeldungen zm starter-Newsletter und zm Heft-Newsletter.