Grinsis Arbeitsgerät ist ein Plastikbecher. Er hängt an einem Karabinerhaken am Gürtel. Immer griffbereit. Grinsi ist 27 und lebt vom Schnorren. Wenn er von seiner "Arbeit" redet, grinst er, wie fast immer. Dabei hat Grinsi eigentlich nicht viel zu lachen. Er lebt seit fünf Jahren auf der Straße. Stress mit der Familie, mit Ämtern - so richtig mag er nicht sagen, was sein Leben durcheinandergebracht hat.
Warten auf Kaffee und Brote
Beim Reden stolpert er über die Buchstaben. Es ist noch früh am Tag, aber ein paar Bier hat er heute schon getrunken. Bis Grinsi schlafen geht, werden es noch zwei Dutzend mehr sein. Das ist seine Tagesration. "Aber mit Schnaps habe ich aufgehört", sagt er und lächelt schief. Mit Freunden hockt er in Berlin auf dem Bürgersteig vor der Bahnhofsmission am Zoo und wartet darauf, dass sich die Tür öffnet. Mittags gibt es hier Kaffee und Stullen.
Obdachlose - kein Thema
Heute buttert drinnen Frank-Walter Steinmeier Brote. Der SPD-Mann und Ex-Außenminister ist zu Besuch und hat ein paar Kisten H-Milch mitgebracht. Steinmeier hat vor gut 20 Jahren seine Doktorarbeit über Menschen ohne Wohnung geschrieben. Der Titel: "Tradition und Perspektiven staatlicher Intervention zur Verhinderung und Beseitigung von Obdachlosigkeit". Neben dem Stullenschmieren plaudert Steinmeier mit den Helfern - die Hemdsärmel hochgekrempelt, wie es sich im Wettstreit um Volksnähe gehört. "Wenn das hier ein Thema im Wahlkampf wäre, wären wir alle schon ein Stück weiter", sagt er. Obdachlose sind aber kein Thema.
Dass sich Steinmeier drinnen abmüht, ist Grinsi ziemlich egal. Politik? Bundestagswahl? Achselzucken. "Ich war nur ein einziges Mal wählen. Da habe ich ein Kreuz gemacht - über den ganzen Wahlzettel." Er grinst wieder. "Die tun ja eh nichts für mich." Neben Grinsi sitzen Chung und Caro auf dem Bürgersteig. Auch bei ihnen hält sich die Leidenschaft für Politik und Steinmeier in Grenzen. "Politik interessiert mich nicht", sagt Chung. "Früher war das anders. Aber jetzt bin ich raus."
Politik? Achselzucken.
Chung ist 36, seit vier Jahren ist die Straße sein Zuhause. "Aussteiger" nennt er sich: Job geschmissen, Ausweis verbrannt. "Auf der Straße habe ich keine Ansprüche und keine Rechte, da müssen mich alle in Ruhe lassen." Geld vom Staat bekommt er nicht, Chung lebt wie Grinsi vom Schnorren.
Auch Caro winkt ab. "Ich geh nicht wählen", sagt die 38-Jährige. "Da werden nur Sachen versprochen, die keiner einhält." Nur einmal hat Caro ihr Kreuz auf einem Wahlzettel gemacht, mit 25. Damals war ihr Leben noch geordnet - "bürgerlich", sagt sie. Verheiratet, zwei Kinder, ein Häuschen, kleiner Garten. Das ist ein paar Jahre her. Ein Zurück gibt es für sie nicht. "Da passe ich nicht mehr rein."
Gegen Mittag verabschiedet sich Steinmeier. Dann geht die Tür der Bahnhofsmission auf, der Essensraum füllt sich schnell. Dutzende Leute beißen in Wurstbrote und gabeln Nudelsalat. Um die 600 Menschen kommen jeden Tag hierher.
Wenn jemand nicht mehr weiß, ob er Dieter oder Thomas heißt.
Dieter Puhl leitet die Bahnhofsmission. Bei ihm landen die, die ganz unten sind. Die geringe Euphorie seiner Gäste für Politik wundert ihn nicht. "Wenn jemandem wegen der Kälte die Füße abfallen oder jemand nicht mehr weiß, ob er Dieter oder Thomas heißt, dann ist die Wahl ziemlich egal."
Der Normalbürger bekommt seine Wahlbenachrichtigung nach Hause geschickt. Wer kein Zuhause hat, kriegt keine Post. Obdachlose können trotzdem ihre Stimme abgeben, wenn sie wahlberechtigt sind. Wer keine feste Adresse hat, muss selbst aktiv werden, zur Gemeinde gehen und den Eintrag ins Wählerverzeichnis beantragen. Für einige ist die Hürde zu hoch. "Viele haben auch gar keinen Ausweis mehr", sagt Puhl.
Ohne Ausweis, keine Post, keine Wahlbenachrichtigung
Wie viele Obdachlose in Deutschland wählen gehen, weiß niemand. Offizielle Zahlen gibt es nicht. Auch wie viele Menschen überhaupt ohne Wohnung sind, lässt sich nirgendwo ablesen, sondern nur schätzen. 284.000 Menschen waren es im vergangenen Jahr, etwa 17.000 davon in Berlin. Das schätzt die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe. Drei Viertel der Obdachlosen sind Männer.
Die Zahlen sind in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen. Den Schätzungen nach werden es 2016 sogar 380.000 Menschen sein, die keine Wohnung haben. Die Gründe: immer weniger preiswerte Wohnungen, immer mehr Menschen mit Niedriglöhnen, steigende Strompreise, die mit Hartz IV nicht zu schultern sind.
