Bericht zur Zahnmedizin in Großbritannien

„Das ist im 21. Jahrhundert völlig inakzeptabel!“

mg
Gesellschaft
Der Gesundheits- und Sozialausschuss der britischen Regierung hat einen Bericht zur zahnmedizinischen Versorgung im NHS verfasst. Das Urteil: Um eine Katastrophe abzuwenden, muss schnell und entschieden gehandelt werden.

Die Zahnmedizin im Nationalen Gesundheitsdienst NHS stehe vor einer Krise, die zu einer weiteren Verschlechterung der Mundgesundheit führt. Die Regierung müsse dringend grundlegende Reformen durchführen, damit die Menschen die Zahn- und Mundgesundheit erhalten, die sie benötigen, heißt es in einem Bericht des Gesundheits- und Sozialausschusses.

Die Empfehlungen von vor 15 Jahren wurden immer noch nicht umgesetzt

„Es ist frustrierend, zu Empfehlungen unseres Vorgängerausschusses von vor 15 Jahren zurückkehren zu müssen, die immer noch nicht umgesetzt wurden“, heißt es. Im Laufe der Untersuchung sahen sich die Abgeordneten mit einer Vielzahl von Geschichten konfrontiert, in denen Menschen von der Unmöglichkeit eines Zahnarzttermins berichten. „Das ist im 21. Jahrhundert völlig inakzeptabel“, lautet das klare Fazit des Ausschusses.

Die Regierung müsse nun dringend darlegen, wie sie die zahnärztlichen Leistungen des NHS reformieren will, um die Versorgung perspektivisch sicherzustellen. „Wir befürchten, dass jede weitere Verzögerung dazu führen wird, dass mehr Patienten keinen Zugang zu zahnärztlichen Kontrolluntersuchungen und der routinemäßigen oder dringenden zahnärztlichen Versorgung haben, die sie benötigen", warnen die Autoren.

Immer mehr Menschen, darunter auch Kinder, litten unter einer schlechten Mundgesundheit, was sich in der Folge auf ihre gesamte körperliche Gesundheit und ihr soziales Wohlbefinden auswirkt. Das wieder führe zu einer Abhängigkeit von teuren Sekundärversorgungsmaßnahmen, wodurch der Druck auf das übrige Gesundheitswesen steigt, beklagen die Ausschussmitglieder.

Es brauche jetzt eine „grundlegende Reform“, fordern sie. Diese sollte eine Abkehr vom derzeitigen System der zahnärztlichen Aktivitätseinheiten (Units of Dental Activity, UDAs) hin zu einem gewichteten Kopfsystem darstellen, das finanzielle Anreize für die Behandlung neuer Patienten und Patienten mit größerem Behandlungsbedarf bietet, was wiederum der Prävention und der personenzentrierten Versorgung Vorrang einräumt. Andernfalls bestehe die Gefahr, dass mehr Zahnärzte die Arbeit des NHS einstellen oder gar nicht erst aufnehmen, was das Zugangsproblem weiter verschärfen wird. Für all diejenigen Zahnärzte, die den NHS bereits verlassen haben, heißt es in dem Bericht weiter, komme die Reform ohnehin zu spät.

Das Gehalt eines NHS-Zahnarztes fiel in zehn Jahren von 78.000 auf 49.310 Euro

Immerhin: Medienberichten zufolge hat die britische Regierung die Empfehlung der Überprüfungsstelle für die Vergütung von Ärzten und Zahnärzten angenommen und eine Erhöhung des NHS-Honorars um 6 Prozent bewilligt. Die British Dental Association (BDA) kritisierte die Erhöhung postwendend als zu niedrig und verspätet.

Die Lohnprämien lägen unter der Inflationsrate, beklagt die BDA. Die in die Höhe schnellenden Praxiskosten "heizten den Exodus aus dem NHS" nur noch weiter an, heißt es. Laut BDA-Angaben ist das Realeinkommen typischer Zahnärzte um bis zu 40 Prozent gedallen – der höchste gesunkene Wert im öffentlichen Sektor des Vereinigten Königreichs. Von 2008/9 bis 2020/21 sank demzufolge das Realgehalt für einen typischen NHS-Zahnarzt in England um 37 Prozent von 67.800 Pfund (umgerechnet 78.000 Euro) auf 42.847 Pfund (umgerechnet 49.310 Euro) pro Jahr.

Für die „inakzeptabel späte Zahlung“ müssten die NHS-Vertragsinhaber Zinsen erhalten, fordert die BDA außerdem. „Die Anspruchsrechnung sieht vor, dass die Erhöhungen ab dem 1. April eines jeden Jahres angewendet werden, aber diese wurden seit 2015/16 nicht mehr fristgerecht ausgezahlt“, schreibt die BDA. 2022 sei der Inflationsausgleich gar nicht vorgenommen worden und rückwirkende Zahlungen wurden erst im Januar, also neun Monate nach Fälligkeit, ausgezahlt.

Nach einer Rechtsberatung gehe die BDA nun davon aus, dass die NHS-Zahnärzte für jedes der Jahre einen Anspruch auf Zinsen haben, in denen Zahlungen in Verzug geraten sind. "Wir sind bereit, die Mitglieder bei der Geltendmachung von Ansprüchen für dieses Interesse zu unterstützen." Die Interessensvertretung schätzt, dass den Praxen aus dem vergangenen Geschäftsjahr mehr als 12 Millionen Pfund (umgerechnet 13,8 Millionen Euro) an Zinsen für verspätete Zahlungen geschuldet werden. Die Zinsen für die verspätete Zahlung in 2023 belaufen sich der BDA zufolge auf 7 Millionen Pfund (umgerechnet 8 Millionen Euro).

Die BDA sieht im Bericht eine "Gebrauchsanweisung zur Rettung der NHS-Zahnmedizin"

Die BDA hofft nun darauf, dass der Ausschussbericht – den sie als „Gebrauchsanweisung zur Rettung der NHS-Zahnmedizin“ bezeichnet – die ausstehenden Reformprozesse in Gang setzt. Die Zahnärzte im NHS hoffen dies offensichtlich auch: Am 19. Juli schickten 1.300 von ihnen einen offenen Brief an den britischen Gesundheitsminister, indem sie ihn auffordern, den Empfehlungen des Ausschusses zu folgen.

Bis es soweit ist, leidet Menschen in Großbritannien weiter unter der desolaten Versorgungssituation im NHS, beklagt die BDA weiter. Das betreffe vor allem auch Kinder. So hätten Untersuchungen 2022 ergeben, dass acht von zehn NHS-Praxen nicht in der Lage waren, neue Kinderpatienten aufzunehmen. In einigen Teilen Englands warten Kinder zudem bis zu 18 Monate auf zahnärztliche Eingriffe unter Vollnarkose. Dabei geht es hauptsächlich um Extraktionen völlig zerstörter Zähne.

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