Das kleine, silberne Radio auf dem Eckregal erfüllt den Raum ganz dezent mit Popmusik. "Ich lasse das Radio gerne laufen, wenn ich meine Patienten behandle. Es lockert die Atmosphäre auf“, sagt Zahnärztin Adriana van der Poel. Zurzeit sind aber noch keine Patienten da. Es ist 9:30 Uhr an einem Mittwochmorgen, die Sprechstunde in der Zahnarztpraxis im Erdgeschoss des rot-gelben Backsteingebäudes in der Pflugstraße 12 beginnt erst in 30 Minuten.
Die zierliche Niederländerin mit den blonden, kinnlangen Haaren sitzt an einem Schreibtisch in der Ecke, sieht ihren Terminkalender durch und trinkt ab und zu einen Schluck Kaffee. "Um 10:15 Uhr kommt ein Patient, der schon ein paar Mal hier war. Heute entferne ich bei ihm die letzten Wurzelreste und wenn alles verheilt ist, kümmern wir uns um seinen Zahnersatz“, sagt sie - ihr Deutsch hat einen charmanten niederländischen Akzent.
In der kleinen Praxis ist die Zahnärztin im Ruhestand seit sechs Jahren jeden Mittwoch und Donnerstag zwischen 10 und 12 Uhr anzutreffen. Dienstags kümmert sich eine andere Zahnärztin um die Obdachlosen. Beide Frauen arbeiten auf ehrenamtlicher Basis. Sie behandeln bis zu fünf Patienten pro Tag. Wer das sein wird, wissen sie nie ganz genau. Es werden zwar Termine vergeben, es kommen aber auch unangemeldete Besucher.
Ihre Patienten seien sehr unterschiedlich, erzählt van der Poel: "Ich sehe hier Menschen jeden Alters. Viele leben auf der Straße, andere haben noch eine Wohnung, sind aber nicht krankenversichert.“ Manche Patienten kommen immer wieder zu ihr in die Praxis. An diesem Mittwoch um 11:30 Uhr stehen zum Beispiel zwei alte Bekannte in ihrem Terminkalender: Natalie und Danny.
"Die beiden sind echte Hippies. Sie reisen durch Europa, in Südamerika waren sie auch schon. Von Zeit zu Zeit tauchen sie wieder in Berlin auf. Wenn sie Probleme mit den Zähnen haben, kümmern meine Helferin und ich uns darum. Aber es ist nicht immer was, manchmal kommen sie auch nur zum Plaudern vorbei“, berichtet die Zahnärztin. Zum Abschied - das gefällt ihr besonders gut - gäbe es oft ein kleines Ständchen auf der Gitarre.
Vom Gesundheitszentrum erfuhr Adriana van der Poel durch Zufall, als sie einen Bericht über Jenny De la Torre Castro, Gründerin und Leiterin der Einrichtung, im Fernsehen sah. Darin nahm die aus Peru stammende Ärztin eine alte Behandlungseinheit in Empfang, die der Sohn eines verstorbenen Zahnarztes dem Zentrum geschenkt hatte. "Ich habe dann spontan bei der Jenny De la Torre-Stiftung angerufen und gefragt, ob sie einen Zahnarzt brauchen. Die Antwort lautete ja“, berichtet van der Poel. Seitdem ist sie dabei.
Damals habe die Praxis noch ganz anders ausgesehen, erinnert sie sich. Improvisierter und nicht so aufgeräumt. Heute ist kein Unterschied zu einem Behandlungsraum in anderen zahnärztlichen Praxen zu erkennen. In den hohen, grauen Schränken links und rechts an den Seiten des drei mal vier Meter großen Raums sind Bohrer, Spritzen, Bestecke und Medikamente ordentlich sortiert, an den beigen Wänden hängen zahnmedizinische Poster, die zeigen, wie man seine Zähne richtig pflegt.
Im hinteren Teil des Raums, dem Fenster zugewandt, steht eine moderne Behandlungseinheit, die im vergangenen Jahr dank der Weihnachtsspendenaktion einer Berliner Tageszeitung angeschafft werden konnte. Daneben ist ein digitales Röntgengerät an die Wand montiert, ebenfalls eine Spende von einem Dentalproduktehersteller aus Hamburg.
Auf Spenden ist die Zahnarztpraxis angewiesen, auch auf kleinere Materialspenden wie Bestecke oder Zahnputz-Utensilien. "Mein großer Traum ist ja, dass uns jemand ein Elektrotom schenkt“, verrät die Niederländerin. Auf Platz zwei ihrer Wunschliste stehe ein Hirtenstab.
