Wenn Kinder für ihre Eltern unterhaltspflichtig sind

Arm durch Sippenhaft

Kinder haften für ihre Eltern – wenn diese alt und pflegebedürftig geworden sind. Oft summieren sich in diesem Fall horrende Kosten. Die zuständigen Sozialämter strecken sie vor, holen sich aber ihre Auslagen von den nächsten Verwandten zurück. Denen bleibt dann nur noch ein magerer Selbstbehalt.

Werner Most aus Bingen am Rhein ist 67 Jahre alt. Von ihm hatte die Verwaltung des Landkreises Mainz-Bingen für seinen im 100. Lebensjahr verstorbenen Vater und für seine 94-jährig verstorbene Mutter Pflegeheimkosten in Höhe von insgesamt rund 43 000 Euro zurückverlangt. Weil die Pflegeversicherung nicht ausreichte, um die Pflegekosten zu bestreiten, und das Vermögen der alten Mosts aufgebraucht war, sprang das Sozialamt für die Mehrkosten ein: Vater Most wurde ein knappes Jahr, Mutter Most knapp zwei Jahre aus der Sozialkasse alimentiert.

Der Most-Sohn war, als ihm im Sommer 1997, mit zweijähriger Verspätung, die Rechnung vom Sozialamt seines Landkreises ins Haus flatterte, selber gerade Rentner geworden. Er war nicht damit einverstanden, auf einen Selbstbehalt reduziert zu werden, der ihm nur noch das Notwendigste zum Leben ließ. Er klagte zunächst beim Familiengericht Bingen und gewann. In der Revision verlor er jedoch vor dem Oberlandesgericht Koblenz. Most rief den Bundesgerichtshof (BGH) an und erstritt hier im Oktober 2002 ein wegweisendes Urteil (XII ZR 266/99).

Die Quintessenz dieses BGH-Urteils: Unterhaltspflichtige Kinder müssen nur in begrenztem Umfang für die Pflegekosten ihrer Eltern aufkommen. Der Selbstbehalt muss „angemessen“ bleiben. Der Zahlungspflichtige müsse „eine spürbare und dauerhafte Senkung seines berufsund einkommenstypischen Unterhaltsniveaus“ nicht hinnehmen. Vorausgesetzt, er betreibe „nicht einen nach den Verhältnissen unangemessenen Aufwand“ und führe nicht „ein Leben in Luxus“.

Konkreter waren die Hohen Richter leider nicht geworden. Welche Zahlungen im einzelnen zu leisten sind, hängt nach wie vor von den höchst unterschiedlichen Regelungen der kreisfreien Großstädte und der Landkreise ab. In München, Leipzig, Frankfurt oder Berlin fordert das Sozialamt nur maximal 50 Prozent der bezahlten Mehrkosten zurück. Zumeist aber, so etwa in Dortmund, Hannover oder auch im Landkreis Recklinghausen, sind es 100 Prozent. Im Großen und Ganzen aber ist das zum Selbstbehalt bestimmte Einkommen unterhaltsverpflichteter Kinder Verhandlungssache mit dem zuständigen Sachbearbeiter. Hierfür schafft das BGH-Urteil jetzt einen größeren Bemessungsspielraum.

Auf der Grundlage dieses Urteils müsste eigentlich das Bundessozialhilfegesetz umformuliert werden. Es müssten auch folgende Fragen geregelt werden, die großenteils noch beim BGH auf Klärung warten:

• Ist es sozial gerecht, wenn sich Kinderlose sorglos einem teuren Pflegeheim anvertrauen können, während Eltern, die Kinder groß gezogen haben, diese nach dem Gesetz unterhaltspflichtig machen?

• Ist es sozial gerecht, wenn wohlhabende Hausfrauen ohne eigenes Einkommen nicht für ihre pflegebedürftigen Eltern zahlen müssen, sondern nur Kinder, die ein eigenes Einkommen haben?

