Neue S2k-Leitlinie

Der richtige Implantationszeitpunkt

Heftarchiv Zahnmedizin Implantologie
Keyvan Sagheb
,
Isabel Becker
,
Kawe Sagheb
,
Stefan Wentaschek
,
Robert Nölken
,
Eik Schiegnitz
,
Bilal Al-Nawas
,
Christian Walter
Die neue S2k-Leitlinie „Implantationszeitpunkte“ der Deutschen Gesellschaft für Implantologie (DGI) und der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK) soll implantologisch Tätigen eine Entscheidungshilfe für den geeigneten Implantationszeitpunkt an die Hand geben und so die Versorgungsqualität der betroffenen Patientengruppe verbessern. Dafür wurde der aktuelle wissenschaftliche Kenntnisstand systematisch aufbereitet. Die wichtigsten Empfehlungen finden Sie hier.

Neben der sicheren und nachhaltigen Wiederherstellung der Funktion und Ästhetik durch den implantatgetragenen Zahnersatz spielen für Patientinnen und Patienten behandlungsspezifische Modalitäten eine zentrale Rolle. So soll die Behandlungsmethode nicht nur möglichst schmerzfrei und mit einer möglichst geringen Zahl an Eingriffen stattfinden, sondern auch mit einer geringen Morbidität und schnellen Heilung assoziiert sein.

Behandlerseitig stehen eine prädiktive Behandlungsmethode sowie ein einfaches und standardisiertes Behandlungsverfahren mit wenigen Komplikationen im Fokus. Die Wahl des Implantationszeitpunkts hat einen direkten Einfluss auf die oben erwähnten Wünsche und kann je nach gewählter Behandlungsmethode im direkten Widerspruch zu diesen stehen [Hammerle et al., 2004].

Folgende Fragestellungen wurden in der Leitlinie fokussiert:

  • Hat die Auswahl des Implantationszeitpunkts einen Einfluss auf das Implantatüberleben?

  • Welche systemischen und welche lokalen Faktoren sind bei der Auswahl des Implantationszeitpunkts zu beachten?

  • Welche zusätzlichen Maßnahmen sind dabei relevant?

Die Entscheidung zum Insertionszeitpunkt eines Implantats ist multifaktoriell. Sie wird nach einer Zahnextraktion insbesondere durch die jeweiligen sich im Laufe der Heilung verändernden weich- und hartgeweblichen Eigenschaften der Alveole bestimmt. Die Extraktion geht in der Regel mit einer sowohl horizontalen als auch vertikalen Dimensionsänderung im Hart- und Weichgewebe von individueller Dynamik einher. Dabei ist der horizontale Knochenverlust im Bereich des Alveolarkamms mit 29 bis 63 Prozent (2,46–4,56 mm) stärker ausgeprägt als der vertikale Knochenverlust mit 11 bis 22 Prozent (0,8–1,5 mm) [Chen et al., 2004; Van der Weijden et al., 2009; Tan et al., 2012].

Tabelle 1 zeigt die verschiedenen Typen der Implantationszeitpunkte vom traditionellen Protokoll (Typ IV) bis hin zur Sofortimplantation (Typ I), bei der in der Regel noch in derselben Sitzung inseriert wird [Hammerle et al., 2004; Mello et al., 2017; Gallucci et al., 2018; Tonetti et al., 2019].

Gegenüberstellung Implantationszeitpunkte und Heilungsverlauf der Extraktionsalveole

Implantationszeitpunkt

Einteilung nach ITI-Konsensuskonferenz 2004 [Hammerle et al., 2004]

Zeitfenster

Physiologische Heilungsphasen nach Zahnextraktion [Chen et al., 2004]

Sofortimplantation

Typ I

< 1 Tag

Blutkoagel

Frühimplantation

Typ II

4–8 Wochen

Weichgewebliche Abheilung abgeschlossen

Typ III

12–16 Wochen

Partielle knöcherne Ausheilung (circa 2/3 der Alveole)

Spätimplantation

Typ IV

> 16 Wochen

Knöcherne Ausheilung der Alveole abgeschlossen

Tab. 1

Therapieplanung

Die Planung für eine Implantattherapie sollte laut Konsens bereits beginnen, sobald die Indikation für eine Zahnextraktion mit anschließender implantologischer Versorgung besteht. Hierbei sollen Patientinnen und Patienten über die relevanten Therapiealternativen aufgeklärt werden. Zudem soll anhand der Anamnese, der klinischen und radiologischen Befunde eine patientenindividuelle Risikoevaluation durchgeführt werden [Heydecke et al., 2012].

