Ein "interessantes" Kind wartet auf mich. Leni sitzt schon auf dem Behandlungsstuhl. Ich studiere rasch die Akte, lese, dass mein Kollege im vergangenen Jahr bei ihr in einer Kurz-ITN einen Zahn extrahiert hat.
Nun hatte das Mädchen einen Abszess und wollte sich weder bei ihrem Hauszahnarzt noch bei meinem Kollegen auf die übliche Weise behandeln lassen. Die Mutter unterstützte diesen Wunsch, sieht aber die Notwendigkeit einer Behandlung generell ein und bittet um eine Therapie unter Hypnose.
Als ich das Behandlungszimmer betrete, sitzt das Mädchen, die Mutter besorgt an ihrer Seite, bereits auf dem Stuhl. An ihrem ängstlichen Blick, den heruntergezogenen Mundwinkeln und der leicht abgewandten Körperhaltung, die bereit zur Flucht erscheint, erkenne ich gleich: Das wird nicht einfach!
Ich lächle sie an. Ein offenes Herangehen, ohne zu bedrängen, und ein warmes Willkommen - das ist für mich die vielversprechendste und höflichste Gesprächseröffnung. Doch Leni ist ganz und gar nicht kommunikativ, deshalb darf ihre Mutter ausnahmsweise im Behandlungsraum bleiben. Sie berichtet fachkundig über den Grund des heutigen Zahnarztbesuchs - sie ist selbst als Zahnarzthelferin bei einem Kollegen tätig.
Ich wundere mich noch, dass sie ihr Kind nicht bei ihrem Chef behandeln lässt, aber da erzählt sie mir schon ihre Geschichte: Leni hat eine Phobie gegen Nadeln und Spritzen. Darum ist sie nicht behandlungsfähig, besonders wenn schmerzhafte Behandlungen durchgeführt werden müssen. Die Narkosebehandlung im vergangenen Jahr sei jedoch notwendig gewesen, weil ein abszedierender Zahn entfernt werden musste.
Ich frage nach, wie Leni die Narkose verarbeitet habe. Die Mutter berichtet, dass sie Leni gesagt habe, dass sie nur inhalieren müsse, das kenne sie ja von zu Hause. Leni inhalierte, und als sie aufwachte, fehlte ein Zahn! Sie sagte der Mutter: "Du hast mich angelogen!“ und betrachtete die Extraktion in Narkose als enormen Vertrauensbruch.
Ab diesem Moment verweigerte Leni jede weitere Behandlung, selbst wenn sie unbedingt erforderlich war. Die Mutter suchte nun nach anderen Wegen. Sie hatte gehört, dass wir mit Hypnose arbeiten, und wollte nun mit ihrer Tochter diesen Weg gehen. Ausnahmsweise lasse ich Lenis Mutter mit im Zimmer, vielleicht kann sie ja sogar Elemente von dem, was sie sieht, in ihrer Praxis anwenden und umsetzen.
Zunächst stelle ich einen Rapport zu Leni her. Sie ist sehr schüchtern. Ich frage sie nach ihrem Kuscheltier. Sie sagt, sie habe keins. Das Einzige, was sie in ihrer Freizeit unternehme, seien Touren durchs Dorf mit den anderen Kindern. Nun, das ist doch eine schöne Sache, antworte ich ihr und möchte sie mit auf eine Abenteuerreise durch ihr Heimatdorf nehmen. Doch darauf lässt sie sich nicht ein.
Visualisationen sind ihr also nicht möglich. Sie blockiert. Plötzlich erreicht sie kein Wort mehr und an Behandlung ist nicht zu denken. Trancebereitschaft kann zwar wachsen und sich entwickeln. Aber hier - keine Chance. Ich überlege.
Kinder festzuhalten und mit Gewalt zu behandeln ist keine Option! Doch was tun? Ich überdenke nochmals den Befund. Die kariösen Defekte, die behandelt werden sollten, waren noch nicht so tief, dass sie die Vitalität der Zähne gefährden würden. Also konnte ich die Behandlung guten Gewissens noch ein halbes Jahr aufschieben.