• Ist es sozial gerecht, dass Beamte im Pflegefall ihre Beihilfekasse (das ist letztlich die Kasse der Steuerzahler) in Anspruch nehmen können und damit ihre Kinder von Unterhaltszahlungen weitgehend verschonen?

• Ist es sozial gerecht, dass arme, vermögenslose Alte ohne ausreichende Rente und ohne gut verdienende Kinder sich im Hinblick auf eine teure Heimpflege keine Sorgen zu machen brauchen, während gut verdienenden Kindern die Verarmung droht?

Sozial ungerecht

Doch der Gesetzgeber wird wohl eher die Beiträge zur Pflegeversicherung erhöhen, als diese brennenden und lebensnahen Fragen nach der sozialen Gerechtigkeit verbindlich zu klären. Das dürfte er (mit Verzögerung) erst dann tun, wenn beim Bundesverfassungsgericht Klagen wegen Ungleichbehandlung erfolgreich waren und der Richterspruch für ein entsprechendes Gesetz einen Termin setzt. Solche Klagen laufen bereits.

Bis zu einem Urteil oder gar einem gerechten Gesetz werden sich die Pflegefälle weiter häufen und die Kosten weiter steigen. So sind bereits von 1 000 Bundesdeutschen, die zwischen 75 bis 89 Jahre alt sind, knapp 100 pflegebedürftig. Bei den 80- bis 85-Jährigen waren es im letzten Jahr 179; bei den 85- bis 90- Jährigen schon 348. Und bei denen, die 90 Jahre und älter sind, verbringt schon mehr als die Hälfte das verbleibende Leben unter Dauerpflege. Eine Vollpflege in einem zugelassenen Heim ist nicht gerade wohlfeil. So liegen in der Pflegestufe II und III die Heimkosten offiziell zwischen 3 000 und 3 400 Euro monatlich, können aber leicht 4 000 Euro erreichen. Tendenz: markant steigend.

Die Pflegeversicherung deckt davon nur einen pauschalen Anteil, der zwischen 1022 und 1431 Euro liegt. Auch in der ambulanten Pflege daheim, oft von den nächsten Angehörigen nicht zuletzt deshalb selbst erbracht, weil sie sich und ihre Familien nicht finanziell ruinieren möchten, reichen die Versicherungsleistungen bei weitem nicht aus. Sorglos im Hinblick auf den späteren Pflegefall können eigentlich nur solche Bundesbürger einem hohen Alter entgegenblicken, die vom Existenzminimum leben, keine wohlgeratenen und gut verdienenden Kinder haben und eigentlich immer schon von Sozialhilfe gelebt haben.

Ungedeckte Kosten

Die Unterhaltspflicht der Kinder gegenüber ihren Eltern beginnt, wenn diese die amtliche Mitteilung erhalten, dass ein oder beide Elternteile Sozialhilfe beziehen. Rückwirkend dürfen die Sozialämter keine Forderungen stellen. Steht kein familiäres Großvermögen im Hintergrund, ist der Sozialhilfefall schnell eingetreten, vor allem, wenn Vater und Mutter zusammen ein hohes Alter erreichen und gemeinsam ein Pflegefall fürs Heim werden. Dann kommen pro Monat leicht 8 000 Euro Pflegekosten zusammen.

Davon zahlt die Pflegeversicherung im Extremfall 2 862 Euro. Ungedeckt bleiben in diesem immer häufiger vorkommenden Beispielfall 5 138 Euro. Angenommen, es fließt noch eine üppige Rente von 3 138 Euro, dann verbleiben immer noch rund 2 000 Euro im Monat, die das Sozialamt vorstreckt. Oftmals holt sich das Amt bei den nächsten Angehörigen seine Auslagen zu 100 Prozent zurück. Das wären im Jahr 24 000 Euro. Die 100 000-Euro-Grenze wäre bereits im fünften Jahr überschritten.

