Den Blick schulen

Die verfärbte Fissur und ihre Herausforderung an den Zahnarzt

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Heftarchiv Zahnmedizin
Dieser Übersichtsartikel zu den Ergebnissen der Arbeit „Die initial kariöse Fissur als diagnostische Herausforderung in der zahnärztlichen Reihenuntersuchung”, wurde im Rahmen der Jahrestagung der DGZ mit dem der Wrigley-Prophylaxe-Preis (2002) ausgezeichnet.

Kariesepidemiologischer Hintergrund

Zu Beginn der achtziger Jahre wurde erstmals über einen drastischen Kariesrückgang in kindlichen und jugendlichen Populationen westlicher Industrienationen berichtet [10,25]. Dieser erfreuliche Trend konnte im vergangenen Jahrzehnt auch in der Bundesrepublik Deutschland nachgewiesen werden.

Parallel zu dem beobachteten „caries decline” wurden Veränderungen im Kariesbefallsmuster offensichtlich. Bis etwa zum 13./14. Lebensjahr konzentriert sich der Kariesbefall mit 60 bis > 90 Prozent auf die Fissuren und Grübchen der Molaren [7, 39]; erst danach kommt es zu einem Anstieg von approximalen Läsionen [26]. Neben der Konzentration des Kariesbefalls auf die Okklusalfläche änderte sich weiterhin das klinische Erscheinungsbild kariöser Okklusalläsionen. Dabei wurde mit dem gehäuften Auftreten verfärbter Fissuren und Grübchen auch eine zunehmende Häufigkeit „versteckter” Dentinläsionen an nicht kavitierten Okklusalflächen aufgefunden.

Während bei Jugendlichen in der Bundesrepublik initial kariöse Läsionen an bis zu 27 Prozent aller Fissuren beobachtet wurden [13,14], wurde die Prävalenz klinisch nicht erfasster Dentinläsionen an der Okklusalfläche – der „hidden caries” – mit elf Prozent für alle Molaren angegeben. Die Mehrzahl dieser Läsionen wurde dabei an kreidig oder braun verfärbten Fissuren beziehungsweise unter Versiegelungen registriert [13]. Mit dem gehäuften Auftreten nicht kavitierter Dentinläsionen erscheint somit eine Neuorientierung in der Okklusalkaries-Diagnostik unerlässlich.

Methoden zur Okklusalkaries-Diagnostik

Vor dem Hintergrund der Veränderungen im klinischen Erscheinungsbild der Okklusalkaries muss kritisch hinterfragt werden, ob die traditionelle Sondierung noch ein zeitgemäßes Diagnostikverfahren ist. Unter Berücksichtigung der unzulänglichen Diagnosegenauigkeit der Sondierung [21, 29, 30], der Auslösung iatrogener Sondierungsdefekte (Abb. 1), der Begünstigung der kariösen Progression durch Zerstörung der intakten Schmelzoberfläche an initial kariösen Läsionen [1, 3, 43] sowie der möglichen Keimtransmission von einer Fissur zur anderen [20] wird die taktile Untersuchung mit der spitzen zahnärztlichen Sonde heute als nicht mehr akzeptables Diagnostikverfahren angesehen [31]. Mit dem folgerichtigen Verzicht auf die Sonde müssen diagnostische Alternativen gesucht werden. Als grundsätzliche Anforderungen an eine Diagnostikmethode sind eine hohe Akkuratheit, ein nicht invasives Vorgehen sowie die einfache und kostengünstige Durchführbarkeit zu nennen. Mit dem Anspruch, auch an nicht kavitierten Fissuren visuell eine Dentinkaries diagnostizieren zu können, fokussierten Ekstrand et al. [4-6] das Augenmerk auf die Detektion kariös bedingter Verfärbungen und Demineralisationszeichen. Als klinische, visuell diagnostizierbare Zeichen nutzten die Autoren weiße und braune Opazitäten, die auf der feuchten Zahnoberfläche kaum und auf der luftgetrockneten deutlich erkennbar sind. Lokalisierte Schmelzeinbrüche im opaken oder verfärbten Schmelz wurden dabei neben Kavitationen als zuverlässige Kriterien für das Vorliegen einer Dentinkaries aufgezeigt. Während die röntgenografische Kariesdiagnostik mit Bissflügel- Aufnahmen die Methode der Wahl zur Erfassung approximaler Läsionen ist, wurde der Nutzen des Röntgenbildes zur Okklusalkaries-Diagnostik lange Zeit unterschätzt. Klinisch röntgenografische Untersuchungen zeigten in diesem Zusammenhang, dass bei Jugendlichen zwischen dem zwölften und 20. Lebensjahr an bis zu 50 Prozent aller Molaren versteckte Okklusalläsionen anhand von Bissflügelaufnahmen diagnostiziert werden konnten [2, 17, 40, 41]. Um eine Früherkennung okklusaler Dentinläsionen ohne die Anwendung von Röntgenstrahlen zu ermöglichen, wurde 1998 die laseroptische Fluoreszenzmessung (DIAGNOdent, KaVo, Biberach) als ein viel versprechendes Alternativverfahren zur Detektion versteckter Dentinläsionen an Fissuren und Grübchen eingeführt [7]. Erste Untersuchungen zum diagnostischen Nutzen und zur Akkuratheit der Laserfluoreszenzmessung erbrachten aussichtsreiche Ergebnisse [22, 23]. Neben der Detektion und quantitativen Bewertung versteckter Okklusalläsionen wird der Einsatz des Gerätes auch zur Verlaufsdiagnostik empfohlen [23].

