Aufsuchende Zahnmedizin

Der gut organisierte Hausbesuch

Viele Kollegen zögern noch, wenn es darum geht, die Praxisräume zu verlassen, um zusätzlich mobil zu therapieren. Oft werden Aufwand und Risiko als zu hoch und die Wirtschaftlichkeit als zu gering eingeschätzt. Dieser Beitrag erläutert, wie die aufsuchende Behandlung – gegebenenfalls unter Abschluss eines Kooperationsvertrags mit einer Pflegeeinrichtung – praktisch gut organisiert und damit auch wirtschaftlich darstellbar wird.

Wo liegen die Schwierigkeiten, was kann überzeugen und wie gehe ich konkret vor, wenn ich die Praxis verlasse, um mobil tätig zu werden?

Der Erstkontakt

Der Erstkontakt mit Patienten, die eine Zahnarztpraxis nur schwer aufsuchen können, ist regelmäßig am Telefon. Meist rufen betreuende Angehörige, ambulante Pflegedienste oder Mitarbeiter einer stationären Einrichtung (Seniorenheim) an und bitten um Hilfe. Sinnvoll ist, für solche Situationen eine Checkliste vorzubereiten (Kasten). Wer ruft an? So kann gleich die Anforderung dokumentiert werden, die später bei der Abrechnung des Zuschlags wichtig ist. Hat der Patient einen Betreuer oder einen Bevollmächtigen? Davon muss in aller Regel ausgegangen werden. Der Kontakt zu jenen ist unabdingbar, da die Behandlung ohne Einwilligung den Straftatbestand der Körperverletzung darstellen kann. Häufig nehmen alte und sehr alte Patienten regelmäßig viele Medikamente ein, die dem Behandler oft unbekannt oder für ihn nicht einschätzbar sind. Ein interdisziplinärer Kontakt insbesondere mit dem Hausarzt ist nützlich – hat er doch in aller Regel Kenntnis über alle verordneten Medikamente. Auch hier hat sich eine Checkliste bewährt: Per Fax als Konsil ergibt sich schnell, fast immer am Folgetag, und ohne Wartezeiten am Telefon ein erster Überblick.

Sehr hilfreich zur Einschätzung der Wechselwirkungen der Medikamente und zur Berücksichtigung bei der zahnärztlichen Therapie hat sich das von Ulrich Pauls speziell für Zahnärzte entwickelte Programm MIZ erwiesen: Zusammenfassend kann hier eine Beurteilung der Medikation vor dem zahnärztlichen Therapiebeginn vorgenommen werden ( www.mizdental.de ).

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Konzepte zur Behandlung

Regelmäßig erscheint die mobile Behandlung konzeptlos und unorganisiert. Gerade wenn Zähne vorhanden sind, ergibt sich regelmäßig ein therapeutisch schwer zu fassendes Bild. Viele Faktoren spielen bei der Therapiewahl eine Rolle: In welchem Stadium befindet sich der Patient? Gehört er noch zu den Senioren, die „fit“ sind, ist er bereits eingeschränkt (ein „Slow Go“) oder befindet er sich in der palliativen Endphase des Lebens? Keine Altersgruppe ist so inhomogen wie die der Senioren. Eine Gliederung beispielhaft nach Ampelfarben (Kasten) ist hilfreich:

• Bei „grünen“, fitten Patienten ist eine Überführung der Behandlung in die Praxis angebracht. Hier ist das gesamte Therapiespektrum der Praxis abrufbar.

• Bei den „gelben“, immobilen Älteren stellt der Transport in die Praxis oft eine sehr hohe physische und psychische Belastung für den Patienten dar. Eine Behandlung vor Ort kann dann zielführender sein. Hier steht die Erhaltungstherapie der vorhanden Strukturen im Vordergrund: Eine Modifikation des schon seit Jahrzehnten getragenen Zahnersatzes (doublieren, unterfüttern oder erweitern) ist bei nachlassender Adaptationsfähigkeit oft tragfähiger als eine Neuanfertigung. Durch einfaches Screening (PSI) kann in über 80 Prozent der Fälle ein parodontaler Handlungsbedarf festgestellt werden und damit eine unterstützende Parodontitistherapie (UPT) vor Ort indiziert sein.