Diagnostik

Die angeführten Empfehlungen zur Diagnostik basieren auf allgemeingültigen und in der Literatur beschriebenen notwendigen Untersuchungen, die bei der Therapieentscheidung für eine Implantatinsertion herangezogen werden. Bei Risikopatientinnen und -patienten (zum Beispiel nach Radiatio im Kopf-Halsbereich, Diabetikern, mit Immundefizienz oder unter antiresorptiver Therapie) sind gegebenenfalls zusätzliche Untersuchungen (Blutentnahme, weiterführende Bildgebung) für eine Risikobewertung notwendig. Die notwendigen Basisuntersuchungen zur Therapieentscheidung umfassen:

  • Anamnese

  • klinische Untersuchung

  • radiologische Bildgebung

Neben dem allgemeinmedizinischen Risikoprofil muss eine Beurteilung der lokalen Ausgangssituation vor der geplanten Implantattherapie vorgenommen werden [Kan et al., 2018]. Dazu zählen:

  • Qualität, Quantität und Morphologie des Hartgewebes

  • Qualität, Quantität und Morphologie des Weichgewebes

  • Vorhandensein von lokalen Pathologien

  • Zustand der Nachbarzähne

Implantationszeitpunkte

Die Typen I–IV der Implantationszeitpunkte weisen jeweils unterschiedliche klinische Schwierigkeiten und Behandlungsrisiken auf. Die Auswahl hängt von individuellen patientenseitigen systemischen und lokalen Faktoren ab. Werden die jeweiligen notwendigen spezifischen Auswahlkriterien nicht erfüllt und/oder ist die Durchführung des klinischen Verfahrens von unzureichender Qualität, kann sich der gewählte Zeitpunkt negativ auf das Überleben und den Erfolg auswirken. Die Vorteile der verschiedenen Implantatinsertionsprotokolle und die damit verbundenen Risiken sollten für jeden Fall sorgfältig abgewogen werden.

Spätimplantation (Typ IV)

Bei der Spätimplantation erfolgt die Implantation nach frühestens vier bis sechs Monaten, um eine vollständige weich- und hartgewebliche Abheilung der Extraktionsalveole abzuwarten [Hammerle et al., 2004]. Sie weist exzellente Überlebensraten auf und ist in der Literatur mit den längsten Nachbeobachtungszeiträumen dokumentiert [Heydecke et al., 2012; Moraschini et al., 2015]. Durch die extraktionsbedingten Umbauprozesse im Bereich des Alveolarkamms kann es jedoch in dieser Zeit zu deutlichen Atrophiephänomenen kommen, die eine Augmentation zum Zeitpunkt der Implantatinsertion zwingend erforderlich machen. Dieser physiologische Abbauprozess im Bereich der Extraktionsregion ist in den ersten drei bis sechs Monaten am stärksten ausgeprägt und der Knochenverlust kann in der horizontalen Dimension 29 bis 63 Prozent und in der vertikalen 11 bis 22 Prozent betragen [Chen et al., 2004; Van der Weijden et al., 2009, Tan et al., 2012].

Eine Vielzahl von Erkrankungen beziehungsweise Therapien führt zu einer verzögerten Knochenumbau- und Knochenneubildungsrate. In diesen Fällen wird eine Spätimplantation präferiert, insbesondere um durch die Beobachtung des Heilungsprozesses nach der Zahnextraktion eine klinische Aussage über das Regenerationspotenzial der geplanten Implantatregion treffen zu können [Ullner, 2016].

Maßnahmen zum Erhalt des Alveolarkamms (ARP = Alveolar Ridge Preservation) nach der Zahnextraktion erweisen sich als effektiv hinsichtlich der Vermeidung oder Reduktion von Augmentationen bei Spätimplantationen. In der Literatur werden dafür verschiedene Techniken und Materialien erfolgreich beschrieben [Tröltzsch et al., 2020; Avila-Ortiz et al., 2019]. In einem aktuellen systematischen Review mit Metaanalyse (7 RCT und 3 CCT) zeigte sich hinsichtlich des Implantaterfolgs kein Unterschied zwischen einer Sofortimplantation und einer Spätimplantation nach ARP, jedoch ein signifikant besseres Implantatüberleben (98 vs. 93 Prozent) für Spätimplantationen [Mareque et al., 2021].

