Dental-Anthropologie

Zähne als Spuren der Vergangenheit

Sie dienen nicht nur der Zerkleinerung unserer Nahrung. Schöne, gesunde Zähne stehen gemeinhin für Attraktivität und Erfolg. Über die Zahnmedizin hinaus sind die Zähne schon lange Gegenstand eines facettenreichen interdisziplinären wissenschaftlichen Dialogs, sei es auf dem Gebiet der Evolutionsforschung oder bei der Rekonstruktion der Lebensweise und Lebensbedingungen unserer Vorfahren.

Das heutige Gesicht der Welt ist im Wesentlichen das Ergebnis der letzten 500 Jahre. Bereits vor dem Ende des Mittelalters tritt mit dem Zeitalter der Entdeckungen und Erfindungen, Expeditionen und Weltumseglungen ein grundlegender Wandel auf fast allen Ebenen des Lebens ein. Mit exakten Beobachtungen und Messmethoden sowie neuen Ideen eröffnen sich neue Horizonte und etablieren sich nach und nach die modernen Naturwissenschaften. Es ist erstaunlich, dass, bei einer Generationsdauer von 25 Jahren, gerade einmal 20 Generationen dieses Werk vollbracht haben. Erste naturphilosophische Betrachtungen beginnen natürlich bereits in der Antike. Sie gehen auf Thales von Milet (624-546 vor Christus) und andere vorsokratische Denker zurück. Mit ihnen beginnt der Mensch der Antike sich vom Mythos, der bis dahin die Sicht auf die Welt bestimmt hat, zu lösen und dem Logos (griechisch: Sinn, Vernunft, Argument) zuzuwenden. Inzwischen hat sich die Wissenschaft auf allen Gebieten – auch in der Zahnmedizin – in viele Subdisziplinen aufgespalten, die ihrerseits fast das gesamte Methodenspektrum der Naturwissenschaften nutzen. Den praktisch tätigen Zahnmedizinern sind diese Zusammenhänge nicht verborgen, aber doch eher fremd. Dieser Beitrag eröffnet nun die Gelegenheit, einmal die Rückseite der Medaille, das heißt die vom lebenden Patienten losgelöste Seite der Zahnmedizin, näher in Augenschein zu nehmen.

Zahnforschung in der Scientific Community

Das Thema Zähne beschränkt sich schon lange nicht mehr allein auf die Zahnmedizin, sondern spielt heute in Politik, Wissenschaft und Wirtschaft eine wesentliche Rolle. Nicht zuletzt angesichts der enormen Kostenexplosion im Gesundheitswesen stellt die Erhaltung der Zähne bis ins hohe Alter eine Herausforderung dar. Das renommierte 14. Internationale Symposium Dental Morphology führte im August 2008 erstmals Zahnmediziner und Dental-Anthropologen auf dem Gebiet der „Zahnforschung“ zusammen.

Nachdem die Bedeutung der Zähne als außergewöhnliche Informationsquelle über die Vergangenheit erkannt war, wurden fossile und prähistorische Überreste des Menschen Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Aufgrund ihrer Widerstandsfähigkeit erhalten sich Zähne häufiger als andere anatomische Strukturen des Skeletts im Boden. Bereits zum Ende des 19. Jahrhunderts erschien eine Vielzahl von Untersuchungen zur Ontogenese (Mikroevolution) und Phylogenese (Makroevolution), in denen vor allem Grundlagen der Anatomie, der Morphologie und der Histologie der Zähne erarbeitet wurden [siehe Übersicht in: Alt & Türp 1997]. Auf diesem Gebiet waren auch deutsche Forscher bis in die 1960er Jahre hinein sehr aktiv [Remane, 1960; Keil, 1966; Peyer, 1968].

Im Jahre 1965 etabliert sich dann die außerklinische Zahnforschung mit dem 1. Symposium in Fredensborg, Dänemark, zum Thema Dental Morphology in der internationalen Scientific Community. Seither fanden zu diesem Thema Veranstaltungen im Rhythmus von drei Jahren an diversen europäischen Standorten statt. Das letzte Mal im Jahr 2008 in Greifswald [Koppe et al., 2009].

