Diesen Tag im September 1981 wird Roland Garve nie vergessen, denn er hat sein Leben für immer verändert. Als er im Krankenhaus aufwacht, sieht er zwei Männer an seinem Bett sitzen. Graue Anzüge, spitze Gesichter, kalte Augen. Er denkt, das sind keine Ärzte. Das ist auch nicht die Polizei. Das ist die Staatssicherheit.
Wo die Mörder einsitzen
An jenem Morgen in Rostock beginnt ein 20 Monate währender Albtraum, der den jungen Mann erst in Einzelhaft, dann in einen Geheimprozess und schließlich in das furchtbarste Gefängnis der DDR führen wird, nach Brandenburg-Göhren, wo die Mörder einsitzen. Doch Garve ist kein Mörder. Er hat überhaupt kein Verbrechen begangen. Er hat gerade sein Examen als Zahnarzt bestanden, und er hat einen Traum. Seit er klar denken kann, will er hinaus in die Welt. Er möchte reisen, möglichst weit reisen, zu den Indianern, zu den Papuas, zu den Massai.
Es ist ein unmöglicher Traum in der DDR, aber er hält daran fest. Mit einem Freund hat er sich eine Ausrüstung gebastelt, um durch die Elbe zu tauchen. Dann, als sie ihn befüllen wollen, explodiert ein Druckluftbehälter - es folgen Schmerz, Ärzte, Dunkelheit. Das Krankenhaus. "Ich will doch gar nicht in den Westen, ich will in den Dschungel", wird Garve zu den Vernehmern von der Staatssicherheit sagen, immer wieder, aber die verstehen nicht und lachen nur.
Doch Garve ist es ernst, denn er ist einer, für den es in dieser DDR rein gar nichts zu tun gibt. Das Land erscheint ihm zum Gähnen langweilig - und ein Abenteurer darin wie ein Widerspruch in sich selbst. Garve aber möchte genau das sein: Abenteurer, Entdecker, Weltenbummler. Das ist sein Traum.
Ewige Flucht vor der DDR
Jahre später wird ein Freund zu ihm sagen: "Roland, ich glaube, dass du so ruhelos bist, weil du immer wieder aufs Neue vor der DDR und dem Gefängnis fliehst. Weil sich dein Traum und dein Trauma gegenseitig verstärken." Als der Freund das sagt, hat Garve schon Dutzende Expeditionen in die entlegensten Flecken der Erde bewältigt. Da ist der ruhelose Zahnarzt auf dem Weg, sich in die Genealogie der großen Abenteurer, der Harrers, Messners, Nehbergs einzuschreiben.
Das Zeug dazu hat er, genug erlebt allemal. Wenn er über seine Erlebnisse redet, springt er vom Amazonas an den Nil, von Neuguinea nach Nordindien, von Burundi nach Boizenburg an der Elbe. Wobei Boizenburg ein guter Anker für die erstaunliche Geschichte des Dr. Roland Garve ist.
Denn dies ist der Ort, wo alles begann, im äußersten Westen des Ostens, dem Grenzgebiet der DDR zur BRD. Wo er, der zweite von drei Söhnen eines Werftarbeiters, der als Jugendlicher ethnologische Bücher verschlang und fernöstlichen Kampfsport trainierte, "immer nur weg wollte".
Wo er sich nach 20 Monaten Haft wegen "versuchter Republikflucht" wiederfand - mit dem Gefühl, aus einem kleinen Gefängnis in ein großes entlassen worden zu sein - und endlich, weitere zehn Monate später, im März 1984, abgeschoben wurde. "Freiheit!" rief er den grauen Herren auf dem Bahnsteig zu, als sich der Zug in den Westen in Bewegung setzte. Damals ist Garve 27 Jahre alt, und alles, was er nun tut, dient nur diesem einen Ziel: sich eine Existenz aufzubauen, um reisen zu können.
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