Die Flugzeugkatastrophe am Bodensee
Das Unglück
Am 1. Juli 2002 kam es kurz vor Mitternacht in der Nähe von Überlingen am Bodensee zum Zusammenstoß einer russischen Tupolev TU-154 der Bashkirian Airlines und einer Frachtmaschine der DHL vom Typ Boeing 757. Die russische Maschine befand sich auf dem Weg von Moskau nach Barcelona und war überwiegend mit Kindern, Jugendlichen und deren Betreuern besetzt. Die Frachtmaschine war auf dem Wege von Bahrain nach Brüssel. In ihr befanden sich der Pilot und ein Copilot. Insgesamt 71 Personen fanden bei diesem Unglück den Tod. Die Leichen lagen in einem Umkreis von zehn Kilometern verstreut. Die meisten wurden relativ bald aufgefunden; die letzten beiden Leichen, die in unwegbarem Gebiet lagen, erst nach sechs Tagen.
Identifizierungen der Toten
Die Identifizierung von unbekannten Toten mit Hilfe der forensischen Odontologie hat eine lange Tradition auf Grund der hohen Individualitätsvielfalt und der relativen Unzerstörbarkeit des menschlichen Gebisssystems. Die Ereignisse des Zugunglücks von Eschede, der Absturz der Concorde bei Paris und das Attentat auf das World Trade Center in New York haben das Augenmerk erneut auf diese Problematik gelenkt.
Die deutsche Strafprozessordnung (§ 88 StPO) schreibt in Verbindung mit weiteren Verwaltungsvorschriften (Nr. 33 Richtlinien in Straf- und Bußgeldverfahren) die Feststellung der Identität von unbekannten Toten und somit auch der Opfer einer Massenkatastrophe vor.
Die Leichenschau eines unbekannten Toten beinhaltet auch die Suche nach unverwechselbaren Identitätsmarken. Von besonderer Bedeutung für die Identifizierung einer Leiche sind jedoch die Gewinnung von Fingerabdrücken und das Erfassen odontologischer Befunde. Wissenschaftlich wird in sichere (Daktyloskopie, Zahnstatus, DNA) und in unsichere (Lebensalter, Geschlecht, Körpergröße) Identitätsmarken unterschieden.
Die für die Identifizierung von Katastrophenopfern erforderlichen Vergleichsdaten werden mit Hilfe eines Interpol-Formblattes erhoben. Nach Abschluss der Untersuchungen und dem Vergleich von ante-mortem (A-M) und post-mortem (P-M) Unterlagen legen Rechtsmediziner, forensische Zahnärzte, Biologen und Kriminalbeamte fest, ob ein Katastrophenopfer zweifelsfrei identifiziert ist. Abschließend wird vom verantwortlichen Kriminalbeamten die Identität der Toten bescheinigt. Im vorliegenden Fall war das Bundeskriminalamt in Wiesbaden (BKA) um Amtshilfe gebeten worden und stellte die seit 1972 existierende Identifizierungskommission mit insgesamt 30 Spezialisten zur Verfügung. Diese wurden in unterschiedlichen Einsatzabschnitten eingesetzt: Asservatensicherung (Schmuck, Effekten, persönliche Gegenstände), Daktyloskopie, Rechtsmedizin, Forensische Zahnmedizin, Dokumentation und Auswertung durch Vergleich der zur Verfügung gestellten und der erhobenen Befunde.
Interdisziplinäres Team kam zusammen
Die aufgefundenen Leichen wurden nach ihrer Bergung zur Kühlung zunächst in einen Stollen und danach in das Pathologische Institut des Städtischen Krankenhauses Friedrichshafen transportiert, wo Rechtsmediziner der Universitäten Tübingen und Heidelberg sowie Zahnärzte der Identifizierungskommission des Bundeskriminalamtes die notwendigen Untersuchungen durchführten.
Mithilfe der Verwandten
Am 3. und 4. Juli 2002 trafen Angehörige aus Ufa, der Heimatstadt der meisten Flugzeugopfer, ein, um in der Nähe ihrer Verstorbenen zu sein.
