Freizügigkeit im Binnenmarkt

Noch fehlt der rechte Schwung

Erwerbstätige, Versicherte und Angehörige von Dienstleistungsberufen in der Europäischen Union sollen sich im Binnenmarkt grundsätzlich frei bewegen, arbeiten und Leistungen jedweder Art in Anspruch nehmen können. Der jüngste Beweis hierfür ist die geplante Dienstleistungs-Richtlinie. Ein einheitliches Sozialmodell ist dennoch bislang eine reine Fiktion. Auch verhindern Rechtsunsicherheiten, Sprachbarrieren und mangelnde Transparenz, dass der grenzüberschreitende Medizintransfer sowohl seitens der Patienten als auch der Ärzte und Zahnärzte richtig in Gang kommt. So die Quintessenz einer Vortragsveranstaltung, zu der die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) nach Brüssel eingeladen hatte.

Streng genommen reichen die Wurzeln für ein europäisches Sozialrecht zwar bis ins Jahr 1957 zurück, als die Bundesrepublik Deutschland zusammen mit Frankreich, Belgien, Luxemburg, den Niederlanden und Italien in Rom den Grundstein für die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) legte. Dennoch sollte es noch rund 15 Jahre dauern, bis den programmatischen Absichtserklärungen, auch das Sozialrecht der Mitgliedstaaten einander anzunähern, Taten folgten. Der Präsident des Bundessozialgerichts (BSG), Matthias von Wulffen, erinnerte in Brüssel daran, dass es erst zu Beginn der 70er Jahre gelang, durch die Verabschiedung der EWGVerordnungen 1408/71 und 574/72 zumindest eine gewisse Angleichung der Sozialrechtssysteme zu erreichen. Arbeitnehmern, die sich für einige Zeit in einem anderen EG-Staat als ihrem Heimatland aufhalten, erhielten durch die Direktiven das Recht, im europäischen Ausland kostenfrei Gesundheitsdienstleistungen in Anspruch nehmen zu dürfen. Basis hierfür bilden der Auslandskrankenschein E 111 beziehungsweise seit 1. Juli dieses Jahres die Europäische Krankenversicherungskarte und – bei einem längerfristigen Aufenthalt – die Einschreibung in das Sozialversicherungssystem des Aufenthaltslandes.

„Dennoch beschreiben auch diese beiden Verordnungen kein europäisches Sozialrechtssystem, sondern beschränken sich darauf, Instrumente und Verfahren bereit zu stellen, um eine Diskriminierung bei der Inanspruchnahme von Sozialleistungen abzubauen beziehungsweise zu verhindern“, unterstrich von Wulffen.

Eine völlig neue Dynamik erhielt die Koordinierung der Sozialsysteme im Grunde erst weitere 26 Jahre später durch die Rechtssprechung des EuGH. In ihren zwei grundlegenden Urteilen aus dem Jahr 1998 zu den Fällen Kohll und Decker und in mehreren Folgeentscheidungen dehnten die Luxemburger Richter den Begriff der Freizügigkeit von den Erwerbstätigen auf alle Patienten und Versicherten aus – mit weit reichenden Konsequenzen für die sozialen Krankenversicherungssysteme. „Durch die Rechtsprechung des EuGH eröffnete sich neben der grundsätzlich kostenfreien Inanspruchnahme einer medizinischen Dienstleistung als Sachleistung zu Lasten der Heimatkasse auch der Weg der kostenpflichtigen Inanspruchnahme medizinischer Leistungserbringer in anderen Mitgliedstaaten der EU mit anschließender Kostenerstattung durch die heimische Krankenkasse“, erläuterte der BSG-Präsident. Von Wulffen machte in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass nach der Auslegung des EuGH das Prinzip der Kostenerstattung bei grenzüberschreitender Versorgung auch für Länder mit reinem Sachleistungsprinzip, wie Deutschland, Frankreich und die Niederlande, gelten soll – unabhängig von den daraus möglicherweise resultierenden Vergütungsproblemen.

Weiterer Schub

Nun soll die von der EU-Kommission vorgeschlagene Dienstleistungs-Richtlinie ihr Übriges tun, um der Freizügigkeit im Binnenmarkt auch auf Seiten der Leistungserbringer einen weiteren Schub zu verleihen. Dagegen sperren sich bisweilen aber sowohl zahlreiche Interessenvertreter als auch der deutsche Bundesrat, wie eine Anhörung des Vorschlags am 11. November vor dem Europäischen Parlament deutlich machte. Stein des Anstoßes ist vor allem das Herkunftslandprinzip, nach dem Gesundheitsdienstleister nur den Bestimmungen ihres Herkunftslandes unterliegen sollen. Sollte sich das Prinzip durchsetzen, käme das einer Inländerdiskriminierung deutscher Vertragszahnärzte und -ärzte aufgrund der vergleichsweise strengen Reglementierungen und Budgetierungsregelungen gleich.

Aber auch die Errichtung von zentralen Stellen, die Anmeldungs- und Genehmigungsverfahren einheitlich abwickeln sollen, und die Forderung, „unzulässige Anforderungen“ ,wie hohe Qualitätsstandards abzuschaffen, stoßen auf heftigen Widerstand. Für Zündstoff sorgt zudem der Artikel 23 der geplanten Richtlinie, der einen Direkterstattungsanspruch für eine Heilbehandlung im Ausland beinhaltet, zumal die EWG-Verordnung 1408/71 hierfür bereits einen ähnlichen Regelungsmechanismus vorsieht.

Eindringlich warnte der KBV-Vorsitzende Dr. Manfred Richter-Reichhelm in Brüssel deshalb davor, dass die Anwendung all dieser Bestimmungen letztlich dazu führen kann, dass sich das deutsche Krankenversicherungsrecht massiv verändern wird. „Am Beispiel des Vorschlags der Dienstleistungs- Richtlinie zeigt sich deutlich, dass die Binnenmarktstrategie auf den Gesundheitsmarkt nur teilweise anzuwenden ist“, bekräftigte Richter-Reichhelm.

Auch kann man nach Ansicht von von Wulffen mitnichten davon ausgehen, dass die Freizügigkeit für die Patienten in der EU nunmehr umfassend möglich und rechtlich einwandfrei geregelt ist. Noch sei zum Beispiel völlig unklar, wer für im Ausland erlittene Behandlungsfehler haftet. Auch gäbe es bislang keine europaweit einheitlichen Behandlungsstandards. Zudem sei es für Versicherte mitunter sehr schwierig, die Qualifikation eines medizinischen Dienstleisters zu beurteilen.

„All dies zeigt, dass zurzeit noch kein einheitliches europäisches Sozialrecht existiert und wir erst am Beginn einer differenzierten Entwicklung stehen“, so das Fazit des BSGPräsidenten.

Petra SpielbergRue Colonel van Gele 98B - 1040 Brüssel

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