SARS-CoV-2-Screening

Die Triage soll das Virus fernhalten

Angesichts der wieder steigenden Zahlen gemeldeter Neuinfektionen mit SARS-CoV-2 dürften die Verwendung eines Screeningbogens und die telefonische Triage zur frühzeitigen Erkennung von COVID-19-Verdachtsfällen an Bedeutung gewinnen. Die Autoren empfehlen, Patienten vorab unter anderem nach einem kürzlich aufgetretenen Verlust ihres Geruchs- und Geschmackssinns zu befragen. Denn in wissenschaftlichen Studien hat sich deren Verlust als stärkster Prädiktor für eine SARS-CoV-2-Infektion gezeigt.

Mit Stand vom 30. August 2020 wurden in Deutschland 242.381 Infektionen mit SARS-CoV-2 nachgewiesen und gemeldet. In den sieben Tagen davor wurden insgesamt 7.952 Infektionen an das Robert Koch-Institut (RKI) gemeldet. [Robert Koch-Institut, 2020] Diese Zahlen stellen aufgrund der Dunkelziffer, das heißt nicht erkannter Infizierter, eine Unterschätzung dar. Die Frage, wie groß das Dunkelfeld tatsächlich ist, kann nicht abschließend beantwortet werden, allerdings gibt es Hinweise, die eine Annäherung erlauben.

So zeigt die Zwischenauswertung einer Studie (SeBluCo), dass 1,3 Prozent der blutspendenden Erwachsenen seropositiv auf das Coronavirus getestet wurden [Robert Koch-Institut, 2020]. Dies nährt die Vermutung, dass ein Großteil der Infektionen sehr mild beziehungsweise oligo- bis asymptomatisch verläuft. Das Centre for Evidence-Based Medicine (Oxford) bietet eine Übersicht zu diesem Thema und gibt eine weite Spanne von 5 bis 80 Prozent an asymptomatischen SARS-CoV-2 Infektionen an [Centre for Evidence-Based Medicine, 2020]. Eine Studie geht davon aus, dass in China vor dem 8. März 2020 53 bis 87 Prozent der Infektionen nicht erfasst wurden [Hao, 2020].

Kombiniert man diese Beobachtung mit den Angaben des RKI und den Ergebnissen der SeBluCo-Studie ergibt sich folgendes Bild: Unter Annahme einer Durchseuchung der deutschen Bevölkerung von etwa 1,3 Prozent könnte die Zahl der tatsächlich Infizierten in Deutschland bei knapp einer Million Menschen liegen. Bei etwa 200.000 bekannten Infektionen bedeutet dies, dass unter Umständen 80 Prozent der Infektionen unerkannt geblieben sind. DieSpekulation, dass es sich hierbei maßgeblich um milde Verläufe beziehungsweise um asymptomatische Fälle handeln könnte, liegt nahe, da man in Deutschland nur kurzzeitig eine Übersterblichkeit beobachtet hat. Zugleich zeigt die Sonderauswertung des Statistischen Bundesamtes aber auch eine diskrete Untersterblichkeit im Winter [Statistisches Bundesamt, 2020].

Wer am geöffneten Mund arbeitet, muss die Aerosole besonders ernst nehmen

Von großer Relevanz für die Zahnmedizin ist die Theorie der Transmission des neuen Coronavirus durch Aerosole. Einige Studien wie etwa die von Zhang et al. kommen zu dem Schluss, dass das Virus vor allem über die Luft übertragen wird und dass dabei Aerosole eine zentrale Rolle spielen [Zhang et al., 2020]. Im Gegensatz hierzu weisen andere Studien dem Übertragungsweg durch Aerosole eine nur geringe Rolle zu [Klompas, 2020].

Solange jedoch gefestigte Erkenntnisse über die SARS-CoV-2-Übertragungswege fehlen, muss die Aerosoltheorie weiterhin sehr ernst genommen werden – gerade in der Zahnmedizin, wo sehr nahe und lange am geöffneten Mund gearbeitet wird und sich wegen der Verwendung von Multifunktionsspritzen und wassergeführten Hand- und Winkelstücken beziehungsweise Turbinen vermehrt Aerosole bilden.

Mehrere Studien haben sich mittlerweile mit der Frage beschäftigt, ob es besondere Symptome beziehungsweise Symptomkombinationen gibt, die mittels eines Screeningbogens abfragbar sind und eine Vorhersage über das Vorliegen von COVID-19 erlauben. Der stärkste Prädiktor für eine Infektion mit SARS-COV-2 ist der Verlust des Geruchs- beziehungsweise des Geschmackssinns. Mehrere Studien zeigen eine hohe Sensitivität und Spezifität dieser Symptome (Tabelle 1): Bei 58,6 bis 70 Prozent der Personen mit positivem Testergebnis liegt ein Verlust des Geruchs- oder Geschmackssinns vor; bei 73 bis 79,6 Prozent der Personen mit negativem Testergebnis liegt kein Verlust des Geruchs- oder Geschmackssinns vor [Tudrej et al., 2020; Roland et al., 2020]. Der positive prädiktive Wert (PPW) gibt an, bei welchem Anteil der Personen mit dem Symptom der Test tatsächlich positiv ausfällt. Aus den Daten von Tudrej & Sebo beziehungsweise Roland et al. ergeben sich PPWs von 47,9 beziehungsweise 70,5 Prozent für den Verlust des Geschmacks- oder des Geruchssinns, das heißt bei einem erheblichen Teil der Personen, bei denen der Geruchs- oder Geschmackssinn verloren gegangen ist, fällt der Test dennoch negativ aus [Tudrej et al., 2020; Roland et al., 2020].