• Bei dem geriatrischen Lebensabschnitt der Pflege, den „roten“ Patienten, ist das Krankheitsbild oft gezeichnet durch Polypharmazie und Multimorbidität. Hier bleibt regelmäßig nur noch ein palliativer, rein symptomatischer Ansatz. Ein Transport in die Praxis findet in aller Regel nicht mehr statt. In erster Linie geht es um Schmerzbeseitigung und Schleimhautkonditionierung, die Entfernung von Borken durch rückfettende oder schäumende Lösungen, Spülungen mit Fencheltee, das Glätten von Wurzelresten oder die Beseitigung von Druckstellen. Dieses präfinale Stadium zu unterstützen und die letzten Tage oder Stunden eines Lebens so angenehm und schmerzlindernd wie möglich zu gestalten, ergibt sich ethisch-moralisch aus unserem Berufsbild fernab jeder wirtschaftlichen Hinterfragung.

Nach dieser Gruppeneinteilung können sich zum Beispiel Hinweise ergeben, ob Wurzelreste entfernt werden sollten oder nicht. Bei einem „grünen Patienten“ wird sich nach Zustimmung des Betreuers nichts vom Vorgehen in der Praxis unterscheiden. Bei einem „gelben Patienten“ erscheint ein klinisch symptomfreier Wurzelrest gegebenenfalls tolerierbar. Eine Extraktion erschließt sich hier eher bei Beschwerden mit entsprechender Symptomatik oder mit Gefährdungspotenzial. Bei „roten Pflegebedürftigen“ verbleiben demnach Wurzelreste regelmäßig in situ, wenn nicht mit einer fast bevorstehenden Autoextraktion gerechnet werden kann. Eine weitere übersichtliche Einteilung nach Belastbarkeit der Senioren zur besseren Planung und Therapie ergibt sich nach dem Schema der funktionellen zahnmedizinischen Kapazität [Nitsche, 2012].

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Wie viel Behandlung will ich?

Mobil tätige Zahnärzte behandeln sehr unterschiedlich. Manchen Kollegen nehmen beim Hausbesuch lediglich Befunde auf, stellen Diagnosen und therapieren nur Basics wie Druckstellenentfernung, Mundbehandlungen oder geben Mundhygieneanweisungen unabhängig von der funktionellen Kapazität des Aufgesuchten. Die Patienten werden dann zur weiteren Behandlung in die Praxis überführt. Andere Kollegen nehmen auch einfache chirurgische Interventionen (Extraktionen, Abszessspaltung), Füllungstherapien bis hin zu aufwendigen Teleskopkronenpräparationen außerhalb der Praxis vor. Dieser hohe Aufwand sollte aber lediglich den Patienten vorbehalten sein, die nur mit größter Mühe oder gar nicht mehr mobilisiert werden können oder die derart in der Alltagskompetenz eingeschränkt sind, dass ein Praxisbesuch praktisch unmöglich ist („gelbe Patienten“). Die Therapie kann dabei dem Grundsatz der drei „s“ – simple, save, solid – folgen. Regelmäßig stößt man dabei an seine individuelle Grenze der Machbarkeit vor Ort und sollte sich fragen, was besser in der Praxis oder sogar in Intubationsnarkose erfolgen sollte.

Auch müssen Komplikationen berücksichtigt werden, die ein weiteres Vorgehen in der Praxis und einen damit verbundenen Transport erfordern können. Extrahiere ich zum Beispiel einen Zahn im Oberkiefer bei einem Hausbesuch, muss ich mit einer Mund-Antrum-Verbindung rechnen. Eine plastische Deckung im Wohnzimmer des Patienten ist dann wohl wenigen Kollegen vorbehalten, so dass die weitere Behandlung organisiert werden muss.

Alles gründlich gepackt?

Bevor die Behandlung außerhalb der Praxis startet, sollte gründlich geplant und gepackt werden. Nichts ist nerviger, wenn zum Beispiel bei einer geplanten Füllungstherapie der Primer oder die UV-Lampe vergessen wurde. Für jeden geplanten Behandlungsfall ist es praktisch, eine Inventarliste zu erstellen und alles Benötigte in eine Tasche in Form einer Labortüte – oder besser einer verschweißten Sterilguttüte – zu packen. So wird weniger vergessen: Instrumentarium und Material werden für jeweils einen Patientenfall verpackt, immer unter Berücksichtigung der RKI-Richtlinien.

Zum Transport haben sich stapelbare Plastik-Container-Systeme durchgesetzt, die gut flächendesinfizierbar und in „rein“ und „unrein“ oder Abwurfcontainer getrennt werden können.

Man sollte sich immer darüber im Klaren sein, dass im Fall der mobilen Therapie keine mildernden Umstände zum Tragen kommen und hinsichtlich der Hygiene dieselben Anforderungen wie in der Praxis gelten. Kritiker der mobilen Therapie bezweifeln regelmäßig die „Hygienefähigkeit“.