Dentale Anthropologie in der Gegenwart

Die breite Verankerung der Dental-Anthropologie im heutigen Wissenschaftssystem wird durch ein breit gefächertes Schrifttum widergespiegelt [Alt, 1997; Alt et al., 1998; Hillson, 1996; Kelley & Larsen 1991; Lukacs, 1993; Lucas, 2004], das Anknüpfungen in fast alle Bereiche der Zahnmedizin zeigt. In der Grundlagenforschung, beispielsweise bei den Mikrostrukturen und bei der Biomechanik, hat die Dentale Anthropologie inzwischen der Zahnmedizin den Rang abgelaufen [Bailey & Hublin 2007].

Erhaltungsbedingt stehen in den Disziplinen, die sich mit menschlichen Fossildokumenten auseinandersetzen (Paläoanthropologie, Paläontologie), oft primär einzelne Zähne oder Kieferfragmente zur Rekonstruktion der frühen Menschheitsgeschichte zur Verfügung. Hier kommt den Zähnen eine Schlüsselrolle zu, weshalb von „Dental Species“ gesprochen wird. Vom Quellenmaterial her umfangreicher wird es in den jüngeren Phasen der Menschheitsgeschichte vor etwa 10 000 Jahren und früher. Nunmehr bilden die Überreste ganzer Gemeinschaften (niedergelegt in Gräberfeldern) die Arbeitsgrundlage für die Rekonstruktion früherer Bevölkerungen.

Das Informationsspektrum der Zähne

Zähne sind Indikatoren biologischer und kultureller Prozesse. Sie liefern Daten zu Alter und Geschlecht eines Individuums, gestatten, Krankheiten der Kiefer und Zähne zu diagnostizieren und erlauben Auswertungen in chronologischer, regionaler und sozialer Hinsicht. Dadurch erhellen sie die Lebensweise und die Lebensbedingungen früherer Bevölkerungen. Morphologische, molekular- genetische sowie biogeochemische Analysen liefern darüber hinaus differenzierte Erkenntnisse über Verwandtschaftsverhältnisse (Familien) innerhalb und zwischen verschiedenen Bevölkerungsstichproben (Populationsdynamik). Zuletzt gestatten Zähne Aussagen zum Ernährungsverhalten, zur Art der aufgenommenen Nahrung (Proteine, Kohlenhydrate), zu Herkunft und Mobilität sowie zum Migrationsverhalten von Bevölkerungen, und liefern Rückschlüsse über Hygieneverhalten und therapeutische Maßnahmen sowie über das Vorkommen von artifiziellen Veränderungen.

Nicht allein Form und Größe, Struktureigenschaften sowie Krankheiten und Anomalien der Zähne liefern dabei Informationen über das Leben unserer Vorfahren. In jüngster Zeit hat sich auch auf der Ebene der Moleküle und Elemente ein Fenster in die Vergangenheit geöffnet. Für molekular-genetische Analysen eignen sich grundsätzlich alle organischen Gewebe, bevorzugt aber das Dentin, da die Zähne bei Bodenlagerung relativ geschützt in ihren Alveolen liegen und äußeren Einflüssen weniger stark ausgesetzt sind. Der Zahnschmelz dagegen repräsentiert als Archiv der Kindheit, den geochemischen Fingerprint der Region, in der die Zähne gebildet wurden, das heißt, wo die Menschen geboren und aufgewachsen sind. Verlassen sie im Kindesalter den Geburtsort, sorgt der Metabolismus dafür, dass sich die Körpergewebe geochemisch an die neue Region anpassen, mit Ausnahme des Zahnschmelzes, der keinen Metabolismus aufweist und einmalig gebildet wird. Somit kann aus einem Vergleich von Knochen und Zahnschmelz oder Zahnschmelz und lokaler Fauna auf Mobilität zu Lebzeiten geschlossen werden.

Der methodische Ansatz, klassisch anthropologische (morphologische), molekulargenetische und biogeochemische Analysen an Zähnen in einem interdisziplinären Forschungsteam zu bearbeiten, ist in der Arbeitsgruppe Historische Anthropologie und Bioarchäometrie am Institut für Anthropologie der Universität Mainz (Leitung: Kurt W. Alt) realisiert. In einer Vielzahl drittmittelgeförderter nationaler und internationaler Projekte wird dort an Bevölkerungsstichproben aus unterschiedlichsten Epochen der Zeitgeschichte (Neolithikum, Eisenzeit, Frühmittelalter, Mittelalter) die Vergangenheit erforscht. In enger Zusammenarbeit mit der Archäologie, die einen unverzichtbaren Partner darstellt, konnten in den letzten Jahren international herausragende Ergebnisse erzielt werden [Alt et al., 2007; Haak et al., 2005, 2008; Meyer et al., 2008]. Das Time Magazine sieht die letzten Forschungsleistungen der Arbeitsgruppe unter den Top Ten der wissenschaftlichen Erkenntnisse von 2008 [Haak et al., 2008].

