Das Konzept der Salutogenese

Wie wir uns gesund erhalten können

Die Salutogenese dreht die gängige Betrachtungsweise um: Statt zu fragen, was uns krank macht, richtet sie den Blick darauf, welche Voraussetzungen Menschen mitbringen müssen, damit sie sich auch unter Stress gesund erhalten. Das ist keine reine Theorie, im Gegenteil: Der Ansatz bietet dem Zahnarzt völlig neue Möglichkeiten, den Patienten zu mehr Mundgesundheit zu motivieren.

Gerade hat das Institut der Deutschen Zahnärzte (IDZ) die Fünfte Deutsche Mundgesundheitsstudie (DMS V) veröffentlicht – mit einer umfangreichen Dokumentation der zentralen Kennziffern zur aktuellen Karies- und Parodontitislast einschließlich der prothetischen Versorgungssituation bei Kindern und bei jüngeren Erwachsenen sowie bei jüngeren und älteren Senioren [1]. Erstmals wurde dabei im sozialwissenschaftlichen Erhebungsteil für Deutschland der Ansatz der Salutogenese berücksichtigt, der in der internationalen Gesundheitsforschung schon länger viel Beachtung findet.

Dieses Konzept wurde in den 1980er-Jahren von dem israelisch-amerikanischen Medizinsoziologen Aaron Antonovsky entwickelt. Antonovsky stellte die damals völlig neue Frage, wie Menschen in belastenden Situationen ihre Gesundheit bewahren können und welche inneren Voraussetzungen vorhanden sein müssen, um dieses Ziel zu erreichen. Im Gegensatz zur Pathogenese, die sich damit beschäftigt, was Menschen krank macht (Risikofaktoren), rückt die Salutogenese in den Mittelpunkt, was Menschen gesund erhält (Schutzfaktoren). Wenn man so will, also eine Umkehrung der Fragestellung zum Komplex von Gesundheit und Krankheit.

SOC in Prozent 35- bis 44-Jährige

SOC in Prozent 65- bis 74-Jährige

niedrig

mittel

hoch

niedrig

mittel

hoch

Zahnputzmuster:

eher gut

29,1

29,7

37,5

24,2

32,3

40,5

eher schlecht

70,9

70,3

62,5

75,8

67,7

59,5

Inanspruchnahmeverhalten:

beschwerdeorientiert

39,1

27

21.8

14,9

9.2

7,2

kontrollorientiert

60,9

73.0

78.2

85,1

90,8

92,8

Tabelle 1 Quelle: DMS V. 2016

Eine völlig neue Frage: Was macht uns gesund?

Auf der Basis umfangreicher Befragungen von Menschen, die durch extreme Stresssituationen gegangen sind, hatte Antonovsky herausgefunden, dass es einen „Kohärenzsinn“ geben muss, der einem helfen kann, mit Belastungen oder Bedrohungen der eigenen Gesundheit besser fertig zu werden. Er beschrieb diesen „Sense Of Coherence“ (SOC) als die Grundhaltung eines Menschen gegenüber der Welt, die ihn befähigt, mehr oder weniger gut die gesundheitsbelastenden Anforderungen des Lebens zu meistern. Dabei unterschied er aufgrund seiner Forschungen drei Komponenten, aus denen sich diese Grundhaltung speist:

• die Verstehbarkeit von Ereignissen

• die Handhabbarkeit von Ereignissen

• und die Sinnhaftigkeit von Ereignissen

Erst deren inneres Zusammenspiel formt nach Antonovsky die Stärke oder den Grad der Ausprägung des Kohärenzsinns eines Menschen. Als Ergebnis legte die Salutogenese-Forschung einen Fragebogen vor, mit dem sich der SOC eines Menschen messen lässt. Nach einem systematischen Review aus dem Jahr 2005 stellt der SOC-Ansatz gemäß der bisher weltweit vorgelegten Studien ein valides und reliables Erhebungsinstrument dar, um das gesundheitsbezogene Stressmanagement einer Person abzubilden [2].

Dieser Paradigmenwechsel in der Gesundheitsbetrachtung erlaubt nunmehr einen völlig neuen Blick auf das Gesundheits- und Krankheitsgeschehen von Menschen und löste eine Vielzahl von wissenschaftlichen Anwendungen aus, vor denen auch die Zahnmedizin nicht haltmacht: Der SOC wurde zum Beispiel im Jahr 2000 im bevölkerungsrepräsentativen Dental Adult Survey in Finnland systematisch eingesetzt [3] – mit dem Ergebnis, dass die Mundhygienegewohnheiten oder das zahnärztliche Inanspruchnahmeverhalten hier ganz erheblich mit dem SOC beziehungsweise seinem Ausprägungsgrad korrelieren.

