Armut in Deutschland

Leben von der Stütze

Anfang März legte Ulla Schmidt (SPD) den zweiten Armuts- und Reichtumsbericht vor. Die Bilanz: Die Reformpolitik von SPD und Grüne hat die Kluft zwischen oben und unten noch vergrößert. Mehr als elf Millionen Bürger gelten heute als arm – treffen kann es jeden.

„Ehrlich in der Sache“ nennt der Parlamentarische Staatssekretär Franz Thönnes (SPD) den Bericht. Die Bundesregierung sage, „wo die Probleme liegen und wie wir sie lösen wollen“.

Armutsrisiko Kinder

„Rot-Grün macht arm“, konstatiert dagegen CDU-Generalsekretär Volker Kauder. Derartige Polemik tut weh. Und trifft dennoch genau ins Schwarze: Obschon die Schröder-Regierung immer wieder betont, den Umbau der Gesellschaft vor allem „sozial gerecht“ gestalten zu wollen, klafft die Schere zwischen Arm und Reich so weit auseinander wie nie zuvor.

Jedes zehnte Kind lebt mittlerweile in Armut, mehr als 1,5 Millionen Kinder und Jugendliche unter 15 Jahren wachsen in Elternhäusern auf, die monatlich mit weniger als 50 Prozent des durchschnittlichen Einkommens, also mit gut 900 Euro, auskommen müssen. In erster Linie sind Familien betroffen, und zwar Paare mit mehr als zwei Kindern, Alleinerziehende und Zuwandererfamilien.

Wer seinen Job verliert, steht besonders schlecht da. Er droht abzurutschen. Arbeitslosigkeit ist die Hauptursache von Armut und sozialer Ausgrenzung. Das stellt der Bericht klar heraus. Mehr denn je kristallisieren sich Beschäftigung und Wirtschaftswachstum als die bedeutendsten Faktoren für das Wohlergehen unserer Gesellschaft heraus.

Verständlich, dass die Rekordarbeitslosigkeit auch jene verschreckt, die noch fest angestellt sind. Die Angst vor dem Absturz reicht bis weit in die Mittelschicht. Nicht ohne Grund ist der Slogan „Sozial ist, was Arbeit schafft“ bei Politikern aller Couleur so populär. Sie übersehen jedoch, dass sich Arbeit und Armut in Deutschland längst nicht mehr widersprechen.

Allein in Berlin leben inzwischen drei Millionen Erwerbstätige unter der Armutsgrenze, meldete jüngst das Institut für Wirtschaftsforschung. Das sind fast anderthalb Mal so viele wie vor zwölf Jahren. Unter ihnen sind Friseurinnen, Verkäufer, Reinigungskräfte, Hilfs- und Leiharbeiter. Ebenfalls jeden Cent umdrehen müssen freilich auch kleine Selbstständige. Unter Geringqualifizierten liegt die Arbeitlosenquote mittlerweile bei über 20 Prozent.

Nicht Intelligenz oder Leistung, sondern in erste Linie das elterliche Zuhause entscheidet über Hopp oder Top der Schulkarriere. Diesen Mangel an Aufstiegschancen offenbarte Pisa bereits vor zwei Jahren. Wer in einem Viertel wie Hamburg-Mümmelmannsberg oder Köln-Kalk groß wird, hat sieben Mal geringere Chancen auf ein Hochschulstudium als Kinder aus Hamburg-Rotherbaum oder Köln-Lindenthal. „Wir haben Fernseher in jedem Kinderzimmer, aber Erstklässler mit einem Sprachniveau von Dreijährigen“, bemerkte die grüne Verbraucherministerin Renate Künast kürzlich.

Heute Ghettokid...

„Unterschichtenfernsehen“ nennt Harald Schmidt das TV-Programm der Privatsender und ihr Publikum. Und meint mit dem ursprünglich von Soziologen geprägten Begriff nicht nur Shows wie „Die Burg“ und „Big Brother“, welche Arbeitslose nachmittags beim Bier verfolgen, sondern gleichermaßen eine geistige Armut.

