Wegbereiter der Zahnheilkunde – Teil 2

Hans Moral – Miterfinder der Lokalanästhesie

Dominik Groß
Hans Moral gehört aus heutiger Sicht zu den produktivsten und innovativsten Wissenschaftlern seiner Zeit. Der jüdische Zahnmediziner war erfolgreicher Ordinarius an der Rostocker Zahnklinik, bis ihn, der viele Jahre unter Depressionen litt, die Nazis in den Selbstmord trieben.

Hans Moral wurde am 8. September 1885 als Sohn der Kaufleute Martin und Lina Moral in Berlin geboren. Nach dem Abitur nahm er 1905 an der Universität München das Studium der Zahnheilkunde auf. Nach einem Semester kehrte er nach Berlin zurück, setzte das Studium hier fort und legte 1908 das Staatsexamen ab.

In Greifswald folgte ein Medizinstudium, das er knapp zweieinhalb Jahre später mit dem Staatsexamen abschloss [Fischer, 1962; Pahnke/Beetke, 1987; Depmer, 1993; Benz, 1997; Schwanewede, 2012; Catalogus Professorum Rostochiensium, 2015].

Noch in Greifswald nahm Moral Verbindung zur zahnärztlichen Abteilung der dortigen chirurgischen Poliklinik unter der Leitung von Guido Fischer auf. Mit Fischers Assistenten Hans Bünte forschte Moral zur Leitungsanästhesie – eine Zusammenarbeit, die 1910 in eine erste gemeinsame Arbeit [Bünte/Moral, 1910] mündete [Fischer, 1962; Pahnke/Beetke, 1987; Depmer, 1993; Benz, 1997; Schwanewede, 2012; Catalogus Professorum Rostochiensium, 2015].

1912 konnte er zudem nahezu zeitgleich zwei themenverwandte Dissertationen abschließen, die zum Dr. med. und Dr. phil. führten [Moral, 1912a; 1912b]. 1912 wurde er Assistent am Zahnärztlichen Institut der Universität Marburg, wechselte aber 1913 an das Zahnärztliche Institut in Rostock, das seit 1910 von Johannes Reinmöller geleitet wurde [Fischer, 1962; Pahnke/Beetke, 1987; Depmer, 1993; Benz, 1997; Schwanewede, 2012; Catalogus Professorum Rostochiensium, 2015].

Bereits im Folgejahr reichte Moral im Alter von nur 28 Jahren seine Habilitationsschrift „Über die Lage des Anästhesiedepots“ ein [Moral, 1914]. Im Juli erhielt Moral die Venia legendi durch die Medizinische Fakultät. Zudem wurde er zum Privatdozenten ernannt [Fischer, 1962; Pahnke/Beetke, 1987; Depmer, 1993; Benz, 1997; Schwanewede, 2012; Catalogus Professorum Rostochiensium, 2015].

Da Reinmöller und dessen erster Assistent Gustav Scharlau 1914 kriegsbedingt abkommandiert wurden, übernahm Moral auf Beschluss der Fakultät am 1. August 1914 als Kommissarius die Leitung der Reinmöllerschen Klinik, einschließlich des Lehrbetriebs und der Forschungsaufgaben. In der Folgezeit verschlechterte sich – vermutlich infolge fortgesetzter Überbelastung [Schwanewede, 2012] – Morals Gesundheitszustand, so dass er den Dekan der Medizinischen Fakultät Mitte Januar 1916 bat, auf Reinmöllers Rückkehr ins Institut hinzuwirken. Doch sein Gesuch blieb unerhört.

Stattdessen wurde er von seiner Fakultät auf Initiative Reinmöllers in Anerkennung seiner Verdienste im Juli 1917 zum Titularprofessor ernannt [Fischer, 1962; Pahnke/Beetke, 1987; Depmer, 1993; Benz, 1997; Schwanewede, 2012; Catalogus Professorum Rostochiensium, 2015].

Als Reinmöller 1920 einem Ruf nach Erlangen folgte, übertrug man Moral offiziell die Institutsleitung und beförderte ihn zum außerordentlichen Professor (Extraordinarius) für Zahnheilkunde an der Universität Rostock. Trotz eines Herzleidens und depressiver Episoden führte er sein Amt erfolgreich aus [Schwanewede, 2012].