Dies liegt zum einen daran, dass der Verlust des Geruchs- oder Geschmackssinns auch in der Allgemeinbevölkerung keineswegs selten ist; zum anderen hängt der PPW auch von der Prävalenz des interessierenden Merkmals (hier: positiver Corona-Test) ab: Je weniger Personen infiziert sind (beziehungsweise ein positives Testergebnis erhalten), desto geringer ist der PPW. Weitere Symptome wie Fieber, anhaltender Husten und Müdigkeit treten ebenfalls bei testpositiven Personen häufiger auf als bei testnegativen Personen [Menni et al., 2020; Menni et al., 2020a]. Diese Symptome diskriminieren allerdings bei Weitem nicht so stark zwischen testpositiven und testnegativen Personen wie der Verlust des Geruchs- oder des Geschmackssinns. Erste Studien geben Hinweise darauf, dass sich Raucher seltener mit SARS-CoV-2 infizieren; allerdings ist die Prognose bei bereits Infizierten schlechter, wenn sie rauchen [Tsigaris et al., 2020; Changeux et al., 2020; Vardavas et al., 2020]. Zum Einfluss des Rauchens ist jedoch noch weitere Forschung erforderlich.

Einige Autoren haben Scores entwickelt, mit denen die Wahrscheinlichkeit abgeschätzt werden kann, dass Personen, die Corona-typische Beschwerden aufweisen, ein positives Testergebnis bekommen [Menni et al., 2020; Menni et al., 2020a; Wynants et al., 2020]. Diese Scores müssen jedoch noch in unabhängigen Stichproben überprüft werden, bevor sie in der Praxis eingesetzt werden können. Shoer et al. etwa haben zwei Triage-Modelle analysiert, die bei 10 Prozent Sensitivität einen positiven prädiktiven Wert zwischen 35 Prozent und 46 Prozent erzielen. In den beiden gerechneten Modellen zeigte sich, dass der akute Verlust des Geschmacks- und Geruchsinns das deutlichste Anzeichen einer Erkrankung an COVID-19 ist [Shoer et al., 2020]. Auch Roland et al. kommen zu dem Schluss, dass eine plötzliche Anosmie und Ageusie in Verbindung mit Fieber für die Vorhersage einer Coronainfektion eine Sensitivität von 70 bis 75 Prozent haben. Die Spezifität des Verlusts von Geschmacks- und Geruchssinn in der univariaten Analyse lag bei 73 Prozent [Roland et al., 2020]. Lan et al. konnten unter anderem zeigen, dass bei Abwesenheit von Anosmie und Ageusie ein positiver Virustest deutlich seltener beobachtet wird. Gleiches gilt, wenn nur eine Anosmie oder nur eine Ageusie vorliegt [Lan et al., 2020]. 

Der stärkste Prädiktor ist der Verlust des Geruchs- und Geschmackssinns

Im Hinblick auf die derzeit wieder steigenden Zahlen gemeldeter Neuinfektionen mit SARS-CoV-2 dürfte die Verwendung eines Screeningbogens zur frühzeitigen Erkennung von COVID-19-Verdachtsfällen neben der Einhaltung anderer Präventionsmaßnahmen, Anweisungen und Verordnungen wieder an Bedeutung zunehmen. Der Bogen sollte die Frage nach einem kürzlich aufgetretenen Verlust des Geruchs- und Geschmackssinns enthalten und von Patienten und Begleitpersonen nach Möglichkeit zu Hause oder vor dem Betreten der Praxisräume ausgefüllt und ausgewertet werden. Patienten mit akuter Anosmie und Ageusie sollte ein Coronatest (Abstrich aus dem Mund- und Nasenraum, PCR-Diagnostik) empfohlen und ein Ausweichtermin in frühestens 14 Tagen oder bei Vorliegen eines aktuellen, negativen Testergebnisses ermöglicht werden; eine Ausnahme wäre natürlich ein dringlicher Behandlungsbedarf.

Fabian Standl, MPH, BA

Institut für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie (IMIBE), Universitätsklinikum Essen

Hufelandstr. 55, 45147 Essen

Prof. Dr. Karl-Heinz Jöckel

Institut für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie (IMIBE), Universitätsklinikum Essen

Hufelandstr. 55, 45147 Essen

PD Dr. Dr. Bernd Kowall

Institut für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie (IMIBE), Universitätsklinikum Essen

Hufelandstr. 55, 45147 Essen

Prof. Dr. Andreas Stang, MPH

Institut für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie (IMIBE), Universitätsklinikum Essen

Hufelandstr. 55, 45147 Essen

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