Konsensbasiertes Statement 1

In der Literatur ist die Spätimplantation auch bei Vorliegen von lokalen und systemischen Risikofaktoren zum Zeitpunkt der Zahnextraktion mit hohen Implantatüberlebensraten beschrieben.
Literatur: [Moraschini et al., 2015; Schiegnitz 2015; Beckmann 2019; Cosyn et al., 2019; Wiegner, 2021]

starker Konsens

Konsensbasierte Empfehlung 3

Für die Spätimplantation ist von Bedeutung, dass es nach der Zahnextraktion zu Resorptionsvorgängen im Bereich der Alveole kommt, die patientenindividuell zu vertikalem und horizontalem Knochenverlust führen können. Wenn eine Spätimplantation aus patientenspezifischen Gründen indiziert ist, sollte ein Verfahren zur Erhaltung des Alveolarkamms (ARP = Alveolar Ridge Preservation) nach der Zahnextraktion empfohlen werden.
Literatur: [Tröltzsch et al., 2020; Chen et al., 2004; Van der Weijden et al.; 2009, Tan et al., 2012; Buser et al., 2017; Avila-Ortiz et al., 2019; Atieh et al.; 2021]

Konsens

Frühimplantation (Typ II/III)

Die Frühimplantation hat zum Ziel, die Behandlungsdauer einer Spätimplantation zu verkürzen und gleichzeitig einige Nachteile der Sofortimplantation durch eine partielle Ausheilung der Alveole zu umgehen. Einer der wichtigsten Vorteile ist die abgeschlossene Weichgewebsheilung. Dadurch kann unkritischer ein Mukoperiostlappen gebildet werden, wenn augmentative Maßnahmen erforderlich werden. Insbesondere bei akut infizierten Alveolen und ausgeprägten lokalen Pathologien kann durch die Verschiebung des Implantationszeitpunkts das Risiko für eine Wundinfektion beziehungsweise bakterielle Kontamination minimiert werden [Buser et al.; 2017; Graziani et al., 2019].

Konsensbasierte Empfehlung 4

Wenn aufgrund von akuten entzündlichen Prozessen oder anatomischer Kompromittierung eine Sofortimplantation nicht indiziert ist, kann die Frühimplantation empfohlen werden. Die zu diesem Zeitpunkt abgeschlossene weichgewebliche Abheilung ermöglicht die Implantatinsertion sowie augmentative Maßnahmen bei geringerem Resorptionsgrad im Vergleich zur Spätimplantation.
Literatur: [Sanz et al., 2012; Buser et al., 2017; Bassir et al., 2019; Graziani et al., 2019]

starker Konsens

Sofortimplantation (Typ I)

Die klinische Datenlage für Sofortimplantationen ist bereits durch die starke Variabilität in der operativen Technik (Wahl des Zugangs, Implantatregion, -position oder der Augmentationstechnik und des -materials) sehr heterogen. Hinzu kommen eine große Anzahl von möglichen lokalen Einflussfaktoren wie die Beschaffenheit der Hart- und Weichgewebe oder die Entzündungssituation der Alveole. Das erklärt die teilweise weite Spannbreite der Studienergebnisse hinsichtlich Implantatüberleben beziehungsweise Implantaterfolg für die Sofortimplantation. Ein weiterer erschwerender Faktor bei der Bewertung von Randomized controlled trials (RCT) sind die unterschiedlichen Ein- und Ausschlusskriterien beim Vergleich der Sofortimplantation zu anderen Implantationszeitpunkten, die sich bereits durch die veränderte Ausgangssituation hinsichtlich der frischen Extraktionsalveole und der ausgeheilten Alveole ergeben. Die sehr hohen Überlebensraten aus systematischen Reviews [Lang et al., 2012; Slagter et al., 2014] basieren in der Regel auf einer strengen Selektion und der großen klinischen Erfahrung im Bereich der Sofortimplantation der teilnehmenden Studienzentren.