Klinische Problematik

Unter Berücksichtigung der zunehmenden Häufigkeit initial kariöser und nicht kavitierter Fissuren und Grübchen stellt das veränderte klinische Erscheinungsbild der Okklusalkaries ein nicht unerhebliches diagnostisches Problem für den Zahnarzt dar. Ziel einer Zwei-Jahres-Untersuchung war daher, neben dem zahnflächenbezogenen Kariesbefallsmuster, der Häufigkeit von Fissuren und Grübchenversiegelungen auch die Häufigkeit initial kariöser Fissuren bei Achtbeziehungsweise Zehnjährigen zu erfassen. Da in der Bundesrepublik Deutschland bislang noch wenige Erfahrungen zu einer verfeinerten Okklusalkaries-Diagnostik auf der Grundlage visueller und laseroptischer Befunde und unter Verzicht auf die zahnärztliche Sonde vorliegen, wurden weiterhin die visuellen Diagnostik-Kriterien nach Ekstrand et al. [6] im Zusammenhang mit der Laserfluoreszenz-Messung eingesetzt. Im Ergebnis sollten Empfehlungen zur Kariesdiagnostik sowie Schlussfolgerungen zur Verbesserung der Präventivbetreuung gezogen werden.

Longitudinale Entwicklung der Zahngesundheit

Ein kariesfreies Wechselgebiss wiesen 36 Prozent (1997) beziehungsweise 39 Prozent (1999) der Acht- beziehungsweise Zehnjährigen auf. Im ersten Untersuchungsjahr wurde ein Kariesbefall von 5,2 dfs/0,5 DMFS registriert. Während durch die altersgerechte Exfoliation der Milchmolaren bei der Wiederholungsuntersuchung ein Rückgang des Milchzahn-Kariesbefalls auf 2,9 dfs zu verzeichnen war, wurde im bleibenden Gebiss eine Karieszunahme auf 0,9 DMFS beobachtet. Damit verdoppelte sich der DMFS Wert im zweijährigen Beobachtungszeitraum. Die durchschnittliche Anzahl von Fissurenversiegelungen lag 1997 bei 1,0 versiegelten Molaren (22 Prozent); 1999 war ein geringfügiger Anstieg auf 1,4 (24 Prozent) zu beobachten. Bei allen Schülern wurden 1997 verfärbte Fissuren an 0,8 (20 Prozent) und 1999 an 1,4 Molaren (36 Prozent) registriert.

Visuelle und laseroptische Befunde

Unter Einbeziehung visueller und laseroptischer Diagnostikkriterien konnte in einer zweiten Teilstudie bei zehnjährigen Schülern folgendes kariöses Befallsmuster an der Okklusalfläche erster Molaren ermittelt werden: Als vollständig gesund wurden 0,8 Molaren (Ekstrand Grad 0) klassifiziert. Braune und kreidige Verfärbungen sowie Mikrokavitäten wurden entsprechend dem Vorgehen nach Ekstrand als Zeichen einer (initial) kariösen Veränderung an durchschnittlich 2,3 Fissuren beobachtet. 0,6 Molaren wiesen eine Fissurenversiegelung auf und 0,3 Fissuren waren bereits kariös oder gefüllt.

