Reformeckpunkte in der Kritik

Diagnose: durchgefallen

Morgens um halb sechs ist es endlich soweit: Angela Merkel und Kurt Beck treten vor die Mikrofone und geben die Eckpunkte zur Gesundheitsreform bekannt: Der Fonds kommt, die lohngekoppelten GKV-Beiträge bleiben und höhere Steuern soll es nicht geben. Statt Beifallsstürme hagelt es aber heftige Kritik: Richtung Staatsmedizin und Planwirtschaft ginge der Kompromiss, der Wettbewerb werde zurückgefahren und die Eigenverantwortung des Patienten konterkariert. Nach der anfänglich herausgekehrten Zustimmung im Koalitionslager sorgt das Verhandlungsergebnis inzwischen auch dort für Ärger.

Es sei ein Durchbruch in zwei Richtungen geschafft worden, befand Kanzlerin Angela Merkel, als sie das Ergebnis der Mammuttagungen vorstellte. Zum einen habe noch nie eine Regierung den Weg für so tief greifende Strukturveränderungen frei gemacht, um mehr Wettbewerb ins System zu bringen. Zum anderen gebe es Änderungen in der Finanzierung, wenn von 2008 an die beitragsfreie Kinderversicherung mehr und mehr durch Steuermittel getragen werde.

Ihr SPD-Verhandlungspartner Kurt Beck betonte, die große Koalition habe ihre Reformfähigkeit und soziale Verantwortung bewiesen.

Damit stehen die beiden mit ihrer Sicht weitgehend allein, denn der Reformkonsens, den Union und SPD zustande gebracht haben, wird zunehmend zerpflückt. Nicht nur von der Opposition: Wurde bei SPD und Union zuerst demonstrativ Zufriedenheit zur Schau gestellt, machen mittlerweile immer mehr Regierungspolitiker ihrem Unmut Luft.

Beispielsweise Agrarminister Horst Seehofer und Wirtschaftsminister Michael Glos. Sie wiesen die Einigung als unzureichend zurück. Die Reform müsse „in ein, zwei Jahren, jedenfalls in dieser Legislaturperiode noch einmal neu verhandelt werden“, urteilte Seehofer.

Zudem kritisierte der frühere Gesundheitsminister, dass die Reform erheblich teurer würde als veranschlagt und die Koalition die Chance verpasst habe, Kassenleistungen zu reduzieren. Glos rügte indes, die Koalition habe ihr Ziel verfehlt, die Lohnnebenkosten zu senken. Wirtschafts- und ordnungspolitisch betrachtet sei der Kompromiss „unbrauchbar“. Das sieht die Wirtschaft ähnlich. DIHK-Präsident Ludwig Georg Braun: „Hier kann und muss eine 70-Prozent-Mehrheit im Bundestag einfach mehr und Besseres auf die Beine stellen.“ Die Reform sei kein großer Wurf: „Letztlich wird es nur für alle teurer“.

Auch aus der SPD kam Schelte. SPD-Fraktionschef Peter Struck warf der Kanzlerin vor, sie habe sich nicht an die vereinbarte höhere Steuerfinanzierung des Gesundheitssystems gehalten. „Offenbar musste sie dem Druck der Ministerpräsidenten nachgeben“, vermutet Struck und erhielt hier Bestätigung von der SPD-Linken Andrea Nahles.

Die Regierung zementiere mit ihrer Gesundheitsreform die soziale Schieflage bei der Finanzierung, bemängelte auf anderer Seite der DGB. Bei einer faktischen Festschreibung der Arbeitgeber-Beiträge „droht diese Schieflage für alle Zeit in Stein gemeißelt zu werden“.

Willkommen im Kassensozialismus

FDP-Gesundheitsexperte Daniel Bahr warf der Koalition dagegen einen „Kassensozialismus“ vor. Den Versicherten müsste weit mehr Eigenverantwortung zugetraut werden. Diese müssten selbst entscheiden, wie ihr Versicherungsschutz auszusehen habe.

Auch der Vorsitzende der JU, Philipp Mißfelder, meinte, von einem Erfolg könne keine Rede sein, „weil weder Wettbewerb noch Sparsamkeit Leitlinien der Reform sind“. Für die junge Generation sei nichts erreicht worden. „Wir sind enttäuscht von unseren Verhandlungsführern, da das Thema demografischer Wandel offensichtlich keine Priorität hat und die Probleme in die Zukunft vertagt werden“, sagte Mißfelder. Der SPD-Nachwuchs zeigte sich ebenfalls unzufrieden mit dem Beschluss. Die sozialdemokratische Handschrift sei bei dem Kompromiss kaum erkennbar, sagte der Juso-Bundesvorsitzende Björn Böhning.

Ärzte und Kassen sparten ebenfalls nicht mit Kritik: „Eine Blaupause für eine nachhaltige Finanzreform der gesetzlichen Krankenversicherung sind diese Eckpunkte nicht“, sagte der Präsident der Bundesärztekammer Prof. Dr. Dr. Jörg-Dietrich Hoppe. „Man bleibt die Antwort schuldig, wie Ärzte und Patienten mit schon bestehender Unterfinanzierung und Rationierung umgehen sollen.“

Eine nachhaltige Finanzierung forderte auch die KBV-Führung: „Es ist eine Tatsache, dass wir den hohen quantitativen und qualitativen Stand der ambulanten Versorgung nur erhalten können, wenn die chronische Unterfinanzierung beseitigt wird“, betonten die beiden KBV-Vorstandsmitglieder Dr. Andreas Köhler und Ulrich Weigeldt.

Ein Fonds, den keener braucht

Ungewöhnlich hart fiel auch das Urteil der Krankenkassen aus. „Dies ist ein Fonds, den keiner braucht, nicht die Versicherten, nicht die Patienten, nicht die Arbeitgeber, nicht die Krankenkassen“, hieß es in der Pressemitteilung der Spitzenverbände. Der Plan der Koalition, Beiträge und Steuern erst in einem Fonds zu sammeln, um sie dann auf die Kassen zu verteilen, würde die Versicherten mehr belasten und mehr Bürokratie bedeuten.

Die PKV sei hingegen mit einem blauen Auge davon gekommen. Sie bliebe nicht nur bei der Finanzierung des Gesundheitsfonds außen vor. Alles fiele weg, was einige, die die Anforderungen eigentlich erfüllten, bisher von einem Wechsel in die private Versicherung abhielt. So mussten PKV-Mitglieder bisher für ihre Kinder eigene Beiträge entrichten. Mittelfristig soll die Kinderversicherung nun über Steuern finanziert werden. „Die privat Krankenversicherten sind die großen Gewinner der Reform“, erklärt Gert Wagner, Forschungsdirektor am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin.

FDP-Parteichef Guido Westerwelle warf den Regierungsparteien indes Wahlbetrug vor und sprach sich für Neuwahlen aus: „Ein vorzeitiges Ende dieser Regierung wäre das Beste für Deutschland“.

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