Es klopft an die Tür. Helferin Heike Vitting kommt herein und kündigt den ersten Patienten an. Es ist ein junger Marokkaner, der am Dienstag schon einmal wegen einer Zahnfleischentzündung behandelt wurde und jetzt einen Termin zur Nachkontrolle hat. Adriana van der Poel begrüßt ihren Patienten, streift sich Handschuhe und Mundschutz über und sieht sich die Entzündung an.
Der junge Mann spricht kaum Deutsch, dafür aber fließend Spanisch - ein Kollege aus der ärztlichen Praxis im Gesundheitszentrum muss kommen, um zu übersetzen. "Kannst du ihn bitte fragen, ob die Schmerzen besser geworden sind?“, will die Zahnärztin wissen. "Ein ganz kleines bisschen“, so die Antwort. Die Niederländerin erneuert das Medikament in der Zahnfleischtasche und bestellt den jungen Mann zu einer weiteren Nachkontrolle in die Praxis.
Zahnfleischentzündungen sieht die Zahnärztin oft bei ihren Patienten. "Manchmal müssen auch Zähne gezogen werden oder es ist eine Wurzelkanalbehandlung nötig“, fügt sie hinzu. Füllungen legen und Zahnstein entfernen komme auch häufig vor.
Kaum Bedarf für Kronen
Dank des ehrenamtlichen Engagements eines Zahntechnikers können Obdachlose im Gesundheitszentrum Prothesen und Teilprothesen bekommen. "Ein anderer Techniker hat uns angeboten, Kronen zu machen, aber da gibt es leider kaum Bedarf“, sagt die Zahnärztin.
Implantate zählen nicht zum Versorgungsspektrum. Das könne sich das Zentrum nicht leisten, so Adriana van der Poel. Außerdem müssten die Patienten dafür lange begleitet werden - viele Obdachlose würde das überfordern: "Einige haben auch Drogenprobleme, das erschwert eine Behandlung über mehrere Termine zusätzlich.“
Die Zahnärztin legt großen Wert darauf, den Patienten zu erklären, wie sie ihre Zähne richtig putzen und mit Zahnseide pflegen können: "Ich finde es wichtig, ihnen das mit auf den Weg zu geben. Wer auf der Straße lebt, kann das sicherlich nicht regelmäßig machen. Aber zumindest sitzt die Theorie und man kann sich darum kümmern, wenn sich eine Gelegenheit bietet.“
Obdachlose, die ganz unten angekommen sind, sieht Adriana van der Poel nicht oft, sagt sie: "In der Allgemeinpraxis nebenan wird den Patienten zwar oft der Tipp gegeben, doch mal zur Zahnärztin zu gehen, viele wollen das aber nicht. Sie kommen nur, wenn sie Schmerzen haben.“
Frisur bringt Würde
Die Zahnärztin wartet auf ihren nächsten Patienten und erzählt nebenbei von der Friseurin, die einmal pro Woche in die Pflugstraße kommt, um den Obdachlosen die Haare zu schneiden: "Sie sagt immer, dass sie den Leuten ihre Würde zurückgibt. So denke ich auch gerne über unsere Arbeit hier. Wenn ich eine Zahnlücke schließe, sagen die Patienten ganz oft: Ach, jetzt kann ich wieder lachen!“
Die Niederländerin arbeitet gerne für das Gesundheitszentrum. "Es bringt mir Freude. Ich wollte mich hier engagieren, weil ich denke, solange man selber gesund ist und mit seinen Kenntnissen Anderen helfen kann, sollte man das auch tun.“ Zahnärzte, die im Gesundheitszentrum mitarbeiten wollen, seien immer willkommen, betont sie. Schließlich wisse man nie, wann mal jemand ausfalle. "Je mehr Leute wir sind, desto besser“, findet van der Poel.
Es ist 10:30 Uhr. Die Zahnärztin steht auf, um nach zuschauen, ob ihr nächster Patient schon da ist. Als sie die Tür öffnet, ist draußen leise Gitarrenmusik zu hören. Sie lächelt. "Ich glaube, Natalie und Danny sind etwas zu früh dran“, sagt sie. Mit dieser Vermutung liegt sie richtig. Die beiden jungen Leute warten schon auf dem Flur. „Hallo! Da seid ihr ja schon“, ruft van der Poel. Nach einer herzlichen Umarmung bittet sie ihre Besucher herein und schließt freundlich plaudernd die Tür.
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