Wie entwickeln sich die beruflichen Chancen für Zahnmediziner?
Dr. Wilfried Beckmann: Sowohl die demografische Entwicklung als auch der Trend zur angestellten Tätigkeit beeinflussen die zukünftige Versorgungssituation. Mit Dr. Franz-Josef Wilde habe ich mich seit 2004 im Bundesvorstand der Freien Verbandes mit dem Szenario des Generationenwechsels in der Zahnmedizin befasst.
Zehn Jahre später haben wir uns dann zusammen mit Dr. Art Timmermeister und unterstützt durch den Vorstand der KZV Westfalen-Lippe die Zahlen und Altersverteilung der angestellten und niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen in Westfalen-Lippe in den Bezirksstellen sehr genau angesehen. Diese Analysen zeigen, dass sich gerade im ländlichen Raum gute Chancen für ein berufliches Engagement bieten.
Die zahnärztliche Versorgung in Westfalen-Lippe
- KZV und Zahnärztekammer möchten die zahnärztliche Versorgung in Westfalen-Lippe nicht dem Zufall überlassen. Unabhängige fachliche Beratung und Begleitung sollen jungen wie älteren Kollegen die notwendigen Entscheidungen im Berufsleben erleichtern und so eine Unterversorgung gerade auch im ländlichen Raum vermeiden. Dies scheint der präventiv erfolgversprechendste Ansatz zu sein.
- Mit dem Ziel, einen realistischen Weg aus der eigenen Praxis in den Ruhestand zu skizzieren, gehen KZV und ZÄK Westfalen-Lippe gemeinsam frühzeitig auf Praxisinhaber der Generation 55 plus zu, um durch intensivere, persönliche Beratung Optionen aufzuzeigen und eine Strategie für die letzte Phase der selbstständigen Praxisführung zu entwickeln.
- Die Praxisaufgabe, die Erweiterung in eine Berufsausübungsgemeinschaft oder auch eine Eins-zu-eins-Praxisübergabe sind nur einige mögliche Antworten auf die Frage, wie sich die Zukunft einer Praxis beim Eintritt in den Ruhestand gestalten oder schon in den Jahren davor planen lässt.
- Auch für junge Zahnärzte soll künftig ein ähnliches Beratungskonzept angeboten werden, mit dem Ziel der zahnärztlichen Karriereplanung. Neben einem Plan zur gezielten individuellen Weiterentwicklung der fachlichen Kenntnisse steht auch der Erwerb von Praxisführungskompetenz im Fokus. Mit zum Portfolio gehört auch die Standortberatung.
Wie ist derzeit die Zahnarztdichte in den städtischen und ländlichen Regionen? Welche Problemstellung ergibt sich daraus?
Momentan ist die Versorgungssituation sowohl in städtischen als auch in ländlichen Bereichen noch zufriedenstellend. Es ist aber bereits abzusehen, dass sich dieser Zustand in den nächsten zehn bis 15 Jahren deutlich verändern wird. Dies ist unter anderem eine Folge der zunehmenden Bürokratisierung. Immer mehr Arbeitszeit muss für patientenferne Pflichtaufgaben aufgewendet werden.
Faktoren wie eine ausgewogene Work-Life-Balance und die zunehmende Feminisierung sorgen zudem dafür, dass sich die Lebensarbeitszeit der jungen Generation gegenüber der ausscheidenden verringert. Für die Versorgung der Patienten steht daher deutlich weniger Zeit zur Verfügung als noch vor einigen Jahren.
Auf der anderen Seite gehen die geburtenstarken Jahrgänge (Babyboomer) der niedergelassenen Zahnärzte in den Ruhestand. Darunter sind besonders viele Zahnärzte, die angestellte Zahnärzte beschäftigen. Zurzeit kommen in den ersten zehn bis 15 Berufsjahren auf einen niedergelassenen Zahnarzt in den städtischen Regionen drei, auf dem Land sogar vier angestellte Zahnärzte. Nur wenn sich die jüngere Generation vermehrt niederlässt, und dies gerade auch im ländlichen Raum, ist die zukünftige Beschäftigungssituation dieser angestellten Kolleginnen und Kollegen gesichert.
Drei Szenarien für die Versorgungssituation auf dem Land
- Sollte sich der aktuelle Trend fortsetzen, werden weitere Praxen im ländlichen Raum schließen, ohne dass sich Nachfolger finden. Neuniederlassungen sind auf dem Land selten. Es ergibt sich also eine Unterversorgung. Diese ruft punktuell bereits heute findige Kollegen auf den Plan, die im ländlichen Raum, teils auch durch Übernahme von Alterspraxen, Satellitenpraxen gründen und mit angestellten Zahnärzten besetzen.
- Ziel ist dabei weniger die Grundversorgung in der Fläche als die Gewinnung von Überweisungspatienten für lukrative Behandlungen in der zentralen, großstädtischen Praxis. Diese Konstruktion ist heute über MVZs und MVZ-Betreibergesellschaften realisierbar.