Gegenüber vom Berliner Ostbahnhof ist eine Arztpraxis für Obdachlose: ein Ort für die, die sonst nirgends hingehen können, weil sie keine Krankenversicherung haben oder "nicht wartezimmertauglich" sind. Viele tauchen hier auf mit Ausschlägen und Ekzemen. Oder mit Herzen und Lebern, die geschunden sind vom Alkohol.
Ein immer größer werdendes Loch
Am Ende des Flurs macht der Allgemeinarzt seine Sprechstunde, ein paar Türen weiter vorne der Zahnarzt. Im Wartebereich vor der Praxis liegt ein Mann quer über drei Sitze und schnarcht. Gerd ist wach. Er liest Zeitung. Er ist gerade 65 geworden und hat seit zehn Jahren keine Wohnung mehr. "Erst sind meine Eltern gestorben, dann mein Mädel - und von da an wurde das Loch immer größer", erzählt er.
Gerd hat lange als Gleisbauer gearbeitet und bekommt eine schmale Rente. Kinder? "Bisschen verkracht." Enkel? "Die habe ich schon mal gesehen, irgendwann." Er legt die Zeitung zur Seite. Auf dem Papier ist Wahlkampf, aber Gerd berührt das wenig. Wählen gehen? "Nee."
Im Kopf ein bisschen verrückt
Auch Frank ist damit durch. "Politik ist mir scheißegal", sagt er. 59 Jahre ist Frank alt, weißblond, mit geröteter Haut und Knollennase. Das Sprechen macht ihm Mühe. Er hat die Trennung von seiner Frau nicht verkraftet, Entzug und Psychiatrie hinter sich. "Ich bin im Kopf einfach ein bisschen verrückt geworden." Frank kramt einen Zettel aus seiner Jacke, einen Schrieb von der Stadt. 297,39 Euro steht da - so viel Sozialhilfe bekommt er monatlich.
Ein paar Kilometer weiter in Berlin-Moabit kommt im Warmen Otto gerade das Mittagessen auf den Tisch: Hackbraten mit Reis und Soße. Obdachlose können hier essen, reden, sich aufwärmen, Karten spielen. Es kommen aber auch viele Rentner aus der Nachbarschaft, bei denen ab der Monatsmitte nichts mehr im Kühlschrank ist.
Ein Z statt ein X
Ingo hat jetzt auch wieder eine Wohnung, aber über die Runden kommt er noch nicht. Deshalb sitzt er im Warmen Otto und löffelt Reis. Der 59-Jährige landete mehrfach auf der Straße. Weil er seinen Job verlor, sich hängen ließ, Depressionen bekam. Früher hat er mal Elektrotechnik studiert, später war er Verkäufer im Supermarkt. Wählen geht Ingo, aber er macht kein "X", sondern ein großes "Z" - quer über den Wahlschein.
"Die sollen nicht sagen, ich hätte vorm Fernseher gesessen oder gesoffen." Was ihm fehlt: "Politiker, die was zu sagen haben und die Ideen haben, die gibt es nicht mehr." Halb drei. "Es gibt Nachschlag", ruft jemand aus der Küche. Ein Dutzend Leute springt ruckartig auf, mit dem Teller in der Hand, um noch einen Löffel Reis und Hackbraten zu ergattern.
Fast wie ein Sieben-Sterne-Hotel
Am anderen Ende der Stadt, im Südosten Berlins, steht das Haus Schöneweide. Drinnen an der Decke hängen Kronleuchter, die weißen Wände sind mit goldener Bordüre verziert, auf den knarzenden Holztreppen liegt roter Teppich. Im Flur sitzt Nico in einem schwarzen Ledersessel und schaut nach oben zum Kronleuchter. "Das ist schon ein Sieben-Sterne-Hotel hier." Ein Hotel ist es nicht, sondern ein Wohnheim für ehemalige Obdachlose wie Nico.
Hier landen die schweren Fälle. Männer, die nicht wegkommen von der Flasche, denen kein Entzug geholfen hat, denen der Alkohol die Leber kaputt gemacht hat, die Speiseröhre, den Kopf. Enrico wäre fast ganz kaputt gegangen durch den Alkohol. Er ist 27, klein und schmal. Enrico kam erst vor drei Wochen hierher, sie nennen ihn "das Küken". "Ich habe mich zwei Mal fast tot gesoffen", erzählt er. 4,8 Promille - ein normaler Mensch hält das nicht aus. Wegen der Trinkerei flog Enrico vor ein paar Jahren aus seiner Wohnung.
Besser wird nichts.
Die Bundestagswahl? Interessiert ihn nicht. "Ich war noch nie wählen", sagt er. "Egal, wen du wählst, besser wird nichts." Trocken werden Bewohner im Haus Schöneweide nicht, aber sie dürfen hier nur in Maßen trinken, haben ein Zimmer für sich, einen geregelten Tagesablauf mit drei Mahlzeiten, einen würdigen Platz zum Leben.
Nico ist 45 und wohnt seit zwölf Jahren hier. Sein Zimmer liegt im ersten Stock. Er teilt es mit 850 Enten - in Plüsch und Plastik, groß, klein, schön, hässlich. Sie türmen sich auf dem Tisch, dem Schrank, im Bett, im Wäschekorb und in drei Hängematten, die von der Decke baumeln. Und alle haben sie Namen: Elfi, Marie, Mandy, "die Betreuerin", "der Hausmeister".
Und trotzdem muss es sein.
Nico flog vor 20 Jahren bei seinen Eltern raus und hatte von da an kein Zuhause mehr. Irgendwo aus einer Ecke in seinem Enten-Zimmer zieht er seinen Wahlzettel hervor. Nico muss am Wahlsonntag auf dem Wochenmarkt aushelfen. Deshalb hat er Briefwahl beantragt. Er ist schon immer wählen gegangen. Warum? "Ganz einfach: Das muss sein."
von Christiane Jacke
Keine Kommentare