Wie war der zahnmedizinische Versorgungsauftrag in der Sowjetunion?
Andreas Haesler: Während des Zweiten Weltkriegs wurde die Ausbildung fast gänzlich eingestellt, da alle verfügbaren Kräfte an der Front gebraucht wurden und die meisten Ausbildungseinrichtungen zerstört waren. Erst nach Kriegsende entstanden neue Schulen und Universitäten. Die Ausbildung dauerte drei Jahre, ab 1949 fünf Jahre. 28 Prozent waren für den theoretischen Teil und 72 Prozent für den praktischen Teil vorgesehen.
Das System der russischen Ausbildung beruhte mehr auf dem medizinischen Bereich, da gegebenenfalls auch von Zahnmedizinern Notfallmedizin verrichtet werden musste: Man wollte auch die Bevölkerung in den weit auseinander gelegenen Ortschaften versorgen und so mussten die russischen Ärzte auf vielen Gebieten der Medizin bewandert sein. Es gab nicht überall und für jeden Bereich einen Spezialisten.
Für eine umfassende Zahnmedizin gab es viel zu wenige Materialien und finanzielle Mittel, in den Zentren war die Situation etwas besser. Auf zwei Zahnärzte kamen 25.000 Einwohner im Jahr 1940, 1960 dann "nur" noch 10.000 Einwohner.
Wodurch zeichnete sich die sowjetische Zahnmedizin aus?
Die sowjetische Zahnmedizin war in dem Bereich der Mund-, Kiefer- und Gesichtsverletzungen sicher ein sehr erfahrenes und weit entwickeltes Land. Durch die vielen Verletzten im Zweiten Weltkrieg bestand die Hauptaufgabe darin, die Wehrfähigkeit wiederherzustellen. Die meisten Zahnmediziner befanden sich an der Front und konnten dort 85,6 Prozent der Mund-, Kiefer- und Gesichtsverletzungen erfolgreich behandeln.
D. A. Eutin erkannte 1946 als erster Russe den Prozess der Remineralisierung der Zähne per Fluoridierung. 1948 gab es die Order seitens des sowjetischen Ministeriums zur Fluridierung. Die UdSSR war somit eines der ersten Länder, nur die USA und Kanada taten dies schon ab 1920. Sonst kann man die russische Entwicklung der Zahnmedizin nicht mit den westlichen Ländern vergleichen. Eine eigene Zahnmedizin entwickelte sich sehr langsam nach der Revolution 1917 - die unendliche Größe des Flächenstaats führte zu einer sehr unterschiedlichen Versorgung.
Wie gut waren die Zahngesundheit, die Aufklärung und die Zahnhygiene der Menschen in der Sowjetunion?
Die Aufklärung zur Zahngesundheit war durch das riesige Gebiet und die verschiedenen Kultureinflüsse sehr unterschiedlich. Die wichtigen und großen Zentren waren besser versorgt, erst später kam die Fläche dazu. Gleich nach dem Ende des großen Vaterländischen Kriegs begann man mit dem Aufbau der einzelnen Fachgebiete, so auch mit einer Aufklärung zur Zahngesundheit. Es musste alles komplett neu entstehen und aufgebaut werden. Trotzdem war die Einstellung eines sehr großen Teils der Bevölkerung gegenüber der Zahnhygiene sehr pragmatisch, sprich: Es wurde dann erst etwas unternommen, wenn es zu spät war.
Gab es im Kalten Krieg auch in der Zahnmedizin ein Wettrüsten?
Für ein „Wettrüsten“ auf dem Gebiet der Zahnheilkunde gab es keine „Waffen“. Einzig auf dem Gebiet der zahnmedizinischen Chirurgie war die Sowjetunion ein beachtenswerter und sehr fortschrittlicher Partner (Gegner).
Worin war der sozialistische Zahnarzt seinem imperialistischen Kollegen vermeintlich überlegen?
Es würde wohl eine sehr lange Diskussion in Gang setzen, worin ein sozialistischer Zahnarzt seinem imperialistischen Kollegen überlegen war oder umgekehrt. Die Zahnmedizin war, ist und wird wohl immer eine internationale Disziplin bleiben. Aus allen Teilen der Welt kommen hervorragende Forschungsergebnisse, so auch aus den ehemaligen sozialistischen Ländern. Vor Ort wurden einzelne Bereiche gefördert und natürlich sind auch immer bestimmte Ereignisse ausschlaggebend.
So gab es in der DDR einen sehr bekannten Professor, sein internationales Ansehen war und ist so groß, dass er zu wichtigen Kongressen - ob in den USA oder in der Sowjetunion - als deutscher Experte eingeladen wurde und Persönlichkeiten aus der Bundesrepublik nicht. Jede Entwicklung hat einen Impuls, der seinen eigenen Ort und seine bestimmte Zeit hat, der einen ökonomischen Hintergrund hat oder der humanitären Situation geschuldet ist.
Aus Sicht der Aufarbeitung der internationalen Geschichte der Zahnmedizin muss ich heute bemerken, dass eine weniger ökonomische Forschung weniger beeinflusste Ergebnisse hervorbringt, es werden weniger Irrwege beschritten aber ohne die gewinnbringend orientierten Forschungsergebnisse wäre die Entwicklung sicher nicht so weit. Es wird wohl späteren Generationen obliegen, dieses Gleichgewicht besser zu gestalten.
Die Fragen stellte Julian Thiel.
Andreas Haesler ist Kurator im Dentalmuseum in Zschadrass. Immer wieder arbeitet er mit dem Staatlich-Historischen Museum in Moskau zusammen. | Dentalmuseum
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