Da ich Leni gegenüber absolut ehrlich und einfühlsam, aber gleichzeitig auch respektvoll sein will, fasse ich einen Plan: Ihr bislang erfahrenes Misstrauen soll durch eine neue Erfahrung wiedergutgemacht werden. Aber das braucht Zeit. Schließlich ist das Kind bereit, einen Vertrag mit mir abzuschließen. In einem halben Jahr wäre sie acht Jahre alt, und somit schon richtig groß. Bestimmt sei sie dann als großes Mädchen bereit, sich behandeln zu lassen …
Das besiegeln wir per Handschlag. Als Vertragspfand überlege ich mir noch eine kleine Aufgabe: Sie soll die Behandlung, die dann ausgeführt wird, malen und mir das Bild mitbringen.
Die kleine Patientin erscheint wieder in meiner Praxis. Vier Faktoren führten dazu, dass Leni sich wunderbar behandeln ließ, wir viel Spaß hatten und die Trance mühelos einzuleiten war:
1. Das Priming, die Hausaufgabe, hatte gut funktioniert: Leni hatte sich zu Hause, mit Unterstützung der Mutter, Gedanken gemacht, wie die Heilung der Zähne aussehen könnte: Sie hatte ein Bild des Zahns gemalt, das Loch, die Karies, die herausgenommen werden sollte, und dann ein Pflaster, das auf den Zahn geklebt werden sollte.
Alle notwendigen Behandlungsabläufe wurden von ihr bildlich umgesetzt. Dadurch wurde sie selbst mental zur Behandlerin und überzeugte ihr Unbewusstes von der Notwendigkeit der Behandlung, so dass der Widerstandsteil in ihr den Widerstand aufgab.
2. Die Synchronizität: Meine Rezeptionistin Martina (Name von der Redaktion geändert) hat immer sehr herzliche Worte und ein strahlendes Lächeln für Kinder, wenn sie die Praxis betreten. Dieser Faktor ist sehr wichtig, schafft er doch von Anbeginn an eine positive "Hintergrundstrahlung“. Als sie Leni im Computer aufnahm, stellte sie fest, dass sie ja gerade erst Geburtstag gehabt hatte - und dann auch noch am selben Tag wie der Zahnarzt! Das musste mir Leni natürlich gleich erzählen, als sie das Behandlungszimmer betrat. Und wir hatten sofort einen wunderbaren Rapport.
Nachdem sie mir dann das Bild überreicht hatte und wir es (wertschätzend!) besprochen hatten, ging ich auf die Farben des Bildes ein und begann, ohne dass sie es merkte, eine farbinduzierte Trance. Ich ließ sie Farben visualisieren und hören und nahm gedankenlesend vorweg, dass sie vier Farben habe, die sie gerne mag: rot, grün, blau und gelb. Sie war hell erstaunt, dass ich das wusste.
Ich weiß auch nicht warum, doch geschieht es oft, dass es während hypnotischer Prozesse zu Gedankenimpulsen kommen kann, die gemeinsam sind und die eine Art "Verschränkung“ schaffen, die erstaunlich sein kann. Als ich also auch noch diese Farben formulierte und ihr spiegelte, brach der letzte Widerstand weg und die Behandlung ging leicht vonstatten.
3. Das Ehrgefühl, das Bewusstsein, ein Versprechen gegeben zu haben und es jetzt einlösen zu können. Das Gefühl, jetzt groß zu sein, acht Jahre alt und damit fähig, die Behandlung durchführen zu lassen. Und das ist wichtig für jeden hypnotherapeutisch arbeitenden Arzt: dem Patienten das Gefühl und die Einsicht zu geben: "Du schaffst es, du hast die Kraft, und wenn nicht jetzt, dann zu diesem Zeitpunkt, den Du jetzt bestimmst.“ Leni hatte den Zeitpunkt bestimmt und ohne Zweifel damit Erfolg gehabt.
4. Körperkontakt, Atempacing und verdeckte Anästhesie-Suggestionen, verbal verpackt in die Farbreise, wie zum Beispiel „das Blau des Regenbogens kühlt die roten Lippen, die weit offen stehen …“.
Mit unterstützenden Anästhesie-Suggestionen und der Vierfarbenreise wurde die Behandlung in zwei Sitzungen durchgeführt und abgeschlossen, das lachende Gesicht am Ende sagte mehr als Tausend Worte. Leni schien versöhnt mit der Zahnmedizin und ihrer Mutter. Darauf war sie sehr stolz. Das konnte sie auch sein!
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