Und so wurde ihm 1923 die Position eines ordentlichen Professors zuerkannt. Schon bald gelang ihm dank eingeworbener Mittel von privaten Stiftungen die Eröffnung einer stationären Abteilung. Die Fakultät reagierte auf diesen Erfolg mit einer ungewöhnlichen Geste: Sie verlieh dem erst 39-Jährigen 1924 „in Anerkennung der Verdienste [...] um den Ausbau der Universitäts-Zahnklinik Rostock“ den Dr. med. h. c. [Schwanewede, 2012].

In den 1920er-Jahren folgte der auch international renommierte Moral zahlreichen Einladungen zu Vortragsreisen ins Ausland, wo er weitere Ehrungen entgegennehmen durfte. 1929 wurde Moral überdies zum Dekan der Rostocker Medizinischen Fakultät gewählt. Damit hatte er im Alter von nur 44 Jahren den Höhepunkt – und zugleich den Wendepunkt – seiner Hochschulkarriere erreicht.

Moral litt zunehmend an Kopfschmerzattacken und Depressionen und kündigte im November 1931 einen Suizid an. In Abschiedsbriefen an den amtierenden Dekan und an seinen Oberarzt begründete er seine Lebensmüdigkeit mit anhaltender Migräne und mit persönlichen Anfeindungen. Moral beklagte insbesondere, dass er aufgrund seiner Auslandsreisen des „Vaterlandsverrats“ bezichtigt wurde [Schwanewede, 2012].

Auch wenn er seine Suizidabsicht zu diesem Zeitpunkt noch nicht in die Tat umsetzte, spitzte sich seine Lage weiter zu: Als Jude war er den Anfeindungen der Nationalsozialisten ausgesetzt. So brachen Mitglieder des „Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes“ (NSDStB) in Morals Wohnung ein, um sie zu verwüsten [Depmer, 1993; Schwanewede, 2012]. Moral reagierte am 8. März 1933 mit einem weiteren Abschiedsbrief, in dem er ein düsteres Zukunftsszenario entwarf: „Die Entwicklung in Deutschland geht einen Weg, der  wahrscheinlich zur Folge haben wird, daß man mich aus meinem Lehramt entfernt“ [Schwanewede, 2012].

Moral vollzog den angekündigten Suizid rund fünf Monate später: In der Nacht auf den 5. August 1933 vergiftete er sich mit Zyankali und Veronal. Obwohl er wiederbelebt wurde, kam die Hilfe zu spät: Moral starb am 6. August in Rostock im Alter von 47 Jahren, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben [Schwanewede, 2012].

In der kurzen Zeitspanne von März bis August 1933 hatte Moral erleben müssen, wie sich seine dunklen Vorahnungen erfüllten: So war er bereits am 5. April 1933 durch Gauleiter Friedrich Hildebrandt aufgefordert worden, von seinem Lehrstuhl zurückzutreten, um einer Abberufung durch das Kultusministerium zuvorzukommen. Wenige Tage später, am 13. April, hatte Moral dann auf Druck der Nationalsozialisten um Beurlaubung gebeten und am 14. April weitere – frustrane – Briefe an Rektor und Dekan geschrieben. Hierin hatte er eine „Ehrabschneidung“ beklagt, „die ich nicht ertragen kann“ sowie den Verlust seiner „Existenzmöglichkeit, sodass mir in der Tat nichts anders bleibt, wie aus diesem Leben zu gehen“ [Schwanewede, 2012].

Die Ausreisegenehmigung kam zu spät

Tragischerweise hätte es für Moral einen Ausweg gegeben: Er erhielt einen Ruf nach Belgrad. Und just am 4. August 1933 – dem Tag seines Suizids – war die Genehmigung eingegangen, dass er ausreisen könne. Leider ist nicht überliefert, ob diese Nachricht Hans Moral noch erreichte (und ihm die Kraft fehlte, die Reise anzutreten) oder ob er sich in Unkenntnis dieses Sachstands das Leben nahm [Schwanewede, 2012]. Er war zeitlebens unverheiratet geblieben [Benz, 1997].