Zweifellos gibt es vergleichbare Einsätze in der Notfallmedizin: hygienisch machbar und alternativlos. Teamwerk in München, ein Modellprojekt für die zahnmedizinische Betreuung von älteren Menschen, hat mobile zahnmedizinische Behandlungspfade vom Referat Gesundheit und Umwelt (RGO), Abteilung Krankenhaushygiene, begleiten lassen. Dabei erschien – mit klaren machbaren Vorgaben ähnlich wie in der Praxis – die aufsuchende Betreuung hygienisch darstellbar [Gleich, 2009].

Abhängig vom Behandlungsumfang können tragbare Absaug -und Kompressorsysteme mitgeführt werden. Abzuwägen bleibt dabei immer zwischen dem Investitionsaufwand (zwischen 6.000 und 10.000 Euro), dem Gewicht (bis zu 20 kg) und der Frequenz des Einsatzes. Prophylaxemaßnahmen und eine einfache mobile Therapie sind auch mit einem aufladbaren Mikromotor mit Universalkupplung zur Aufnahme eines Technikhandstücks oder Winkelstücks ausreichend durchführbar. Ohne Absaugvorrichtung können Spülflüssigkeiten auch mit Nierenschale aufgefangen werden.

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Essenzielle Prophylaxe

Die medizinische Sinnhaftigkeit von Prophylaxeprogrammen ist eindrucksvoll belegt [Axelsson, 2004]. Mit einem Anteil von 38,5 Prozent aller Privatleistungen ist die professionelle Zahnreinigung (GOZ 1040) auch ein entscheidender wirtschaftlicher Faktor für die Zahnarztpraxis geworden [Mund, 2014].

Ist das übertragbar auf Pflegebedürftige außerhalb der Praxis? Unbedingt: Gerade in der aufsuchenden Betreuung erscheint dies medizinisch besonders wichtig [Zenthöfer, 2013]. Denn als Kardinalprobleme stellen sich in der Seniorenzahnmedizin folgende drei Punkte dar:

• Der freiliegende kompromittierte Zahnhals und damit die Gefahr der Wurzelkaries ist deutlich erhöht. Die Kariesanfälligkeit ist um 29,5 Prozent erhöht [Micheelis, 2006].

• Die Mundhöhle ist die größte Eintrittspforte für Keime und Bakterien. Eine hohe Keimbelastung bei gleichzeitiger reduzierter Abwehrlage oder Multimorbidität verstärkt die allgemeinmedizinischen Gefahren wie absteigende Candidosen, Pulmonien, Herzinfarkt und Schlaganfall.

• Mundtrockenheit: Jeder zweite Senior hat hier Symptome, oft missverstanden als Alterserscheinung, stellt sie sich sehr oft als ernst zu nehmende Erkrankung, als Nebenwirkung zahlreicher Medikamente dar [Schellerer, 2003].

Zentral ist die Stabilisierung der Mundhygiene

Gerade die Therapie und die Vermeidung dieser Aspekte stehen im Fokus der Prophylaxe. Alle therapeutischen Bemühungen haben sonst „sisyphalen“ Charakter: So schnell kann nicht gebohrt und gefüllt werden, wenn kein Vorsorgekonzept etabliert ist, das die Mundhygiene stabilisiert. Daher ist es äußert sinnvoll, eine fortgebildete Prophylaxe-Fachkraft in das mobile Konzept einzubauen und zum Beispiel regelmäßig vor Ort eine auf die Senioren abgestimmte unterstützende Parodontitistherapie durchführen zu lassen. Eine Prophylaxesitzung kann dabei nach dem Zyklus von Axelsson [2004] gegliedert werden und bedarf beispielhaft nur einer übersichtlichen Menge an Instrumentarium und Material (Kasten).

Richtungsweisend sind dabei auch das Versorgungstärkungsgesetz und die Anspruchsberechtigung im Paragraf 22a des SGB V. Hier werden erstmals ab 2017 im BEMA Propyhlaxeleistungen für Senioren mit Pflegegraden festgeschrieben, ähnlich den IP-Positionen bei Kindern und Jugendlichen. Für Diskussion sorgt dabei immer wieder die Delegation oder gar Substitution von zahnmedizinischen Leistungen an die fortgebildete Zahnmedizinische Fachangestellte.

Hingewiesen sei dabei auf die entsprechende Stellungnahme der DGAZ: „Multimorbide Menschen sind Hochrisikopatienten und wir arbeiten im Hochrisikogebiet Mundhöhle“, so Dr. Elmar Ludwig von der Zahnärztekammer Baden-Württemberg. Vor diesem Hintergrund erscheint es problematisch, gerade bei dieser empfindlichen Klientel Pilotprojekte in Richtung Selbstständigkeit der Assistenzberufe zu starten.

