Menschen, die mit Knochenbrüchen oder Krebserkrankungen in eiskalten Wohnungen dahinvegetieren oder mit offenen Beinen die Nacht im Freien verbringen - wer glaubt, das gibt es nur in Dritte-Welt-Ländern, irrt sich. Langjährige Hartz-IV-Empfänger, Obdachlose oder verarmte Selbstständige ohne Krankenversicherung bleiben auch hierzulande ohne ärztliche Behandlung, selbst wenn dies eigentlich dringend nötig wäre.
Behandelt wird auch ohne Krankenversicherung
In Ludwigshafen kümmern sich jetzt mehrere "Street Docs" um diese Menschen. Ärzte, die ehrenamtlich arbeiten, bieten einmal die Woche an sozialen Brennpunkten eine kostenlose Untersuchung und Beratung an. Wer zu ihnen kommt, braucht keine Gesundheitskarte und keine Krankenversicherung. Medikamente erhalten sie - sofern vorhanden - gratis.
Ähnliche Initiativen gibt es bundesweit in vielen Großstädten - in Rheinland-Pfalz beispielsweise in Mainz und Trier. In Ludwigshafen habe es erst jetzt geklappt, dabei sei der Bedarf seit vielen Jahren vorhanden, sagt Johannes Hucke von der Ökumenischen Fördergemeinschaft Ludwigshafen GmbH, die das Projekt trägt. Er erzählt von einem Bewohner eines Ludwigshafener Problemviertels, der sich im Winter eine Hüfte gebrochen hatte. Monatelang habe er ohne ärztliche Hilfe zu Hause im Bett gelegen, nur seine Freunde hätten ihn versorgt.
Der Internist Peter Uebel, der das Projekt "Street Docs" maßgeblich mit betreut, war erstaunt und schockiert, als er zum ersten Mal mit dem Problem konfrontiert wurde. Ludwigshafen habe eine gute Gesundheitsversorgung mit 300 niedergelassenen Ärzten und vier Krankenhäusern - und doch gebe es viele Menschen, die von der ärztlichen Versorgung abgeschnitten seien, kritisiert er.
Seit Jahrzehnten ohne Strom
Der Wohnkomfort in sozialen Brennpunkten sei meist schrecklich, sagt Hucke. Oft hätten die Bewohner seit Jahrzehnten keinen Strom mehr, und auch die Heizungen funktionierten nicht. Die Lage in solchen Gegenden sei problematisch, meint auch Uebel. Viele Menschen, darunter Familien und alleinerziehende Mütter, lebten in prekären Verhältnissen. Selbst diejenigen mit Krankenversicherungsschutz schafften oft den Weg zum Arzt nicht - aus Angst, Scham, Depression.
Dabei bräuchten viele dringend einen Arzt. Sie litten unter chronischen Wunden oder jahrelangen Durchfallerkrankungen, sagt Uebel. Mit Sicherheit gebe es auch Krebskranke, die noch nicht behandelt worden seien. Je geringer der soziale Standard und je schlechter die hygienischen Zustände, desto schneller würden Menschen krank. Selbst banale Erkrankungen wie eine fieberhafte Bronchitis könnten schnell gefährlich werden, wenn ein Mensch auf der Straße oder in einer kalten, feuchten Wohnung lebe.
Tot mit durchschnittlich 41,5 Jahren
Die Folgen des Elends und der fehlenden ärztlichen Versorgung sind dramatisch. In den vergangenen Jahren seien die Wohnungs- und Obdachlosen an den Brennpunkten in Ludwigshafen im Durchschnitt mit 41,5 Jahren gestorben, sagt Hucke. Ihre Lebenserwartung betrage gerade einmal die Hälfte des Durchschnitts in Deutschland.
Vom neuen "Street Doc"-Angebot sei die große Mehrheit der Bewohner begeistert, viele könnten es aber immer noch nicht so recht glauben, sagt der Sozialarbeiter. Das Vertrauen in Behörden und öffentliche Stellen sei meist zerstört. Daher sei auch nicht absehbar, wie das Angebot angenommen werde. Die kostenlose Behandlung ist nur ein Bestandteil des Projekts - es soll den Betroffenen auch den Weg zurück ins Gesundheitssystem öffnen.
Sprechstunden mit Sozialarbeiter
Viele von ihnen seien weit davon entfernt, in eine normale Arztpraxis zu gehen, zumal wegen der hohen bürokratischen Hürden oft gar kein Versicherungsschutz bestehe, sagt der Geschäftsführer der Ökumenischen Fördergemeinschaft, Walter Münzenberger. Daher sind in den Sprechstunden Sozialarbeiter dabei. Sie sollen die Betroffenen beraten, um sie wieder in das Gesundheitssystem einzugliedern.
Momentan sind zwölf Ärzte und 20 Sprechstundenhilfen mit an Bord, sie alle arbeiten ehrenamtlich. Die Stadt hat zwei Notwohnungen zur Verfügung gestellt, die in den Obdachlosenwohngebieten liegen. In beiden Gebieten wohnen schätzungsweise 750 bis 800 Menschen. Hinzu kommen die Wohnsitzlosen, deren Zahl niemand kennt, sowie illegale Einwanderer und Zuwanderer beispielsweise aus Osteuropa. Münzenberger schätzt, dass rund 100 Menschen in das Raster der "Street Docs" fallen. Mit einem großen Ansturm rechnet er aber zunächst nicht - erst wenn sich das Angebot etabliert hat, dürfte es voller werden in den Warteräumen.
von Sandra Schipp, dpa
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