Der Blick in die Wundertüte
Ein Raunen ebbte durch den Raum. Dann gingen die Fragen auf ihn nieder: Wie er sich im Dschungel verständige? Ob man ihm nach dem Leben getrachtet habe? Ob er die Yanomami kenne? Und vor allem, wie es um die letzten Naturvölker dieser Erde wirklich bestellt sei? Denn das war den Berliner Buchhändlern schnell klar geworden: Der Mann, der da vor ihnen saß, ist etwas Besonderes. Rein äußerlich: ein Kerl wie ein Baum, muskulös, hochgewachsen, ein Indiana-Jones-Typ. Psychisch wohl auch: geradeaus, offen, neugierig und von jener Naivität, ohne die man endlose Märsche, Malariaanfälle und Wochen im Dreck nicht auf sich nimmt. Sie spüren, das ist einer, der seinem Traum gefolgt ist, wie es nur Besessene können - und der damit ganz bei sich ist.
Vor allem wirkt die schiere Anzahl seiner Erlebnisse. Weltweit findet man nur wenige Menschen wie Garve, die aus eigener Anschauung eine große Zahl der noch existierenden Naturvölker dieser Erde kennen. Menschen, die in der Lage sind, Auskunft zu geben über die letzten Inseln der Steinzeit im Meer der Moderne, die gerade tsunamigleich mit den Segnungen der Zivilisation überschwemmt und kulturell eliminiert werden. "Als ich meine ersten Reisen zu Naturvölkern machte, wurde mir schlagartig klar, dass es die allerletzte Chance war, diese Welten noch selbst kennenzulernen - und das habe ich seit 20 Jahren getan", sagt Garve. "In jeder freien Minute bin ich losgezogen."
Mehr als 60 Expeditionen haben ihn seither in jene Urwälder, Berge und Savannen geführt, wo Menschen noch so leben wie vor Tausenden von Jahren. Wo man noch live beobachten kann, was hierzulande das Fernsehen gerade für eine Abendserie mühsam rekonstruiert hat.
Im Mai 1987 geht es unter Führung eines ehemaligen Fremdenlegionärs sieben Tage lang über einen Nebenfluss des Amazonas zum kriegerischen Stamm der Auca in Ecuador. Man hat die Reisenden gewarnt - es sind Weiße attackiert worden in dem Gebiet, auf das Erdölgesellschaften ihr Auge geworfen haben.
Mit Schraubenzieher und Kombizange wird der Häuptling behandelt
Garve aber entdeckt bei den Auca so etwas wie seine eigentliche Bestimmung. Hier gibt er seinen Reisen - seinem Traum - einen Sinn. Der Häuptling des Stammes heißt Kempede und klagt über Zahnschmerzen. Garve soll ihm helfen, aber er hat nur Anästhesiespritzen im Gepäck. Was tun? Er denkt an die Haft in Brandenburg, wo er sich eine Zelle mit sechs Mördern teilen musste. Dort hat er überlebt, weil er als Kampfsportler trainiert war - und weil er helfen konnte, wenn einer der Insassen Zahnschmerzen hatte. Damals hat er gelernt, mit einfachstem Werkzeug Zähne zu ziehen. Das hat selbst den Mördern Respekt abverlangt.
Mit Schraubenzieher und Kombizange behandelt er jetzt auch den Häuptling der Auca. Kempede revanchiert sich und zeigt seinem Gast, wie er das tödliche Gift Curare anmischt, wie er es auf die Pfeilspitzen aufträgt und das passende Blasrohr herstellt. Da fährt es Garve wie ein Blitz durch den Kopf: Er kommt nicht mit leeren Händen zu den Urvölkern. Er hat etwas zu bieten! Die meisten Eingeborenen, sagt Garve, hätten noch nie einen Medizinmann wie ihn gesehen.
"Vielleicht ist schon mal ein Arzt da gewesen, aber noch nie ein Zahnarzt. Wenn sie Zahnschmerzen hatten, mussten sie die ertragen oder sind schlimmstenfalls an Vereiterungen gestorben. Insofern war es gut, dass ich ihnen die schmerzhaften Zähne gezogen oder Füllungen gelegt habe." Anders als mancher denken mag, haben Naturmenschen oft schlechte Zähne. Sie kauen auf Zuckerrohr herum, trinken süßes Maniokbier oder radieren sich die Zähne mit dem Sand ab, der am Fleisch klebt, das sie im Feuer garen. Die Folge sind Karies und Entzündungen.
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