Aus heutiger Sicht gehört Hans Moral zu den prägendsten deutsch(sprachig)en Zahnärzten. Diese Perspektive ist allerdings vergleichsweise neu: Wenn diese Reihe in den 1980er-Jahren entstanden wäre, hätte man Moral wohl kaum in die „TOP 20“ der deutschen Zahnmediziner eingruppiert. So fand er weder in Hoffmann-Axthelms „Die Geschichte der Zahnheilkunde“ [1973] noch in dessen „Lexikon der Zahnmedizin“ [1974] überhaupt Erwähnung, obwohl diese Werke Dutzende bedeutender Zahnärzte referieren. Gleiches gilt für Strübigs „Geschichte der Zahnheilkunde“ [1989].

Erst seit dem Ende der 1980er-Jahre richtete sich die Aufmerksamkeit verstärkt auf Moral. Ausgangspunkt dieser neuen Rezeption war Morals Schicksal als Jude und Opfer des Nationalsozialismus [Pahnke/Beetke, 1987; Depmer, 1993; Benz, 1997, Schwanewede, 2012]. Im Zuge der Neubewertung seiner Biografie erweiterte sich der Blick auf seine internationale Bekanntheit und seine wegweisenden Arbeiten, wobei seine Publikationen zu den Grundlagen und zur klinischen Anwendung der zahnärztlichen Anästhesie herausragen [Bünte/Moral, 1910; Moral, 1914; Moral, 1931].

Aus heutiger Sicht ist Moral neben Guido Fischer als Wegbereiter der zahnärztlichen Anästhesie anzusehen – ein Verdienst, das vor der Jahrtausendwende allein Fischer zugeschrieben wurde [Hoffmann-Axthelm 1973; 1974; Strübig, 1989].

Moral veröffentlichte rund 90 Arbeiten. Hierzu zählen Beiträge zu neurologisch-zahnärztlichen Grenzfällen, zu künstlichen Zähnen und zum Themenfeld Fehldiagnosen [Moral, 1927; 1928; 1929]. Er publizierte eine erfolgreiche „Einführung in die Klinik der Zahn- und Mundkrankheiten“ und einen „Atlas der Mundkrankheiten mit Einschluß der Erkrankungen der äußeren Mundumgebung“ [Moral, 1924; 1920/28].

Moral vertrat innovative Lehrkonzepte und führte extrakurrikuläre Lehrveranstaltungen wie „Arbeiten im wissenschaftlichen Laboratorium“ und „Besprechung neuer Arbeiten“ ein [Schwanewede, 2012]. Auch gehörte er zu den international anerkanntesten Fachreferenten seiner Zeit, wie zahlreiche Ehrenmitgliedschaften in zahnärztlichen Vereinigungen auf der ganzen Welt belegen, etwa in Japan, Dänemark, Bulgarien, Italien, Ungarn, Lettland und Polen [Schwanewede, 2012].

Im Nachkriegsdeutschland schien Moral zunächst wie viele Opfer des Nationalsozialismus dem kollektiven Gedächtnis entrückt zu sein. Mit der Wiedervereinigung sollte sich dies ändern: 1991 wurde im Foyer des Hauptgebäudes der Universität Rostock eine Gedenktafel angebracht, die an Hans Moral und an andere Opfer des „Dritten Reiches“ erinnern sollte. Nun folgten zahlreiche Publikationen beziehungsweise Internetseiten, die sich mit Morals Leben und Werk auseinandersetzen [Depmer, 1993; Benz, 1997: Schwanewede, 2012: Stippekohl, 2014]. Zudem entwickelte sich eine intensive Erinnerungskultur.

Zu erwähnen ist das Ehrenkolloquium, das die Medizinische Fakultät der Universität Rostock 1999 aus Anlass des 75. Jahrestages der Verleihung der Ehrendoktorwürde an Moral veranstaltete [Ehrenkolloquium, 2001]. Seit Januar 2003 befindet sich in der Friedrichstraße 31 in Rostock zudem ein Stolperstein vor dem ehemaligen Wohnhaus. Seit 2003 trägt die Rostocker Zahnklinik zu seinen Ehren den Namen „Klinik und Polikliniken für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde ‚Hans Moral‘“. Last, but not least wurde im Ortsteil Brinckmansdorf eine Straße nach Hans Moral benannt [Meine Stadt, 2017].

