Winterholler ist Referentin in der Koordinierungsstelle von S.I.G.N.A.L. Der Verein will mit seinen Angeboten zu einer verbesserten Gesundheitsversorgung für Betroffene häuslicher und sexualisierter Gewalt beitragen. Zu den Schwerpunkten der Vereinsarbeit zählen unter anderem Fortbildungsangebote für Auszubildende und Mitarbeiter der Gesundheitsversorgung. Winterholler war maßgeblich an der Entwicklung und Realisierung eines Berliner Schulprojekts zur Sensibilisierung angehender ZFAs beteiligt.
Marion Winterholler erklärt jungen ZFAs, wie sie Einwirkungen häuslicher Gewalt früh erkennen können. | SIGNAL e.V.
Seit wann gibt es den Verein S.I.G.N.A.L.?
Der Verein existiert bereits seit 2002. Die Koordinierungsstelle zur Intervention bei häuslicher und sexualisierter Gewalt gibt es seit 2010. Sie wird von der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales finanziert. Schon seit 2002 unterrichten wir in Pflegeschulen. Wir sind insgesamt vier Mitarbeiterinnen: drei Referentinnen und eine Organisationsassistentin.
Wie kam es zu dem Schulprojekt mit ZFAs?
Wir beschäftigen uns mit dem Umgang des Gesundheitswesens mit häuslicher und sexualisierter Gewalt. Ein zahnmedizinisches Projekt aus Fulda hat unsere Aufmerksamkeit für das Erkennen und Dokumentieren von häuslicher Gewalt im Bereich der zahnmedizinischen Versorgung gestärkt: Die Hochschule Fulda hatte 2009 gemeinsam mit der Bundeszahnärztekammer und der LZK Hessen sowie der Wissenschaft einen Dokumentationsbogen zur Erfassung häuslicher Gewalt erstellt. Im Falle einer Gerichtsverhandlung soll die Befunddokumentation den Betroffenen helfen.
Wir haben das als einen wichtigen Bereich angesehen und ein Gespräch mit der Zahnärztekammer Berlin geführt.
Worin besteht Ihr Angebot?
Wir bieten unter anderem Unterricht für Auszubildende in Pflegeschulen an. Somit war es ein logischer Schritt, an das Oberschulzentrum (OSZ) in Berlin heranzutreten. Erfreulicherweise war das OSZ sehr engagiert und offen für das Thema. Soweit wir wissen, gab es in Berlin bislang keine gezielten Fortbildungen zu diesem Thema im Bereich der Zahnmedizin.
Was ist der Lehransatz?
Was wir vermitteln wollen, sind die Handlungsschritte, wie sie im S.I.G.N.A.L.-Leitfaden beschrieben sind. Ideal ist es wenn jemand aus dem Kurs geht und sich in der Lage fühlt, Zeichen für eine mögliche Gewalterfahrung zu erkennen, Betroffene anzusprechen und nächste Schritte einzuleiten.
Die vollständige Dokumentation von Gewaltfällen können ZFAs nicht übernehmen, dafür sind Zahnärzte und Zahnärztinnen verantwortlich, aber sie lernen Gespräche zu führen und Informationen und die Telefonnummer der Hilfe- Hotline weiterzugeben. Es ist fundamental wichtig, die Betroffenen ernst zu nehmen, aber nicht zu bedrängen.
Untersuchungen von Verletzungen zeigen, dass häufig das Gesicht und der Hals betroffen sind, vielen Menschen ist das nicht bewusst. Es geht uns also auch darum, grundsätzliche Aufklärung zu betreiben.
Wie setzen Sie die Inhalte konkret um?
Wie arbeiten mit einem sehr breiten Spektrum an Methoden. Wir zeigen Filme, machen praxisbezogene Gruppenübungen und Rollenspiele und vermitteln den wissenschaftlichen Kenntnisstand. Das Erkennen von Gewalt ist der wichtigste Schritt zu qualifizierter Hilfe. Daher zeigen wir Fotos von Verletzungen, Bilder von punktförmigen Blutungen in den Augenlidern, Hämatomen am Hals oder einem abgebrochenen Zahn.