Die Häufigkeitsverteilung der visuellen Befunde ließ erkennen, dass ohne Lufttrocknung sichtbare Braunverfärbungen (Grad 2A) mit 42 Prozent aufgefunden wurden. Es folgten mit 14 Prozent Fissuren mit einer auf der feuchten Oberfläche kaum und nach Lufttrocknung hingegen sichtbaren Braunverfärbung (Grad 1A). Elf Prozent der Okklusalflächen zeigten eine auf der feuchten Oberfläche kaum sichtbare Opazität (Grad 1), die allerdings nach Lufttrocknung deutlich erkennbar war. Ohne Lufttrocknung sichtbare Opazitäten (Grad 2) wurden an einem Prozent der untersuchten Molaren erfasst. Lokale Schmelzeinbrüche im opaken oder verfärbten Schmelz mit darunter liegendem verfärbten Dentin (Grad 3) wurden in sechs Prozent der Fälle diagnostiziert. In 0,4 Prozent der Fälle lag mit dem Grad 4 bereits eine Mikrokavitation vor. Als gesund (Grad 0) wurden 26 Prozent der Fissuren klassifiziert.

Entsprechend den DIAGNOdent Grenzwerten wurden 43 Prozent der untersuchten Molaren als gesund, 23 Prozent mit einer Dentinkaries eingestuft. Wurden die laseroptischen Befunde „Gesund” und „Schmelzkaries” zusammengefasst, korrelierten diese Befunde mehrheitlich mit den visuellen Graden 0 (98 Prozent), 1 (87 Prozent) und 1A (75 Prozent). Bei den Graden 2 und 2A lag in etwa eine Gleichverteilung zwischen den DIAGNOdent Kategorien Gesund/Schmelzkaries und Dentinkaries vor. Demgegenüber wurden Fissuren mit den Graden 3 und 4 in hundertprozentiger Übereinstimmung mit dem DIAGNOdent- Befund erfasst.

Diskussion

Die vorliegenden kariesstatistischen Befunde der acht- und zehnjährigen Schüler ordnen sich in den gegenwärtigen Trend der Zahngesundheit in der Bundesrepublik Deutschland ein. Im Ergebnis des dargestellten Kariesbefallsmusters wird der Stellenwert initial kariöser Fissuren offensichtlich. 20 Prozent beziehungsweise 36 Prozent aller Molaren wiesen in der Erstuntersuchung initial kariöse Veränderungen auf; 53 Prozent waren dies zwei Jahre später. Als Ursachen müssen neben der niedrigen Versiegelungsrate, der hohe Anteil defekter Fissurenversiegelungen mit initial kariösen Veränderungen in Bereichen der freiliegenden Fissur und ein (noch) niedrigerer Kariesbefall der Okklusalfläche angeführt werden.

Unter Berücksichtigung der vorliegenden Häufigkeit initial kariöser Fissuren wird einerseits der Verzicht auf die zahnärztliche Sonde als invasives Diagnostikinstrument unterstrichen und andererseits die Frage aufgeworfen, mit welcher Häufigkeit initial kariöse Fissuren nicht doch schon mit einer Dentinkaries assoziiert sind. Da im Rahmen der vorliegenden Pilotstudie keine bioptische Befundvalidierung durchgeführt werden konnte, müssen die erfassten klinischen Befunde im Zusammenhang mit Erfahrungen aus histologisch validierten Studien diskutiert werden. Mit Hilfe der visuellen und laseroptischen Kriterien [6,24] wurde die Mehrzahl der befundeten Molaren übereinstimmend als Gesund / Schmelzkaries (Grad 0, 1, 1A) beziehungsweise als Dentinkaries (Grad 3, 4) klassifiziert. Diese Ergebnisse stehen in guter Korrelation zu bisherigen Erfahrungswerten aus histologischen Untersuchungen [5, 6, 23, 24]. Fissuren des Grades 2A korrelierten in etwa der Hälfte der Fälle mit dem histologischen Befund einer Schmelz- oder Dentinkaries [5, 6]. In Übereinstimmung mit den histologischen Erfahrungswerten wurde auch die Hälfte dieser Läsionen anhand der laseroptischen Kategorien als Gesund / Schmelzkaries beziehungsweise Dentinkaries eingestuft. Inwieweit die Laserfluoreszenz-Messung an braun verfärbten Fissuren eine hohe Akkuratheit bei der Erfassung von Dentinläsionen aufweist, ist derzeit noch nicht befriedigend geklärt. Erste klinische Studien erbrachten zwar Erfolg versprechende Resultate [23, 24], jedoch sollte die initial kariöse Fissur nicht zuletzt aufgrund der beobachteten Häufigkeit in den Mittelpunkt weiterer Studien rücken.

