Wie man zahnmedizinische Dogmen überwindet

Hanna Hergt
Zahnmedizin
Warum Roboter keine Zahnärzte werden können und Innovationen wie die Kariesinfiltration eine Generation brauchen, um sich durchzusetzen, erzählt Universitätsprofessor Dr. Hendrik Meyer-Lückel, Vorstand der Stiftung Innovative Zahnmedizin.

Der technische Fortschritt verändert die Arbeitswelt dramatisch. So können Roboter in der Medizin bereits die Arbeit von Operateuren übernehmen, die Ärzte sitzen am Computer und steuern die Eingriffe. Wird uns künftig der Roboter auch die Zähne füllen?

Prof. Dr. Hendrik Meyer-Lückel: Ich sehe nicht die Gefahr, dass Roboter Zahnärzte zu großen Teilen ersetzen könnten. Die Entscheidungsfindungsprozesse sind zu individuell und würden durch rein computerisierte Arbeitsabläufe nicht ausreichend adressiert werden.

Das mögen allenfalls einzelne Schritte sein, die durch eine weitere Technisierung erleichtert würden. Die Frage ist, ob sich diese im Einzelnen dann auch bei wahrscheinlich höheren Kosten lohnen würden. Wir müssen immer sehr genau prüfen, ob neue technische Errungenschaften tatsächlich eine Verbesserung darstellen oder nicht etwa Scheininnovationen sind.

Letztlich möchte der Patient auch nicht von einem Roboter versorgt werden...

Die Zahnarzt-Patienten-Bindung ist sehr intensiv. Darüber entscheidet primär der Patient, nicht die Berufsgruppe. Es ist natürlich ein industriegesteuerter Wunsch, die Verfahren zu standardisieren, damit die Industrie nachher die Lösung liefern kann. Sicherlich heißen das manche Patienten als Fortschritt gut, aber andere auch nicht. Die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte.

Neue Medizintechniken in einer alternden Gesellschaft - ist dies nicht ein Widerspruch?

Offensichtlich werden die Phasen des Alterns und damit auch der Lebensabschnitt, in dem man nicht mehr so bewusst Entscheidungen fällen kann, länger. In der Zahnmedizin brauchen wir daher eventuell gar nicht immer so hochtechnisierte Verfahren - einem bettlägerigen Patienten ein Hightech-Implantat einzupflanzen, wäre beispielsweise eine völlig falsche Therapieentscheidung.

Sinnvoller wäre hier der Ansatz einer individualisierten Medizin, den Patienten in dieser schwierigen Lebensphase seinen Bedürfnissen gemäß mit einem adäquaten, aber nicht zu sehr technisierten Aufwand zu betreuen. Dafür benötigen wir nicht nur neue technische Entwicklungen, sondern bewährte Dinge, die wir dann sehr bewusst in dieser Altersgruppe anwenden.

Sie selbst forschen etwa auf dem Gebiet der Kariologie und haben mit der mikroinvasiven Behandlung, der Kariesinfiltration, eine zukunftsweisende Methode entwickelt. Welche Erfahrungen haben Sie mit der Umsetzung Ihrer Entwicklung gemacht? Was hemmt den Fortschritt in der Praxis?

Aus unserer Sicht ist die Kariesinfiltration nicht einfach ein neues Produkt. Denn diese Methode wird man nur überzeugt anwenden, wenn man sich auf den Wandel des Kariesdogmas von einer spezifischen Infektion hin zu einer ökologischen Betrachtungsweise von Biofilm und Zahn einlässt.

Viele innovationsfreudigere Kolleginnen und Kollegen, die die Kariesinfiltration schon lange anwenden, sind aber begeistert, weil die Theorie dahinter sehr plausibel ist - und die Methode im Vergleich zur zweiflächigen Füllung sehr zahnhartsubstanzschonend ist.

Für andere steht aber die vollständige Entfernung von erkranktem Gewebe als unumstößliches Dogma im Raum. Dies müsste erst überwunden werden, um von der Kariesinfiltration überzeugt zu sein - und das ist schwer. Das war bei neuen grundlegenderen Ideen aber schon immer so, was man akzeptieren muss.