Wer nicht in der richtigen kreisfreien Großstadt oder im falschen Landkreis wohnt, hat großes Pech. Denn bei der Bemessung des Selbstbehalts führen die Sozialämter ohne detaillierte gesetzliche Vorgaben Eigenregie. Bei den meisten Ämtern bleibt der Betrag als so genannter Selbstbehalt unangetastet, den das Oberlandesgericht zu Düsseldorf in der so genannten Düsseldorfer Tabelle festgeschrieben hat. Danach bleiben einem Unterhaltspflichtigen zum Eigenverbrauch 1 250 Euro, plus 440 Euro für eine Warmmiete samt Umlagen. Gibt es einen Ehegatten, bleiben weitere 950 Euro geschützt. Verdient dieser Geld, wird dessen Nettoeinkommen voll auf den Selbstbehalt angerechnet. Für jedes minderjährige Kind gibt es einen alters- und einkommensunabhängigen Freibetrag.

Zum Gesamteinkommen zählt nicht nur der Verdienst aus selbständiger oder nicht selbstständiger Arbeit. Auch Kapitalerträge in Form von Zinsen oder Dividenden wie auch Mieten (abzüglich eventueller Werbungskosten), ja sogar Krankenund Arbeitslosengeld werden in die Berechnung des Selbstbehalts einbezogen. Einige Sozialämter, so etwa die von Hannover und Stuttgart, praktizieren einen Trick, um auch einkommenslose Hausfrauen, die Töchter pflegebedürftiger Eltern sind, zur Kasse zu bitten zu können. Sie unterstellen, dass diese gegenüber ihrem womöglich gut verdienenden Ehegatten einen Unterhaltsanspruch haben.

Doch einige Oberlandesgerichte haben diese Trickserei bereits gestoppt. Ein Revisionsverfahren liegt schon beim Bundesgerichtshof. Mit Berufung darauf und unter Angabe des Aktenzeichens XII ZR 224/00 können Betroffene Widerspruch gegen diesen hinterrücks konstruierten Unterhaltsanspruch einlegen. Widerspricht auch der BGH dieser Praxis, muss das zu Unrecht gezahlte Geld wieder zurückgezahlt werden.

Das Glücksspiel in Sachen Wohnort dreht sich vor allem um einen wichtigen Prozentsatz. So lassen sich in den Großräumen von Rhein und Ruhr sowie in Niedersachsen die Kommunen und Kreise überwiegend 100 Prozent der Mehrkosten bezahlen, mit denen das Sozialamt einem Pflegebedürftigen beigesprungen ist. Doch im Großraum Berlin und in Süddeutschland (Baden-Württemberg und Bayern) holen sich die Ämter nur etwa die Hälfte der Pflegemehrbelastung von den Angehörigen zurück. Der Bezirk Oberbayern ist am kulantesten. Er begnügt sich mit 30 bis 40 Prozent.

Damit nicht genug: Wer mietfrei Wohneigentum bewohnt, muss mal dafür finanziell büßen, mal aber auch nicht. In München, im Bezirk Oberbayern, aber auch in Bremen oder Dortmund bleibt dem Unterhaltsverpflichteten diese Einbuße erspart. In Hannover, Köln oder auch in Stuttgart gibt es kein Pardon. Hier wird zumeist die Pauschalmiete der Düsseldorfer Tabelle in den Selbstbehalt eingerechnet.

Wer nun auf den Gedanken kommt, sein Wohneigentum hoch mit Kredit zu belasten, um den Amtszugriff abzumildern, hat mit diesem Schachzug meistens Glück. Doch in Hamburg, in Hannover, in München und in Oberbayern werden die Kreditzinsen nur bis zum örtlichen Mietwert des Wohnobjektes angerechnet. Wer eine höhere Miete als die pauschal zugestandene geltend macht, findet bei den meisten Sozialämtern ebenfalls Gnade, nicht jedoch in Stuttgart, Bremen oder im Rhein-Neckar-Kreis.