Aktuelle Metaanalysen von RCTs zeigen jedoch eine signifikant schlechtere Überlebensrate für Sofortimplantationen in der Einzelzahnregion im Vergleich zu einer Früh- beziehungsweise Spätimplantation. In Abhängigkeit von den Einschlusskriterien für die klinischen Studien variiert die Differenz bei den Analysen zwischen drei bis vier Prozent (98 versus 95 Prozent [Mello et al., 2017]; 99 versus 95 Prozent [Cosyn et al., 2019], 93 versus 97 Prozent [Chrcanovic et al., 2015]).

Es gibt außerdem nur sehr wenige Studien, die die Erfahrung der Behandelnden als Einflussfaktor für das Implantatüberleben untersuchten [Jemt et al., 2016; Chrcanovic et al., 2017]. Hinsichtlich Sofortimplantationen gibt es keine klinischen Studien mit dieser Fragestellung. Sicherlich ist die Implantatinsertion in die frische Extraktionsalveole technisch deutlich anspruchsvoller als in einer ausgeheilten Situation mit ausreichendem Knochenangebot. Einerseits ist das Erreichen einer guten Primärstabilität deutlich schwerer und stark abhängig vom Restknochen apikal der Extraktionsalveole beziehungsweise von der Breite des interradikulären Septums bei mehrwurzeligen Zähnen. Andererseits wird bei der Sofortimplantation häufig bewusst auf die Bildung eines Mukoperiostlappens verzichtet, um das Trauma auf das Gewebe zu reduzieren, was jedoch die Übersicht deutlich einschränkt. Zusätzlich sind gegebenenfalls additive weich- und/oder hartgewebliche Augmentationen in gleicher Sitzung notwendig, die die Komplexität des chirurgischen Eingriffs erhöhen. Die Sofortimplantation ist damit die techniksensibelste Variante.

Konsensbasiertes Statement 2

Die Sofortimplantationen zum Ersatz einzelner Zähne weisen im Vergleich zu Früh- beziehungsweise Spätimplantationen eine reduzierte Überlebensrate auf.
Literatur: [Chrcanovic et al., 2015; Mello et al., 2017; Cosyn et al., 2019]

starker Konsens

Konsensbasierte Empfehlung 5

Die Sofortimplantation ist ein komplexes chirurgisches Verfahren und erfordert entsprechende klinische Expertise. Da ihr Erfolg zusätzlich von einer Vielzahl von patientenseitigen systemischen und lokalen Faktoren abhängig ist, soll die Indikation für jeden Fall nach sorgfältiger Abwägung individuell getroffen werden.
Literatur: [Chen and Buser 2009; Kan et al., 2018; Cosyn et al., 2019; Gamborena et al., 2021]

starker Konsens

Implantationszeitpunkt bei Risikogruppen

Eine Vielzahl von Erkrankungen beziehungsweise Therapien führt zu einer verzögerten Osseointegration oder sie sind im Vergleich zu gesunden Patientinnen und Patienten mit einer erhöhten Verlustrate für Implantate assoziiert. Dies ist auf eine reduzierte Knochenumbau- und Knochenneubildungsrate zurückzuführen. Die Empfehlungen für Betroffene mit Immundefizienz, Diabetes mellitus, mit Kopf-Hals-Bestrahlung oder unter medikamentöser Behandlung mit Knochenantiresorptiva sowie Parodontitis finden sich in der Leitlinie unter Punkt 6.4. mit Verweis auf die S3-Leitlinien der AWMF zur Implantation bei diesen Patientengruppen.

3-D-Röntgendiagnostik bei der Sofortimplantation

Jede Implantatplanung erfordert eine präoperative röntgenologische Diagnostik. Die 3-D-Röntgendiagnostik bietet eine detaillierte räumliche Beurteilung der anatomischen Strukturen und der pathologischen Veränderungen. Dieser Vorteil kann insbesondere bei einer geplanten Sofortimplantation von großem klinischem Nutzen sein und ermöglicht bereits präoperativ eine Risikoabschätzung hinsichtlich der lokalen Ausgangssituation [Kan et al., 2018]. Die Volumentomografie ist der Computertomografie bei Darstellung der relevanten anatomischen Strukturen in implantologischen Fragestellungen nicht unterlegen, weist jedoch in der Regel eine geringere Strahlenbelastung auf. Daher sollte ihr bei der Diagnostik in der Implantologie entsprechend der aktuellen Leitlinien der Vorzug gegeben werden (Statement 3).