Auch in der DMS V zeigt sich für Deutschland, dass sowohl das habituelle Zahnputzmuster als auch die Motive eines kontrollorientierten Zahnarztbesuchs in einem statistisch signifikanten Zusammenhang mit einer starken SOC-Ausprägung stehen. Bedeutsam erscheint vor allem, dass diese Befunde theoretisch sauber im Lichte des Salutogenese-Modells interpretiert werden können und nicht einfach nur statistische Korrelationen beschreiben. Übrigens gelten diese Befunde für die Gruppe der 35- bis 44-Jährigen wie für die Gruppe der 65- bis 74-Jährigen gleichermaßen (Tabelle 1).

Verstehen, handhaben und einsehen können

Antonovsky hatte im Rahmen seiner Forschungen die Verstehbarkeit, die Handhabbarkeit und die Sinnhaftigkeit von gesundheitsbezogenen Ereignissen im Auge. Offenbar führen diese Verarbeitungsmuster zu inneren Einstellungen und lösen Verhaltensweisen aus, die auch für die Zahnmedizin und die orale Präventionsforschung wichtig sind: Wenn das Mundhygieneverhalten und das Inanspruchnahmeverhalten erkennbar vom SOC beeinflusst werden, ergeben sich aus dieser Grundeinsicht auch neue Möglichkeiten der mundgesundheitsbezogenen Kommunikation – in der allgemeinen Bevölkerungsansprache wie auch mit dem individuellen Patienten: nämlich die „Gesundheitsansprache“ nach den Dimensionen der Verstehbarkeit, der Handhabbarkeit und der Sinnhaftigkeit von Informationen im Rahmen der entsprechenden Motivierungsarbeit zu strukturieren.

Salutogenetischer Fokus

Pathogenetische Ergänzung

Stimmigkeit – Kohärenz

Problem – Unstimmigkeit

Attraktive Gesundheitsziele

Vermeidungsziele

Ressourcen

Defizite

Subjekt und Subjektives

Norm

Systemische Selbstregulation – Kontextbezug

Isolierende Analyse – Ursache im Kleinen

Entwicklung und Evolution

Zustand bzw. Entropie

Mehrere Möglichkeiten: sowohl – als auch

Eine Möglichkeit: entweder – oder

Tabelle 2 Quelle: Wikipedia

Natürlich gibt es auch auf dem gerade angesprochenen gesundheitskommunikativen Interventionsfeld im Zusammenhang mit dem SOC weiterhin offene Fragen, beispielsweise wie am wirkungsvollsten vorgegangen werden muss, um die inneren Ressourcen eines Menschen optimal anzusprechen beziehungsweise wachzurufen. Aber die salutogenetische Betrachtungsweise eröffnet doch völlig neue Möglichkeitsräume, indem sie nicht so sehr nach den Risikofaktoren fragt, sondern die Stärkung von Schutzfaktoren – der inneren Ressourcen – ins Zentrum rückt und so einen wichtigen Schritt zum Ausbau der Selbsthilfe potenziale eines Menschen im Zusammenhang mit Gesundheit und Krankheit zu leisten vermag.

Dipl.-Soz. Dr. Wolfgang Micheelis, Köln,sozialwissenschaftlicher Berater der DMS V

Literatur:

[1] Jordan, A. R., Micheelis, W. (Gesamtbearbeitung): Fünfte Deutsche Mundgesundheitsstudie (DMS V). Deutscher Zahnärzte Verlag DÄV, Köln 2016

[2] Eriksson, M., Lindsröm, B.: Validity of Antonovsky´s sense of coherence scale: a systematic review. J Epidemiol Community Health, 2005, 59, 460–466

[3] Bernabe, E., Watt, R. G., Sheiham, A., Suominen-Taipale, A. L., Uutela, A., Vehkalahti, M. M., Knuuttial, M., Kivimäki, M., Tsakos, G.: Sense of coherece and oral health in dentate adults: findings from the finnish Health 2000 survey. J Clin Periodontol, 2010, 37, (11), 981–987

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