Zahnerkrankungen von früher und heute

Im Rahmen des vorliegenden Beitrags kann nur ein Forschungsergebnis aus der Arbeitsgruppe thematisiert werden. Gesundheit und Krankheit sind Begleiter des Menschen auf seinem Weg durch die Geschichte. Unheilbaren Krankheiten wie zum Beispiel malignen Tumoren und Seuchen wie Pest und Cholera waren alle Menschen früher gleichermaßen ausgeliefert. Ob jemand früh verstarb, wie die meisten Mitglieder der Gesellschaft, war allerdings auch abhängig von der persönlichen Konstitution, der individuellen Lebensführung, den Selbstheilungskräften des Körpers, den wirtschaftlichen Verhältnissen (Ernährung, Wohnung) und dem Zugang zu zeitgenössischer Heilkunde. Zu den häufigsten Erkrankungen der Mundhöhle zählten – ähnlich wie heute – Karies und parodontale Erkrankungen. Im Unterschied zur Gegenwart beeinflusste auch die Abrasion (neben Attrition und Erosion) – die heute kaum noch Bedeutung besitzt – die orale Gesundheit [Mays, 1998; Miles, 1963]. In exzessiv verlaufenden Fällen führte der Abrieb der Zähne zu einer Eröffnung der Pulpahöhle (Pulpa aperta). Die nachfolgende Infektion des Pulparaumes bewirkte – zumindest in früheren Zeiten ohne zahnärztliche Intervention – ein Absterben des Zahnes und dessen Zerfall bis zum Verlust.

Ursachen und Folgen oraler Infektionen

Entzündliche Erkrankungen im Zahn-, Kiefer- oder Gesichtsbereich sind im Alltag (prä-)historischer Bevölkerungen allgegenwärtig, während sie sich in der zahnärztlichen Praxis – zumindest in den Industrieländern – aufgrund einer frühen Diagnosestellung und erfolgreicher therapeutischer Eingriffe kaum noch beobachten lassen. Vor allem als Folgeerscheinungen einer Karies profunda mit Pulpa aperta und einer Infektion des Zahnmarks waren akut entzündliche   und eitrige Abszesse früher nicht selten: daraus resultierten radikuläre Zysten und periapikale Granulome [Wood, 1984, Eckert, 1999]. Phasen weitgehender Symptomfreiheit wechselten sich mit akut entzündlichen Krankheitsbildern ab. Bei verminderter Abwehrlage konnte es jederzeit zur Exazerbation sowie zu oralen Abszessen mit eitrigen Einschmelzungen kommen. Diese manifestieren sich am Alveolarknochen in (meist) vestibulär lokalisierten Kortikalisdefekten und Fistelgängen (Abbildung 5). Bei Kenntnis der Klinik dieser Erkrankungen und durch Anwendung von Röntgentechniken können die vorgefundenen Veränderungen differenziert werden. Die Folgen einer durch einen kariösen Zahn verursachten Entzündung im Kiefer sind heutzutage in der Regel gut zu beherrschen. Der betroffene Zahn wird – falls er erhalten werden kann – therapiert. Ist es jedoch infolge verspäteten Therapiebeginns bereits zu einem Abszess gekommen, kann gezielt mit Medikamenten (Antibiotika) eingegriffen und können gegebenenfalls klinische Maßnahmen angeschlossen werden, anders als in der Vergangenheit.