Anhand der verfeinerten Diagnostikkriterien kann auf eine erhebliche Unterschätzung des Kariesbefalls an initial kariös veränderten Fissuren geschlossen werden, wenn ausschließlich die Kavitation als Zeichen einer Karies herangezogen wird. Insgesamt könnten in etwa 30 Prozent der Fälle klinisch nicht fassbare Dentinläsionen vorliegen. Damit würde sich der klinisch erfasste Kariesbefall von 0,4 DMFS um durchschnittlich eine Zahnfläche erhöhen. Insofern stellt die initial kariöse Fissur eine nicht unerhebliche diagnostische Herausforderung für den Zahnarzt bei der gesetzlich geforderten Reihenuntersuchung und in der täglichen Praxis dar. Eine kritische Betrachtung des gegenwärtigen Diagnostikniveaus im Sinne der Primärprävention scheint daher sinnvoll und notwendig. Im Allgemeinen werden Kinder und Jugendliche ohne Trocknung der Zähne mit der zahnärztlichen Sonde befundet. Da aus Sicht einer präventiv orientierten Zahnheilkunde die traditionelle Sondierung als invasives und ungenaues Diagnostikverfahren abzulehnen ist, wäre der Einsatz differenzierter visueller Kriterien zur Beurteilung bedenkenswert. Nach Sheehy et al. [34] sollte die visuelle Inspektion aufgrund des geringeren Zeitaufwandes die Methode der ersten Wahl sein; an klinisch suspekten Okklusalflächen sollte nachfolgend die Laserfluoreszenz-Messung hinzugezogen werden. Die Praktikabilität beider Verfahren zur Okklusalkaries Diagnostik konnte im Rahmen der vorliegenden Pilotstudie bestätigt werden. Der diagnostische Zugewinn relativierte dabei das etwas zeitintensivere Vorgehen durch die Zahnreinigung und relative Trockenlegung.

Zukünftige Betreuungsstrategien

Mit einer diagnostischen Vernachlässigung der initial kariösen Fissur in der zahnärztlichen Reihenuntersuchung wird neben der Unterschätzung des Kariesbefalls auch die Notwendigkeit effektiver Präventionsmaßnahmen an diesem locus minoris resistentiae verkannt. Das hohe Potential der Fissurenversiegelung zur Prävention der Fissurenkaries ist unbestritten [8, 12, 19, 28, 32, 42]. Vor dem Hintergrund der registrierten Prävalenzraten initial kariöser Fissuren sowie der unzureichenden Häufigkeit von Fissurenversiegelungen erscheinen verbesserte Strategien zur Umsetzung präventiver Standardmaßnahmen notwendig. Folgende Betreuungsansätze können dabei diskutiert werden:

1. Da die Fissurenversiegelung als individualprophylaktische Betreuungsmaßnahme (IP5) ausschließlich Aufgabe des niedergelassenen Zahnarztes in der Bundesrepublik ist, erscheint die Erfassung initial kariöser Molaren im Rahmen der zahnärztlichen Reihenuntersuchung organisatorisch die effektivste Möglichkeit, Kinder und Jugendliche mit einem offensichtlichen Präventionsbedarf zu erfassen. Die Elterninformation und gleichzeitige Verweisung an den Hauszahnarzt wäre nachfolgend eine conditio sine qua non.

2. Wird weiterhin angenommen, dass sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen sich der zahnärztlichen Betreuung bevorzugt entziehen, so wird der zuerst diskutierte Betreuungsansatz versagen. Insofern scheint es überlegenswert, öffentliche Präventionsprogramme um die Fissurenversiegelung für Kariesrisiko-Gruppen nach dem Vorbild anderer westlicher Industrienationen zu erweitern [9, 11, 15, 17, 19, 27, 33, 35, 36, 38]. Damit würde es nicht nur gelingen, die Mehrzahl sozial deprivierter Kinder effektiver zu erreichen, sondern auch die kariesgefährdeten Molaren vor der Kariesinitiation zu versiegeln. Die differenzierte visuelle Beurteilung gegebenenfalls unter Einschluss der Laserfluoreszenz-Messung würde dabei ein „Sicherheitsnetz” darstellen, um nicht versehentlich versteckte Okklusalläsionen zu versiegeln

Dr. Jan KühnischFriedrich Schiller Universität JenaPoliklinik für Präventive ZHKNordhäuser Straße 7899089 Erfurt

nka GoddonGesundheitsamt Schwelm im EnnepeRuhr Kreis, Nebenstelle WittenSchwanenmarkt 5758452 Witten

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