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"Es ist unmöglich, anderen Zahnarztkollegen Meinungen einzuimpfen!"

In welchem Zeitrahmen rechnen Sie da?

Eine Generation. Auch unter Hochschullehrern findet die Methode nicht durchgehend Akzeptanz. Es ist unmöglich, anderen Zahnarztkollegen Meinungen einzuimpfen. Man kann seine These vorstellen und sich Gehör verschaffen. Je mehr Aufmerksamkeit man bekommt, umso einfacher wird es irgendwann. Aber generell ist der Weg, in unserem Fall die Wandlung der theoretischen Grundlage von einer spezifischen Plaquehypothese hin zu einer ökologischen, sehr lang.

Der Anfang war eine wissenschaftliche Arbeit aus dem Jahr 1994, wobei es in der Wissenschaft natürlich schon vorher gebrodelt hatte. Mittlerweile bringen wir dem Nachwuchs nur noch die ökologische Plaquehypothese als Grundlage der Kariologie bei, aber die spezifische wird erst in Vergessenheit geraten, wenn die Behandler, die sie gelernt haben, aus dem Berufsleben ausscheiden. Also jene, die jetzt um die 40 sind. Die meisten jüngeren Zahnärzte werden mit dem neuen Dogma und den daraus erwachsenden Therapien wie der Kariesinfiltration kein Problem haben.

Wobei es aber auch hier Überschneidungen gibt: Sie gehen als jüngerer Kollege in die Praxis - und da ist eben der Kollege, der teilweise überholte Denkweisen mit einer gewissen Überzeugungskraft vertritt. Da heißt es dann für die jüngere Generation, auch gegen Widerstände eigene Wege finden. Glücklicherweise gibt es aber auch viele etablierte Kolleginnen und Kollegen, die einen reflektierten Umgang mit Neuerungen pflegen.

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"Es existieren meist nur industriegeförderte klinische Studien"

Welche politischen und wissenschaftlichen Rahmenbedingungen würden Sie sich wünschen, um zahnmedizinische Innovationen in Deutschland besser fördern zu können?

Wir haben nicht die Möglichkeiten, klinische Studien zu Produkten und Verfahren so gefördert zu bekommen, dass unabhängige Seiten, sprich Universitäten, ein Interesse an deren Prüfung haben. Somit existieren meist nur industriegeförderte klinische Studien. Den neutralen Einstieg in eine wirklich umfangreichere klinische Studie gibt es so nicht.

Und für die Zulassung von Medizinprodukten brauchen Sie in Europa keine klinischen randomisierten Studien, Sie müssen lediglich eine Eignungsprüfung vorlegen - diese ist aber längst nicht so streng wie bei Medikamenten. Das ist etwa in Amerika wesentlich strikter geregelt, zumindest wenn Sie hierfür eine offizielle Abrechnungsposition für eine speziellere Indikation bekommen wollen.

In den vergangenen vier, fünf Jahren sind oft Produkte auf den Markt gekommen, deren Wirksamkeit, wenn überhaupt, nur sehr schlecht belegt ist. Wir hatten bei der Kariesinfiltration beispielsweise bei Markteinführung zwei randomisierte klinische Studien vorliegen, eine unabhängige und eine eigene, die jedem gezeigt haben: Das geht wirklich.

Es wäre wünschenswert, dass dies generell der Fall wäre - und darüber hinaus auch die Anforderungen an die Überprüfung bestehender Therapien wären. Nicht alles, was in den Mündern gemacht wird, ist gut belegt. Umfangreichere klinische Prüfungen würden sicherlich die Akzeptanz von Innovationen erhöhen. Und natürlich würden wir uns dafür mehr staatliches Geld wünschen, was fast schon eine Utopie ist.

Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen hatte in seinem letzten Gutachten ja auch empfohlen, Medizinprodukte besser und von einer unabhängigen Stelle prüfen zu lassen.

Das wäre sinnvoll. Doch wer soll das alles machen? Da stößt man heutzutage auch an personelle Grenzen, gute Wissenschaftler zu finden, die bereit sind, solch eine Studie, auch wenn diese bezahlt würde, durchzuführen.