Konsensbasiertes Statement 3

Die Anfertigung eines dreidimensionalen Röntgenbildes kann über die genaue Darstellung der Knochendimension und mögliche lokale Pathologien hinaus wertvolle Hinweise zur lokalen Situation liefern und somit für die Entscheidungsfindung zur Sofortimplantation hilfreich sein. Hierfür verweisen wir auch auf die aktuellen S2k-Leitlinien „Dentale digitale Volumentomographie“ (AWMF-Registernummer: 083-005) und „Indikationen zur implantologischen 3-D-Röntgendiagnostik und navigationsgestützte Implantologie“ (AWMF-Registernummer: 083-011).
Literatur: [Nitsche, 2011; Schulze, 2013; Kan et al., 2018]

starker Konsens

Technisches Vorgehen bei der Sofortimplantation

Die Vorhersagbarkeit des Implantaterfolgs bei der Sofortimplantation ist abhängig von der lokalen Ausgangssituation. Dabei ist die Qualität und Quantität der Hart- und Weichgewebe von zentraler Bedeutung. So ist es klinisch plausibel, bei der Zahnextraktion das Trauma auf das Weich- und Hartgewebe so gering wie möglich zu halten [Gamborena et al., 2021]. Ein operativer Zugang ohne Bildung eines Mukoperiostlappens („Flapless“) scheint einen positiven Effekt auf die Knochenstabilität zu haben [Lin et al., 2014; Zhuang et al., 2018]. Der Verzicht auf die Bildung eines Mukoperiostlappens erschwert jedoch gleichzeitig die lokale Beurteilbarkeit der knöchernen Situation. Inwieweit ein invasiverer Zugang bei der Sofortimplantation gewählt werden sollte, ist im Einzelfall zu diskutieren. Neben den lokalen Faktoren ist entscheidend, ob und welche augmentativen Maßnahmen simultan bei der Implantatinsertion geplant sind.

Konsensbasierte Empfehlung 9

Bei geplanter Sofortimplantation soll die Zahnextraktion chirurgisch so atraumatisch wie möglich erfolgen. Nach der Extraktion soll eine sorgfältige Entfernung des Granulationsgewebes in der Alveole und eine Kürettage des Alveolarknochens vorgenommen werden.
Literatur: [Hammerle et al., 2004; Raes et al., 2011; Iyer and Haribabu 2013; Kan et al., 2018; Zhuang et al., 2018; Tonetti et al., 2019]

starker Konsens

Des Weiteren ist die Primärstabilität ein entscheidender Faktor für die Osseointegration des Implantats [Meredith, 1998]. Ist durch lokale Pathologien oder anatomische Gegebenheiten nicht ausreichend Restknochen nach der Zahnextraktion vorhanden, um das Implantat in der korrekten 3-D-Ausrichtung primärstabil inserieren zu können, sollte von einer Sofortimplantation abgesehen werden [Hammerle et al., 2004; Chrcanovic et al., 2017; Cosyn et al., 2019; Tonetti et al., 2019]. In einer Metaanalyse konnte die Implantatposition als eigenständiger Risikofaktor für die Entstehung von vestibulären Rezessionen bestätigt werden [Hammerle et al., 2012]. In der Oberkieferfront wird eine palatinale Implantatposition angestrebt [Kan et al., 2018].

Konsensbasierte Empfehlung 10

Bei ausgedehnten knöchernen Defekten, die eine Primärstabilität des Implantats verhindern, soll keine Sofortimplantation durchgeführt werden.
Literatur: [GCP; Hammerle et al., 2004; Chrcanovic et al., 2017; Cosyn et al., 2019; Tonetti et al., 2019]

starker Konsens

Konsensbasierte Empfehlung 11

Die Sofortimplantation stellt hinsichtlich der korrekten dreidimensionalen Position und Stabilisierung in der Extraktionsalveole eine besondere Herausforderung dar. In der Oberkieferfront sollte die achsengerechte und positionsgerechte Implantatinsertion palatinal orientiert sein.
Literatur: [Hammerle et al., 2012; Kan et al., 2018]

starker Konsens

Lokale Faktoren bei der Sofortimplantation

Bei der Sofortimplantation sind die lokalen Faktoren von entscheidender Bedeutung für die Therapieplanung und die Abschätzung des Therapieerfolgs [Buser et al., 2017]. In einem Konsensuspapier der ITI aus 2014 wird bei Nichterfüllung der erwähnten lokalen Kriterien sogar von einer Sofortimplantation abgeraten [Morton et al., 2014].