Mit der mobilen Therapie ist eine Schulung der Pflegekräfte oder der Angehörigen unerlässlich. Oft besteht hier ein mangelndes Problembewusstsein. Bei der Fülle der Aufgaben und der Belastung gerade bei schwerwiegenden Pflegefällen erscheint die Mundhygiene verständlicherweise marginal.

Zusammenhänge zur Allgemeingesundheit sind darzustellen, aber auch der deutliche Benefit an konkreten Beispielen: Bei gesundem Zahnfleisch und einer schmerzfreien Mundhöhle lässt sich schneller die Nahrung anreichen, so dass sogar Zeit in der Pflege gewonnen werden kann. Oder aber mit welchen Handgriffen und welchen Hilfsmitteln wird die Mundhygiene bei demenziell veränderten Pflegebedürftigen machbar? Denn oft wird die Machbarkeit bestritten und ein Versuch mit „Gewalt in der Pflege“ betitelt, so dass hier einfühlsam, aber bestimmt Überzeugungsarbeit geleistet werden muss.

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Besuchsgebühr & Co.

Der Besuch eines gesetzlich versicherten Patienten außerhalb der Praxis wird ohne weitere Folgeleistungen mit circa 75,- Euro vergütet, wenn dieser angefordert ist (Besuchsgebühr, Zuschlag und Wegegeld). Wird ein weiterer Patient aufgesucht, so erhält man für diesen Folgebesuch circa 60.- Euro. Eine Übersicht aller notwendigen Positionen und die abrechenbaren Leistungen sind bei jeder KZV abrufbar und können sich regional unterscheiden. Die Wirtschaftlichkeit ist abhängig von der Anzahl der Patienten pro Besuch und den Folgeleistungen. Wirtschaftlichkeit kann vor allen Dingen durch Regelmäßigkeit und Planung geschaffen werden: Dazu trägt bei, wöchentlich am gleichen Tag im Team mehr als zwei Bewohner aufzusuchen. Dadurch können Synergien geschaffen werden. Und es spricht sich herum, wenn der Zahnarzt in die Senioreneinrichtung kommt: Gleichzeitig können Neupatienten, Reinigungen und Therapien vorgenommen werden. In stationären Einrichtungen können damit durchaus Umsätze erzielt werden, die an die Tätigkeit in der Praxis heranreichen, insbesondere wenn ein Kooperationsvertrag mit der Einrichtung abgeschlossen wird. Der entscheidende Vorteil: Der Besuch ist nicht mehr abhängig von der Anforderung. Sie kommen nicht nur zur Notfallbehandlung – wenn es bereits zu spät ist –, sondern können ein präventives und wirtschaftliches Konzept verwirklichen.

Zahnersatz gilt als wichtiger wirtschaftlicher Faktor in der Zahnarztpraxis. Gerade bei Senioren ist das ein zentrales Thema: Mit 77 Jahren ist der Bedarf an Zahnersatz am höchsten [Schäfer, 2013]. Der vorhandene Zahnersatz in den Einrichtungen ist aber zu 65 Prozent mangelbehaftet [Nitschke, 2000]. Ein Drittel der Prothesen hat einen schlechten Halt [Manojlovic, 2010]. Damit ergeben sich durchaus auch wirtschaftlich interessante prothetische Aufgaben in der aufsuchenden Therapie.

Fazit

Zweifelsohne bleibt es mühsam, wöchentlich den Behandlungskoffer zu packen, zu planen und zu therapieren – nicht selten unter Campingbedingungen. Positiv gewendet stellt die aufsuchende zahnärztliche Betreuung von Bewohnern einer Pflegeeinrichtung aber auch eine durchaus charmante Abwechslung zum täglichen Praxisalltag dar, denn Hausbesuche sind sehr nah an unserem Berufsbild. Hier kann viel Gutes getan werden. Und wirtschaftlich sind sie sicherlich tragbar. Schließlich ist es alles andere als vergeblich, einer besonders hilfsbedürftigen und meist zahnmedizinisch schlecht versorgten Klientel am Rande der Gesellschaft zahnärztlich zu helfen und damit die momentane Lebensqualität dieser Menschen spürbar zu verbessern.

Dr. Dirk Bleiel, Mitglied im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für AlterszahnMedizin (DGAZ)Im Sand 1, 53619 Rheinbreitbach

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