Infektionsdisposition und Entzündungsausbreitung

Kam es vor Einführung der Antibiotika Mitte des 20. Jahrhundert als Folge einer apikalen Ostitis zum Beispiel zu einem subperiostalen Abszess, so konnte dies, je nach Allgemeinzustand eines Patienten, zu erheblichen gesundheitlichen Störungen führen. Blieb die ärztliche Therapie des Abszesses aus – damals die Regel – konnte sich der Abszess in die weitere Umgebung (etwa in die Wange, die Kieferhöhle oder die Orbita) ausbreiten (Abbildung 6). Dabei bestand als Komplikation die Gefahr des Übergreifens auf den gesamten Körper (Allgemeininfektion, Sepsis), wodurch lebensbedrohliche Zustände bis zum letalen Ausgang möglich waren. Die Infektionsdisposition für vergangene Zeiten ist schwierig zu beurteilen. Bei schon normal schwierigen Lebensverhältnissen werden sich erst recht in Kriegs- und Hungerzeiten Mangelerscheinungen ausgebreitet haben, welche die Abwehr schwächten und die Konstitution eines Individuums herabsetzten. Orale Erkrankungen mit Entzündungsfolge können sich unter diesen Umständen zu fulminant verlaufenden auf- oder absteigenden Infektionen im Kopfbereich entwickeln. Ohne klinisch-chirurgische Intervention (etwa Tracheotomie, Inzision) eines fortgeleiteten Abszesses kann es zu lebensgefährlichen Mediastinal- oder Pleuraempyemen oder Hirnabszessen kommen. Ohne die notwendige Intensivbehandlung (Antibiotika) werden solche Ereignisse häufig letal verlaufen sein. Dass dies trotz aller ärztlichen Kunst auch für die Gegenwart nicht ausgeschlossen werden kann, verdeutlichen folgende Aussagen des bekannten Kieferchirurgen R. Trauner [1972, 379]: „Der Orbitaabszess ist von der Thrombose des Sinus cavernosus zu unterscheiden und verursacht eine Protrusio bulbi. … Als Behandlung kommen hohe Dosen von Antibiotika in Frage. Meist schließen sich aber die Anzeichen einer eitrigen Meningitis an (zum Beispiel Nackensteifheit, Benommenheit, sehr hohe Temperaturen, und anderes mehr). Dann erlahmen auch bald das Herz und die Gefäße. Der Patient ist nicht zu retten. …. Die zweite tödliche Gefahr ist der massive Einbruch der Eitererreger in die Blutbahn, … entweder im Gebiet der Vena angularis oder im Plexus venosus pterygoideus. Es entstehen metastatische Abszesse in der Lunge und an anderen Körperstellen.“

Gesundheitsrisiko Zahn und Mundhöhle

Die Risikoabwägung von Zahnerkrankungen sollte nicht ausschließlich den eher seltenen Fällen von fortgeleiteten oralen Abszessen gelten, wobei deren Ausbreitung in die weitere Umgebung und die denkbaren Folgen im Vordergrund stehen. Das Gesundheitsrisiko durch chronische Entzündungsherde ist grundsätzlich kritisch zu hinterfragen. Oral kommen dafür neben den Folgeerscheinungen der Karies vor allem die Parodontopathien infrage. Zweifellos war in der Vergangenheit ein hoher Bevölkerungsanteil mit unterschiedlichen Entzündungen in der Mundhöhle dauerhaft belastet. Damit in Verbindung stehende Bakterien, Gifte, Eiweißabbauprodukte und Allergene streuen bei Entzündungen kontinuierlich in die Blutbahn und rufen dort Immunreaktionen hervor. Daher werden die chronischen Entzündungen inzwischen für eine ganze Reihe von Erkrankungen als alleinige Ursache oder begünstigende Faktoren vermutet. Für die Vergangenheit ist anzunehmen, dass für nicht wenige Menschen die chronischen Entzündungen Ursache (Abszesse) oder zumindest Auslöser für eine ganze Anzahl an Erkrankungen waren, die gelegentlich sogar zum Tode führten.

Verstorben an Zahnfieber

Auch die hohe Säuglingssterblichkeit vergangener Zeiten war alltägliche Wirklichkeit für Eltern und Verwandte. Von 100 lebend geborenen Kindern erreichten im Deutschland des 18./19. Jahrhunderts nur 60 bis 80 das Erwachsenenalter. Unter den Ursachen, die für den frühen Tod der Säuglinge verantwortlich gemacht werden, befindet sich neben anderen Erklärungen wie Ernährung, Stillverhalten, hohes Infektionsrisiko häufig die (erschwerte) erste Dentition [Alt 2002]. Nach Weber [1865] ist „der Ausbruch der Milchzähne … mit einer empfindlichen Schwellung des Zahnfleisches verbunden … Diese Entzündung kann von Fieber, Durchfall … leichten cerebralen Symptomen begleitet sein, … die letzteren machen das sogenannte Zahnfieber zu einem keineswegs gleichgültigen Zustande … In einzelnen … Fällen kann … Entzündung zu einer Periostitis der Kiefer, namentlich der Oberkiefer führen, die ... der Noma ähnliche brandige Zerstörungen bedingen kann. In solchen Fällen schwillt die Wange … phlegnonös auf, die Lider verschwellen, … schafft man nicht dem unter dem Periost gebildeten Eiter durch … Einschnitte einen Ausweg, so kann die Wange brandig werden, die Kiefer nekrotisch verloren gehen.“