Patientinnen oder Patienten mit einem dünnen Gingivaphänotyp beziehungsweise dünner vestibulärer Knochenlamelle zeigen deutlichere Resorptionsphänomene nach der Zahnextraktion. Die Gefahr für vestibuläre Rezessionen ist bei dieser Ausgangssituation deutlich erhöht [Chen und Buser, 2009; Tan et al., 2012; Chen et al., 2004]. Dies gilt auch bei einer sehr dünnen Knochenlamelle (< 1 mm) oder knöchernen Defekten im Bereich der vestibulären Knochenlamelle. Knochendefekte im Bereich der vestibulären Lamelle sind daher in vielen klinischen Studien Ausschlusskriterien [Cosyn et al., 2019]. Die Vorhersagbarkeit des Therapieerfolgs ist in diesen Fällen deutlich kritischer und muss bei der Therapieplanung berücksichtigt werden. Das erklärt, warum bei gleichzeitig qualitativen und quantitativen weich- und hartgeweblichen Defiziten eine Sofortimplantation insbesondere in der Frontzahnregion aufgrund des hohen ästhetischen Risikos von vielen Autoren abgelehnt wird [Buser et al., 2017].

Durch eine gleichzeitige hart- und/oder weichgewebliche Augmentationsmaßnahme bei der Implantatinsertion kann versucht werden, dem entgegenzuwirken [Lin et al., 2014; Cosyn et al., 2019]. Eine retrospektive Analyse zeigte, dass sich durch simultane hart- und weichgewebliche Augmentation auch bei bestehenden Rezessionen suffiziente Langzeiterfolge bei der Sofortimplantation erzielen lassen [Noelken et al., 2018]. Eine Aussage zur Wahl der Augmentationstechnik beziehungsweise zum Material kann aktuell aufgrund der reduzierten und inhomogenen Datenlage nicht getroffen werden.

Daraus ergeben sich folgende Empfehlungen:

Konsensbasierte Empfehlung 12

Bei Patienten mit einem dicken Gingivatyp, dicker und intakter vestibulärer Knochenlamelle (> 1 mm) und einem geringen horizontalen Spalt zwischen dem Implantat und der vestibulären Knochenlamelle (< 2 mm) kann auf eine simultane Augmentation bei der Sofortimplantation verzichtet werden.
Literatur: [Hammerle et al., 2004; Chen und Buser 2014; Morton et al., 2014]

starker Konsens

Konsensbasierte Empfehlung 13

Bei dünnem Gingivatyp beziehungsweise dünner vestibulärer Knochenlamelle und vertikalem Gewebedefizit in der ästhetischen Zone sollte eine simultane weichgewebliche und/oder hartgewebliche Augmentation/Optimierung des Implantatlagers im Rahmen der Sofortimplantation durchgeführt werden.
Literatur: [Clementini et al., 2015; Kan et al., 2018; Cosyn et al., 2019]

starker Konsens

Komplikationen vermeiden

In einem aktuellen systematischen Review [Saijeva und Juodzbalys, 2020] konnte kein negativer Einfluss auf die Implantatverlustrate beziehungsweise -überlebensrate bei der Sofortimplantation in einer infizierten Extraktionsalveole im Vergleich zu einer nicht infizierten Extraktionsalveole nachgewiesen werden. Anhand der Studienlage kann keine Aussage über das Ausmaß der Infektion getroffen werden, die noch für eine Sofortimplantation akzeptabel erscheint. Jedoch ist es aus klinischer Sicht sicherlich sehr kritisch, in eine akut infizierte und putride Alveole zu implantieren. Starker Konsens bestand im Leitliniengremium, dass eine Sofortimplantation unter sorgfältiger Abwägung durchgeführt werden kann, das infizierte Gewebe jedoch vollständig entfernt werden soll. Zudem sollte eine perioperative systemische Antibiotikaapplikation durchgeführt werden.