Der Kontakt zu den Verstorbenen war den Angehörigen nicht gestattet. Kriminalbeamte und Dolmetscher befragten die nachgereisten Familienangehörigen unter Nutzung des Interpol-Formblatts. Diese machten zahlreiche Angaben zu besonderen Merkmalen ihrer verstorbenen Angehörigen, wodurch die Identifizierungen beschleunigt beziehungsweise überhaupt erst ermöglicht wurden. Auf Veranlassung des BKA wurde auf direktem Weg über den BKAVerbindungsbeamten in Moskau erreicht, dass die Angehörigen bereits erste Vergleichsdokumente mit vor Ort brachten. Dem Einsatzabschnitt Forensische Zahnmedizin wurden dabei zahlreiche Vergleichsunterlagen zur Verfügung gestellt: Angaben zu Zahn- und Kieferfehlstellungen, Diastemata, Zahnersatz (Kronen und Prothesen), herausnehmbaren kieferorthopädischen Apparaturen, die bis vor kurzer Zeit getragen wurden, und mehr. Es lagen Gipsmodelle von kieferorthopädischen Behandlungen, Einzel-Röntgenaufnahmen, Panorama-Röntgenaufnahmen (OPG´s), Röntgenaufnahmen mittels RadioVisioGraphie (RVG), Befunde von behandelnden Zahnärzten, Schulzahnkliniken und arbeitsmedizinischen Untersuchungen des fliegenden Personals, Zahnarztrechnungen und mehr vor.
Befunderhebungen der Kindergebisse
Nach Durchführung der Leichenuntersuchung durch die anwesenden Rechtsmediziner erfolgte die Befunderhebung am Gebiss. Dazu wurden die in der Regel frakturierten Ober- und Unterkiefer den Leichen entnommen (die Oberkiefer wurden retromolar, die Unterkiefer im Kieferwinkel osteotomiert). Anschließend erfolgte unter optimalen Lichtverhältnissen die zahnärztliche Befunderhebung. Des Weiteren wurde das Stadium des Wurzelwachstums nach Demirjian zur forensischen Altersschätzung festgelegt.
Die Befunde wurden auf die Interpol-Formblätter übertragen und archiviert.
In den ersten drei Tagen konnten 69 der 71 Leichen von der Identifizierungskommission untersucht werden. Die letzten beiden Leichen wurden erst am sechsten Tag nach dem Unglück aufgefunden und der Untersuchung zugeführt.
Die ersten Identifizierungen waren bereits am zweiten Tag nach Eintritt des Unglücks durchgeführt worden. Weitere Identifizierungen erfolgten insbesondere am dritten und vierten Tag, da dann weitere Vergleichsunterlagen aus Russland vorlagen und ausgewertet werden konnten. Die von den Angehörigen zur Verfügung gestellten A-M-Unterlagen waren von unterschiedlicher Qualität und mussten – sofern es sich nicht um Röntgenaufnahmen und Gipsmodelle handelte – von Dolmetschern übersetzt werden.
Aus sämtlichen zur Verfügung gestellten Unterlagen wurden fiktive A-M-Patientenkarteikarten angefertigt, die später mit den P-M-Karten verglichen wurden. So konnten innerhalb von wenigen Tagen durch die Auswertung der Zahnschemata und durch die Unterstützung durch die Personenbeschreibung, Schmuck und/oder Kleidung 46 Prozent der Flugzeugopfer identifiziert werden. In 28 Prozent der Fälle gelang die Identifizierung der Opfer durch die Auswertung von Personenbeschreibung, Kleidung und/oder Schmuck.
DNA-Analysen, die erst einige Zeit später zur Verfügung standen, ermöglichten die Identifizierung von 20 Prozent der Verstorbenen. Sechs Prozent der Verunglückten konnten durch die Kombination aller genannten Verfahren identifiziert werden.
Der Vorteil der zahnmedizinischen Identifizierung besteht in dem schnellen Abgleich zwischen ante-mortem (A-M) und post-mortem (P-M) erhobenen Zahnbefunden. Ähnliche Erfolge in Bezug auf eine schnelle Identifizierung können auch durch auffällige Kleidung und prägnanten Schmuck im Zusammenhang mit der Personenbeschreibung erzielt werden.
Ergebnis
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass einem hoch motivierten 30-köpfigen Team des Bundeskriminalamtes innerhalb weniger Tage die Identifizierung von 71 Flugzeugopfern gelungen ist, die in der Nacht zum 2. Juli 2002 aus 11 500 Metern Höhe am nordöstlichen Bodenseeufer abgestürzt sind.
Dr. Dr. Claus GrundmannViktoriastr. 847166 DuisburgSachverständiger der Identifizierungskommissiondes Bundeskriminalamtes
Dr. Sven BenthausGoebenstr. 7346045 OberhausenSachverständiger der Identifizierungskommissiondes Bundeskriminalamtes
Bernd Roßbach, KriminaldirektorThaerstr. 1165193 WiesbadenLeiter der Identifizierungskommissiondes Bundeskriminalamtes
Horst Engel, Erster KriminalhauptkommissarThaerstr. 1165193 WiesbadenGeschäftsführer der Identifizierungskommissiondes Bundeskriminalamtes