Durchschnittlich jede vierte Frau ist in Deutschland im Laufe ihres Lebens von häuslicher Gewalt und jede siebente von sexueller Gewalt betroffen. Wir brechen die Zahlen herunter und rechnen vor, mit welcher Prävalenz in Zahnarztpraxen gerechnet werden könnte. Hier fehlen wissenschaftliche Untersuchungen. Forschung wäre sehr wichtig.
Jede Patientin zu befragen wird von der WHO nicht empfohlen. Besser ist, erst bei Verdacht nachzufragen. Wir arbeiten mit Fallbeispielen aus der Praxis. Sie sind bewusst nicht eindeutig formuliert und regen die Schüler zu Reflexion und Diskussion an.
Wo sehen Sie in der Praxis noch Verbesserungspotenzial?
In der Diskussion mit den ZFAs zeigt sich, dass fast niemand praktische Erfahrungen auf diesem Gebiet hat. Es gab außerdem Rückmeldungen, dass kaum Zeit für Gespräche bestehe. Gute Intervention braucht viele Praxismitarbeiter, im Idealfall das ganze Team. Hilfreich ist auch, wenn es in der Praxis einen Leitfaden für den Umgang mit Betroffenen gibt.
Wie reagieren die Schüler auf das Training?
Interessiert und mehrheitlich sehr offen. Laut unserer Evaluation bewerten fast 70 Prozent den Unterricht mit gut oder sehr gut. Wir haben auch gefragt, wie wichtig die vermittelten Informationen eingeschätzt werden. Demnach fanden es 95 Prozent der Schüler wichtig, Ursachen von Gewalt zu kennen.
Über 90 Prozent fühlen sich durch unser Training befriedigend bis sehr gut auf die Praxis vorbereitet. Die Diskussion ist ein wichtiger Erfolg. Man hat in jeder Klasse besonders offene neugierige Schüler und die fragen dann auch für die anderen mit.
Wie finanziert sich Ihr Projekt?
Der Berliner Senat finanziert die Konzeptentwicklung, Qualitätssicherung und Weiterentwicklung der Unterrichtsangebote für Ausbildungsstätten. Der Unterricht selbst wird von Trainerinnen realisiert, die ein Honorar des OSZ erhalten.
Eines unserer größten Ziele ist, das Thema fest im Curriculum der ZFA zu verankern. Derzeit gibt es keine Prüfungsfragen zum Thema und daher auch wenig Lerndruck bei den Schülern. Es hat sich bereits viel bewegt, Prüfungsfragen wären jetzt der nächste sinnvolle Schritt.
Wie wirksam sind Ihre Trainings?
Das ist nicht leicht zu beantworten. Man kann nicht erwarten, dass ein Auszubildender die Intervention und Unterstützung alleine schultert. Mittelfristig möchten wir gemeinsam mit der Zahnärztekammer über Möglichkeiten sprechen, das Bildungsangebot auszubauen.
Gut wäre es auch, wenn in Berlin ein zahnärztlicher Dokumentationsbogen für Fälle häuslicher Gewalt verbreitet würde. Es könnte ein bestehender Bogen genutzt oder - besser noch - ein Bogen gemeinsam mit Zahnärztekammer und Zahnarztpraxen entwickelt werden. Fakt ist, dass betroffene Frauen Hilfe suchen. Je öfter eine Frau an ein Hilfsangebot vermittelt wird, desto höher ist die Chance, dass sie sich zu einem für sie richtigen Zeitpunkt Hilfe sucht.
Welche Unterstützung für Ihre Arbeit wünschen Sie sich?
Ich wünsche mir von allen Versorgungsstellen, dass sie die verfügbaren Informations- und Dokumentationssysteme nutzen und dass die Trainings für Auszubildende ausgeweitet werden. Dazu gehört auch die Fort- und Weiterbildung von allen Mitarbeitern/innen - das Wissen um die Problematik und um Unterstützungsmöglichkeiten muss im ganzen Praxisteam geteilt werden, sonst fällt das ganze System flach, sobald die eine qualifizierte Person geht.
Die Gewaltforschung muss vermehrt in der Praxis ankommen und umgesetzt werden. Professionelle Hilfeangebote müssen bekannter gemacht und Kooperationen zwischen Zahnarztpraxen und Hilfeangeboten entwickelt werden.
Auf der Seite der Bundeszahnärztekammer stehen Dokumentationsbögen und Informationen zum Dokumentationsverfahren von häuslicher Gewalt zum Download bereit.
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