- Das Ergebnis ist eine Lose-lose-Situation. Die Patienten im ländlichen Raum sind nicht umfassend gut versorgt. Sie haben ständig wechselnde Behandler und für etliche Behandlungen müssen sie in die Großstadt reisen. Die angestellten Zahnärzte werden in den Großstädten immer seltener Stellen finden und müssen sich zunehmend mit rotierenden Einsätzen im ländlichen Raum arrangieren.
- Die Ausgangslage ist mit Szenario 1 identisch. Es entstehen aber Regionen, die nachhaltig drastisch unterversorgt bleiben. Das Grundgesetz fordert den Staat auf, für seinen Geltungsbereich die Gleichheit der Lebensbedingungen zu garantieren. Wenn neben der letzten Kneipe, der Sparkasse, dem Lebensmittelladen auch Arzt und Zahnarzt schließen wollen, wird die Politik handeln. Gerade für Arzt und Zahnarzt verfügt die Politik mit dem Sozialgesetzbuch V heute schon über weitreichende Möglichkeiten, die man auch gesetzlich umfassend schnell erweitern kann.
- Für die zahnärztliche Versorgung in der Fläche sind derzeit über die Kassenzahnärztlichen Vereinigungen die Zahnärzte selbst verantwortlich. Vielleicht würde als erstes der Punktwert gespreizt: Höherer Bema-Punktwert im ländlichen Bereich, finanziert durch Absenkung in Großstädten. Der nächste Eskalationsschritt wäre, über Zulassungssperren lenkend einzugreifen. Am Ende könnte das dazu führen, dass im städtischen Bereich erst dann wieder ein Zahnarzt neu zugelassen werden darf, wenn alle unterversorgten Bereiche besetzt sind.
- Im Regelungswahn könnte die Politik auch auf nachweislich wenig wirksame Drangsalen verfallen. Im europäischen Umfeld ist es zum Beispiel üblich, Zahnärzten die freie Wahl des Orts der Berufsausübung zu nehmen und sie vor einer Niederlassung zwangsweise für mehrere Jahre für die Versorgung des ländlichen Raums zu verpflichten.
- Daneben bleibt die Möglichkeit, den Kassenzahnärztlichen Vereinigungen den Sicherstellungsauftrag zu entziehen und ihn gegebenenfalls nach einer Ausschreibung an Krankenkassen oder an Kapitalgesellschaften zu vergeben. Die könnten dann über Betreibergesellschaften zahnärztliche Praxen und Polikliniken führen. Fänden sich zu den angebotenen Konditionen nicht ausreichend ansässige Zahnärztinnen und Zahnärzte, könnte auf EU-Zahnärzte oder auch andere ausländische Zahnärzte zurückgegriffen werden.
- Solche politischen Kehrtwendungen sind derzeit nicht nur in den USA zu beobachten. Auch hierzulande haben die politisch Verantwortlichen in den letzten Jahrzehnten relativ überraschend vertraute Positionen aufgegeben, beispielsweise bei den Themen Kernkraft, Hauptschule, Wehrpflicht oder Maut.
- Da derzeit die Versorgungssituation noch zufriedenstellend ist, bleibt bei sofortigem, sinnvollem Gegensteuern die Möglichkeit der Trendwende. Anders als bei den Ärzten ist die Situation im zahnärztlichen Bereich weit weniger komplex. Wenn vermehrt junge Kolleginnen und Kollegen dafür gewonnen werden können, die Versorgungsrealität im ländlichen Raum als angestellte Zahnärzte zu erproben, wird die Bereitschaft zum längeren beruflichen Engagement und auch zur Niederlassung in diesen Regionen steigen.
- Neue Modelle erlauben auch, dass einige Niedergelassene im ländlichen Raum Satellitenpraxen betreiben und Angestellte zur Versorgung in der Fläche einsetzen. So etwas kann auch durch die junge Generation selbst als Genossenschaft organisiert werden.
- Alle diese Modelle können die Möglichkeit bieten, als Zahnarzt selbstbestimmt zu arbeiten und sich nicht lebenslänglich durch Niederlassung an einen Ort zu binden.
- Mitentscheidend dürfte es sein, für Partner der Zahnärzte in der Region attraktive Arbeitsplätze darzustellen. Aber auch das ist machbar: Im ländlichen Raum sind viele der mittelständischen „Hidden Champions“ zu Hause, also Weltmarktführer in innovativen Sparten, die händeringend akademisch gebildeten Nachwuchs suchen.
- Bei entsprechender Kreativität aller Beteiligten sind deshalb Win-win-Situationen für Patienten und Zahnärzte gerade auch im ländlichen Bereich keine Fiktion.
- Es wird nur nicht ein Modell, einen Ansatz geben, der alles möglich macht. Der Erfolg liegt wieder einmal in der Vielfalt.
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