Nach Gapka [1971,14] ist hier die früher häufig foudroyant verlaufende Osteomyelitis der Zahnkeime in das Krankheitsbild der ersten Dentition einbezogen worden. Diese sei aber keinesfalls Ursache der Zahnungsbeschwerden, sondern, zumal auf den Oberkiefer beschränkt, Ausdruck frühkindlicher rhinogener Infekte, die auf das Zahnkeimlager und die Orbita übergreifen und lebensbedrohliche Zustände hervorrufen konnten. Und weiter heißt es bei ihm, dass sich erst in jüngster Zeit die Tendenz durchgesetzt habe, in der ersten Dentition einen normalen physiologischen Vorgang wie bei der Geburt oder Menstruation zu sehen. Wie bei diesen natürlichen Vorgängen unerfreuliche und schmerzhafte Begleiterscheinungen aufträten, gebe es diese in der Form einer Dentitio difficilis auch bei der ersten Dentition. Sie seien auf jeden Fall therapiebedürftig, blieben mitunter nicht lokal beschränkt und könnten das Allgemeinbefinden der Kleinkinder erheblich beeinträchtigen [Weber, 1865]. In der „Vorantibiotikaära“ seien diese Zahnungsbeschwerden häufig letal verlaufen, weshalb sich in Kirchenbüchern häufig die Eintragung „verstorben an Zahnfieber“ findet [Süßmilch, 1761]. Trotzdem war die Mortalität der Säuglinge – entgegen der Einschätzung vieler Zeitgenossen – nicht ausschließlich „widerfahrene Biologie“, das heißt eine von Menschen unbeeinflussbare Größe, sondern eine Determinante der Bevölkerungsentwicklung, die, im Wechselspiel mit demographischen sowie wirtschaftlichen und sozialen Faktoren, in hohem Grad historischer Bedingtheit unterlag [Kloke, 1998].

Im Kontext dieses Beitrags ist festzuhalten, dass zwar nicht an den hohen Zahlen für die Säuglingssterblichkeit zu zweifeln ist, dass aber die in den Zusammenhang mit dem Zahnen gestellte Todesursache nicht zutrifft. Es handelt sich um allgemeine (meist rhinogene) Infektionen, an denen die Kinder versterben, die zufällig mit dem Zahnen auftreten. Wegen der besonderen anatomischen Verhältnisse im Kiefer- und Gesichtsbereich bei Kindern, können sich Infektionen hier über die noch kaum ausgebildete Kieferhöhle des Säuglings rasch und ohne Schwierigkeit in die Orbita und auf den Oberkiefer (Zahnkeimlager) ausbreiten und eine Zahnkeimosteomyelitis hervorrufen. Entzündungen in diesem Bereich können sich dann häufig verhängnisvoll bis letal auswirken. Es steht außer Zweifel, dass rhinogene Infektionen sowie Magen-Darmstörungen früher wie heute zu den häufigsten Ursachen für Erkrankungen im Kindesalter zählen. Die Folgen dieser Erkrankungen stellen zusammen mit der Fehlernährung wahrscheinlich über die gesamte Menschheitsgeschichte hinweg gesehen eine gefürchtete Quelle für die permanent hohe Säuglingssterblichkeit dar. Neben der Zahnkeimosteomyelitis, die ohne den Einsatz von Antibiotika lebensbedrohliche Zustände hervorrufen kann, ist Ähnliches auch für den Befall des Mittelohres anzunehmen [Carlie-Thiele, 1996].

Univ.-Prof. Dr. Kurt W. AltFachbereich BiologieInstitut für AnthropologieJohannes Gutenberg-Universität MainzColonel Kleinmann Weg 2D - 55128 MainzTel. +49 6131 39 22242Fax +49 6131 39 25132altkw@uni-mainz.de

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