Aussichtslos ist die Lage indes nicht, wie die Statistik zeigt – die Mehrzahl der Betroffenen rappelt sich wieder hoch. Nach einem Jahr haben sich ein Drittel und nach zwei Jahren etwa zwei Drittel aus der Misere befreit. Staatliche Leistungen wie Renten, Kindergeld, Bafög oder Sozialhilfe konnten dabei das Armutsrisiko im Jahr 2003 um zwei Drittel senken.

Doch wie viel Netz und doppelten Boden kann sich unser Sozialstaat leisten? Heißt die Lösung wirklich „Stütze“, wenn es darum geht, die Gestrandeten wieder in die Gesellschaft einzubinden?

Nein, betont der Bremer Geschichtsprofessor Paul Nolte. „Wir können nicht immer nur sagen: Diese armen Leute, denen müssen wir helfen. Wir müssen auch sagen: Diese Leute sind für ihr Leben selbst verantwortlich.“

In einem Interview mit dem Hamburger Abendblatt plädiert er dafür, die Menschen konsequent mehr an den gesellschaftlichen Prozessen teilhaben zu lassen statt sie mit Geld ruhig zu stellen.

Arme Menschen neigen weniger zur Mobilisierung als zum Fatalismus, bestätigt der Soziologe Gerd Nollmann. Anders ausgedrückt: Ohne Geld und ohne Arbeit ist es mühsam, sich aufzuraffen. „Problematisch ist das vor allem für die Kinder“, so Nollmann. „Sie machen erst gar nicht die Erfahrung bei ihren Eltern, dass man sein Leben auch selbst gestalten kann.“

Denn wer sein Leben lang von der Stütze gelebt hat, hat verlernt, den Alltag eigens in die Hand zu nehmen. Dasselbe gilt für Kinder, deren Familien seit Generationen Sozialhilfe beziehen.

...morgen Leistungsträger?

Allerdings müssten die verwahrlosten Kinder von heute in der gealterten Gesellschaft von morgen eigentlich eine tragende Rolle spielen: als Facharbeiter, Ingenieur, Pfleger. Und als Steuerzahler.

Geld auszuzahlen löst die Probleme der sozial Schwachen nicht – diese Einsicht macht sich in allen Parteien breit. „Bildung ist die zentrale Herausforderung des Sozialstaates geworden“, bringt es die SPD-Linke Andrea Nahles auf den Punkt.

„Deutschland ist ein reiches Land“, sagt Ulla Schmidt – der großen Mehrheit gehe es gut. Das stimmt. In der EU zählt Deutschland neben Dänemark und Schweden zu den Ländern mit dem geringsten Armutsrisiko.

Allerdings sind die Privatvermögen sehr ungleich verteilt. Die Armen werden immer ärmer und die Reichen immer reicher: Während die unteren 50 Prozent der Haushalte weniger als vier Prozent des Nettovermögens besitzen, haben die oberen zehn Prozent knapp 47 Prozent, Tendenz steigend.

Schwarze Schafe wie „Florida-Rolf“ belegen wiederum, dass unser Sozialsystem immer noch zu knacken ist. Der Dauerarbeitslose, der sich das Strandleben unter Floridas Sonne von der deutschen Sozialhilfe finanzieren ließ, ist kein Einzelfall. Ob Bafög-Betrüger oder Steuersünder: Die „Bediener-Mentalität“ ist hier zu Lande noch immer weit verbreitet.

Thema wird ausgeblendet

Viel muss passieren. Nicht nur für Historiker Nolte ist das Reformtempo noch viel zu langsam. Aber die Parteien scheuen sich anscheinend davor, die Unterschichten zu ihrem Thema machen. Sie wollen neben der Arbeitslosigkeit nicht noch eine weitere Angstdiskussion entfachen. Den Armutsbericht präsentierte Ulla Schmidt jedenfalls nicht persönlich, sondern schickte ihren Staatssekretär vor. 

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