Prof. Dr. med. Dr. med. dent. Dr. phil. Dominik Groß

RWTH Universität Aachen Medical School
Wendlingweg 2, 52074 Aachen

Literaturliste

Christoph Benz, „Moral, Hans“, in: Neue Deutsche Biographie 18 (1997), S. 79f, www.deutsche-biographie.de/pnd119519402.html (26.01.2017)

Hans Bünte und Hans Moral, Die Leitungsanästhesie im Ober- u. Unterkiefer auf Grund der anatomischen Verhältnisse, Berlin 1910

Ulrich-Wilhelm Depmer, Weg und Schicksal verfolgter Zahnmediziner während der Zeit des Nationalsozialismus, Diss. med. dent. Kiel 1993, Widmungsseite u. S. 93-96

Ehrenkolloquium der Medizinischen Fakultät für Prof. Dr. Med. & Phil. Dr. Med. Dent. H.C. Hans Moral aus Anlass des 75. Jahrestages der Verleihung der Ehrendoktorwürde (Rostock, 17.12.1999), Rostock 2001

Ein neuer Name – zum Gedenken an Hans Moral, Zahnärztliche Mitteilungen 93/22 (2003), S. 100

Walter Hoffmann-Axthelm, Die Geschichte der Zahnheilkunde, Berlin 1973

Walter Hoffmann-Axthelm, Lexikon der Zahnmedizin, Berlin 1974

Meine Stadt, www.meinestadt.de/rostock/stadtplan/strasse/hans-moral-str. (26.01.2017)

Hans Moral, Ueber die ersten Entwickelungsstadien der Glandula submaxillaris, Wiesbaden 1912a

Hans Moral, Ueber die ersten Entwickelungsstadien der Glandula parotis, Wiesbaden 1912b

Hans Moral, Ueber die Lage des Anästhesiedepots, Wiesbaden 1914

Hans Moral, Einführung in die Klinik der Zahn- und Mundkrankheiten (Einführung in die spezielle Pathologie der zahnärztlich-chirurgischen Erkrankungen), Leipzig 1920, 2. Aufl. Berlin 1928

Hans Moral und Walter Frieboes, Atlas der Mundkrankheiten mit Einschluß der Erkrankungen der äußeren Mundumgebung, Leipzig 1924

Hans Moral, Über Fehldiagnosen, Berlin 1927

Hans Moral, Über neurologisch-zahnärztliche Grenzfälle, Zahnärztliche Rundschau 37 (1928), S. 1-8; 41-47

Hans Moral, Untersuchungen an künstlichen Zähnen, Berlin 1929

Hans Moral, Die Leitungsanästhesie im Ober- und Unterkiefer, Berlin 1931

„Moral, Hans“, in: Isidor Fischer (Hrsg.), Biographisches Lexikon der hervorragenden Ärzte der letzten fünfzig Jahre, 2. u. 3. Aufl., München u. Berlin 1962, S. 1064-1065

„Moral, Hans“, in: Catalogus Professorum Rostochiensium, 2015, cpr.unirostock.de/resolve/id/cpr_person_00003118 (26.01.2017)

Dieter Pahnke und Eckhard Beetke, Hans Moral (1885-1933) – zu Leben und Werk, Beiträge zur Geschichte der Universität Rostock 10 (1987), S. 12-18

Heinrich von Schwanewede, Hans Moral (1885-1933) – Leben, Wirken und Schicksal eines bedeutenden Vertreters der Zahnheilkunde, in: Gisela Boeck und Hans-Uwe Lammel (Hrsg.), Die Universität Rostock in den Jahren 1933-1945 (= Rostocker Studien zur Universitätsgeschichte, 21), Rostock 2012, S. 25-44

Siv Stippekohl, Die tragische Geschichte des Hans Moral, NDR 1 Radio MV, 2014, www.ndr.de/kultur/geschichte/chronologie/hansmoral101_page-1.html (26.01.2017)

Stolperstein Hans Moral, in: Verein Soziale Bildung (Hrsg.), Stadtrundgang „Rostock unter‘m Hakenkreuz“, Rostock, ruh.soziale-bildung.org/stolperstein-hans-moral (26.01.2017)

Wolfgang Strübig, Geschichte der Zahnheilkunde, Köln 1989

Univ.-Prof. Dr. med. dent. Dr. med. Dr. phil. Dominik Groß

Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin
Vorsitzender des Klinischen
Ethik-Komitees des UK Aachen
Universitätsklinikum der
RWTH Aachen University MTI 2
Wendlingweg 2, 52074 Aachen

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