Wir sollten im Praxisalltag grundsätzlich immer vorsichtig mit Innovationen sein, weil sie eben auch oftmals nicht so gut geprüft sind. Wir sollten angesichts dieser Tatsache vielmehr auch mit den Dingen, die wir schon haben, bewusster umgehen.

Als Vorstand der Stiftung Innovative Zahnmedizin verleihen Sie den Dental Innovation Award. Welche aussichtsreichsten Ansätze konnten Sie hier in der vergangenen Zeit beobachten?

Primär gehen die Preise an Praktiker mit pfiffigen Ideen, die meist schon sehr weit ausgereift sind. So haben wir etwa eine Zahnbürste mit Spülfunktion für den Intensivpflegebereich prämiert - genau die Zielgruppe, bei der man mit einfachen Möglichkeiten Probleme angehen kann. Eine Pflegekraft kann auf diese Weise wahrscheinlich viel Karies verhindern.

Oder wir haben die Idee ausgezeichnet, Getränkeflaschen mit einem weichen Kopf zu versehen, der ein neutralisierendes Medium abgibt. Das soll einerseits verhindern, dass sich die Leute beim Trinken aus der Flasche Zahnanteile absprengen. Und zum anderen bei zahnschädlichen Getränken vor Erosionen schützen.

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"Ich vertraue immer noch dem Zahntechniker um die Ecke"

3-D-Drucker und neue Software revolutionieren die Kommunikation zwischen Praxen und Laboren. Welche Bedeutung nimmt die Digitalisierung in der Zahnheilkunde ein?

Die Digitalisierung der Dokumentation zahnärztlicher Leistung ist abgeschlossen - was auch seinen Sinn hat. Beispielsweise bei der indirekten Versorgung von Zähnen mithilfe computergestützter Verfahren wie CAD/CAM sieht es etwas anders aus. Eine digitale Methode sollte eine Arbeitserleichterung, einen Zeitgewinn oder - genereller gedacht - eine substanzschonende Behandlung für den Patienten darstellen.

Wenn das zusammenkommt, und der Anschaffungspreis der benötigten Geräte nicht zu hoch ist, dann könnte eine Digitalisierung einzelner Prozesse im Praxisalltag Sinn machen. Wir haben an unserer Hochschule einen Lehrstuhl für computergestützte Zahnheilkunde - und auch von dort ist zu hören, dass wir auf diesem Gebiet allerdings noch einige Hausaufgaben machen müssen.

Ich bin in dieser Frage sehr vorsichtig: Ich vertraue immer noch dem Zahntechniker um die Ecke, der mir einen guten Preis macht und kann so auch schwierige klinische Situationen wie beispielsweise eine subgingivale Präparationsgrenze meistern. Zurzeit scheint mir ein Nutzen für den Behandler und auch den Patienten bei CAD/CAM nicht immer gegeben. Ich muss einiges investieren und habe nicht unbedingt ein besseres Ergebnis.

Und der Zahnarzt muss lernen, mit diesen Computertechniken umzugehen, die ja auch nicht ohne Tücken sind.

Um bei dem Beispiel CAD/CAM zu bleiben: Deswegen arbeiten wir in unseren Studierendenkursen nicht mehr routinemäßig mit diesen Verfahren: Die Studierenden können erfahrungsgemäß nicht in der Kürze der Zeit erlernen, damit brauchbare Ergebnisse zu erzielen. Oftmals waren die Assistenten mit der Herstellung von indirekten Restaurationen über Gebühr belastet.

Wenn wir allerdings diese Kenntnisse vertiefen und ausbauen würden, fielen andere Ausbildungsteile weg, die viel wichtiger sind. Ich denke, eine Etablierung von Verfahren sollte nicht nur unter Innovationsaspekten, sondern immer auch unter Abwägung aller patienten- und praxisrelevanten Gesichtspunkte erfolgen - dies gilt auch für die Hochschule.

Die Fragen stellte Hanna Hergt, Volkswirtin und Fachautorin.    

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