Die Sofortimplantation ist eine techniksensitive Behandlungsmethode und somit mit einem relevanten Komplikationsrisiko behaftet. Dieses Risiko kann durch additive Maßnahmen wie Augmentation oder Sofortversorgungen im Rahmen der Sofortimplantation erhöht werden. Zur Vermeidung von biologischen und technischen Komplikationen in der Einheilphase soll bei einer Sofortimplantation darüber hinaus, insbesondere in Kombination mit einer Sofortversorgung, eine engmaschige klinische Nachsorge erfolgen [GCP; Lang et al., 2012; Saijeva und Juodzbalys, 2020].

Fazit

Die Behandlungsplanung für eine Implantattherapie sollte beginnen, sobald die Indikation für eine Zahnextraktion mit anschließender implantologischer Versorgung besteht. Hierbei weisen die zur Möglichkeit stehenden Implantationszeitpunkte differenzierte Indikationsbereiche mit unterschiedlichen klinischen Schwierigkeiten und Behandlungsrisiken auf. Dabei wird die Auswahl des Implantationszeitpunkts durch die individuellen, patientenseitigen systemischen und lokalen Faktoren bestimmt.

Hinsichtlich der systemischen Risikofaktoren ist zu beachten, dass eine Vielzahl von Erkrankungen beziehungsweise Therapien in einer kompromittierten Knochenumbau- und Neubildungsrate resultieren. Diese gestörte Knochenphysiologie sollte die Zahnärztin oder der Zahnarzt bei der Festlegung des Implantationszeitpunkts berücksichtigen. Der gewählte Implantationszeitpunkt kann sich negativ auf das Überleben und den Erfolg auswirken, wenn die jeweiligen notwendigen spezifischen Voraussetzungen nicht oder nur teilweise erfüllt werden.

Weiterhin wird die Entscheidung zum Insertionszeitpunkt von einer Vielzahl an lokalen Faktoren beeinflusst und ist direkt abhängig von den jeweiligen weichgeweblichen und hartgeweblichen Eigenschaften der sich in Heilung befindlichen Alveole. Die Vorhersagbarkeit des Implantaterfolgs wird maßgeblich von diesen lokalen Faktoren bestimmt, wobei diese Ausgangssituation durch augmentative Maßnahmen modifiziert werden kann. Die Implantatinsertion ist eine techniksensitive chirurgische Intervention, die in Abhängigkeit vom Implantationszeitpunkt in ihrer Komplexität variiert und somit unterschiedliche Anforderungen an die klinische Expertise des Behandlungsteams stellt.

Letztlich müssen die Vor- und Nachteile der verschiedenen Implantatinsertions-Protokolle patientenindividuell analysiert und für jeden Fall sorgfältig abgewogen werden.

Alle Details und Statements finden sich in der Leitlinie: DGI, DGZMK: „Implantationszeitpunkte“, Langfassung, Version 1.0, 2022, AWMF-Registriernummer: 083-040

PD Dr. Dr. Keyvan Sagheb

Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer-
und Gesichtschirurgie – plastische Operationen, Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Augustusplatz 2, 55131 Mainz
keyvan.sagheb@unimedizin-mainz.de

Isabel Becker

Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie – plastische Operationen, Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Augustusplatz 2, 55131 Mainz

Dr. Kawe Sagheb

Poliklinik für Zahnärztliche Prothetik und Werkstoffkunde der Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Augustusplatz 2, 55131 Mainz

PD Dr. Stefan Wentaschek

Poliklinik für Zahnärztliche Prothetik und
Werkstoffkunde der Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Augustusplatz 2, 55131 Mainz

Prof. Dr. Robert Nölken

Praxis Prof. Dr. Robert Nölken M.Sc., Lindau (Bodensee)
und
Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie – plastische Operationen, Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Prof. Dr. Dr. Eik Schiegnitz

Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer-
und Gesichtschirurgie – Plastische
Operationen, Universitätsmedizin Mainz
Augustusplatz 2, 55131 Mainz
136777-flexible-1900

Prof. Dr. Dr. Bilal Al-Nawas

Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, plastische Operationen, Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität
Augustusplatz 2, 55131 Mainz

Prof. Dr. Dr. Christian Walter

medi+ Zahnärztliche Praxisklinik
Haifa-Allee 20, 55128 Mainz
und
Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie – plastische Operationen, Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz

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