Ämterwillkür

Von Ämterwillkür kann man sprechen, wenn es um die Bemessung des angesparten Vermögens geht, seien es nun Wertpapiere oder Immobilien. So bleiben in Leipzig 76 694 Euro Geldvermögen und 51 129 Euro Immobilieneigentum unangetastet. Ähnliche Freibeträge gewährt auch der Rhein-Neckar-Kreis. Ein Glücksfall. Ausgesprochen geizig zeigen sich die Städte Hannover und Recklinghausen. Hier darf man beim Geldvermögen nur noch 15 855 Euro behalten. Nach den Regeln der meisten Sozialämter muss vermieteter Immobilienbesitz voll und ganz geopfert werden.

Doch das Zahlen- und Regelwerk, nach dem die örtlichen Sozialämter sich bei Unterhaltspflichtigen für Pflegemehrkosten schadlos halten, ist kein Dogma. Die Bemessungskriterien sind fast immer verhandlungsfähig, zumal das aktuelle Urteil des Bundesgerichtshof hierfür neuen Spielraum geschaffen hat. Wer sich im Kriteriengeflecht selber nicht auskennt (wohl die wenigsten), sollte unbedingt einen im Sozialrecht kundigen Anwalt einschalten und sich nicht scheuen, zu klagen, auch wenn die meisten Rechtsschutzversicherungen nur eine Erstberatung bezahlen. Die zuständigen Sachbearbeiter der Sozialämter sind zumeist überfordert, überlastet oder beides. Sie vermeiden es daher gern, langwierige Prozesse führen zu müssen. Stattdessen nutzen sie lieber ihren relativ großen Handlungsspielraum und machen Zugeständnisse.

Bevor Kinder zur Unterhaltsverpflichtung ihren pflegebedürftigen Eltern gegenüber herangezogen werden, muss deren Vermögen abgeschmolzen sein. Erst wenn Wertpapiere und Lebensversicherungen verbraucht, die Erlöse aus Immobilienverkäufen aufgezehrt und nur noch ein kleiner Rest von 2 005 Euro vorhanden ist, kommt das Sozialamt für die nicht mehr gedeckten Pflegekosten auf. Von der elterlichen Erbmasse bleibt im Pflegefall meist nichts mehr übrig. Um ihren Kindern trotzdem ein Erbe zu sichern, verschenken kluge Eltern ihr Vermögen schon früh an ihre Kinder. (Siehe auch zm 1/2003). Doch wer beim Verschenken zu spät kommt, den bestraft wiederum das Sozialamt.

Teure Schenkung

Liegen nämlich zwischen dem Eintritt der Bedürftigkeit und einer Schenkung weniger als zehn Jahre, kann das Amt eine Rückabwicklung der Schenkung fordern. Es beruft sich dabei auf den Paragrafen 528 des Bürgerlichen Gesetzbuches. Danach muss ein Beschenkter das Geschenkte wieder zurückgeben oder einen vergleichbaren Wert aufbieten, wenn der Schenker verarmt ist. Heimliche Schenkungen, auch die von Wertpapieren oder Schwarzgeld, lassen sich nur sehr schwer weiter verheimlichen. Das Bankgeheimnis greift in solchen Fällen nicht. Die oft vom Vormundschaftsgericht bestellten Betreuer fragen die ihnen Anvertrauten geschult und geschickt aus. So werden zumeist alle heimlichen Transaktionen aufgedeckt. Oft schwärzen sich Geschwister auch untereinander an, wenn sie glauben, die Belastungen seien ungleich verteilt.

War schon auf lange Sicht abzusehen, dass ein oder gar beide Elternteile ihren Lebensabend in einem Pflegeheim verbringen und dadurch dem Status der Bedürftigkeit anheimfallen würden, nützt ein Verschenken des elterlichen Vermögens auch dann nichts, wenn die Zehn-Jahres-Frist eingehalten wurde. Bei einem entsprechenden Verdacht beantragt das zuständige Sozialamt ein ärztliches oder psychologisches Gutachten. Mit einem positiven Beleg für eine solche Amtsvermutung gerät auch ein fristgerecht verschenktes Vermögen in die Fänge der beamteten Armutsverwalter.

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