Die neue Unübersichtlichkeit
Integrierte Versorgung (IV) ist eine relativ neue sektorenübergreifende Versorgungsform im deutschen Gesundheitswesen (siehe Kasten). Sie soll eine stärkere Vernetzung der verschiedenen Fachdisziplinen und Sektoren (Hausärzte, Fachärzte, Krankenhäuser) fördern, um so die Qualität der Patientenversorgung zu verbessern und gleichzeitig die Kosten im Gesundheitswesen zu senken. Das Bundesgesundheitsministerium spricht gar von der „Versorgungsform der Zukunft“. Im zahnmedizinischen Bereich spielen IV-Modelle bisher noch keine Rolle. Eine Fachtagung in Hannover, durchgeführt von der AOK Niedersachsen, den Paracelsus-Kliniken Deutschland und der Akademie für Sozialmedizin Hannover, griff Probleme und Fragestellung rund um die IV auf und stellte vor allem die Belange des Patienten in den Fokus der Betrachtungen.
Lernprozess
Prof. Dr. Volker Amelung, Medizinische Hochschule Hannover, unterstrich in seiner Einleitung, dass die integrierte Versorgung politisch gewollt sei und dass erste gute Ergebnisse dem Gesetzgeber Anreize für eine Weiterentwicklung gegeben hätten. Ob das Ganze von der Warte der Vertragspartner her als Erfolgsgeschichte angesehen werden könne, sei offen. Fragen rund um Nachhaltigkeit, Transparenz, dem Wertschöpfungspotential oder dem Organisationsgrad könnten noch nicht abschließend beantwortet werden. Trotz guter Ansätze in den letzten Jahren sei aber noch zu wenig verfolgt worden, was der Versicherte eigentlich von Integrierter Versorgung habe – sowohl was Transparenz, Wahlmöglichkeit oder auch finanzielle Anreize betreffe. IV unterliege einem immensen Lernprozess, der Suchprozess sei noch nicht abgeschlossen. Als einen wichtigen Schritt des Gesetzgebers bezeichnete Franz Knieps, Bundesgesundheitsministerium, die Entscheidung zur Kassenwahlfreiheit. Ähnlich wie in den Niederlanden hält er auch für Deutschland die Entwicklung hin zu einem einheitlichen Versicherungsmarkt von privaten und gesetzlichen Kassen für wahrscheinlich. Knieps´ Prognose: Zunehmend werde es dem Versicherten darum gehen, den Markt zu beobachten und zu prüfen, welche Angebote seine Krankenkasse ihm mache. Wer chronisch krank sei, der werde auch mehr Kenntnis über Versorgungsmöglichkeiten benötigen.
Die Frage laute dann: „Wie orientiere ich mich im Angebot der Krankenkasse“ und nicht „Welche Kasse nehme ich?“. Die Wahlmöglichkeit von Tarifen werde immer wichtiger. Für die Kasse stellt sich laut Knieps die Frage, welches Angebot sie dem Patienten darlegt, sie erhält dafür mehr Gestaltungs- und Innovationsmöglichkeit durch den Wettbewerb. Auf der anderen Seite müssten alle Akteure aber auch mit einer „neuen Unübersichtlichkeit“ leben. Das bedeute: mehr Aufklärung, mehr Versorgungs- und Marktforschung, mehr Qualitätsberichte und mehr Information an und für den Patienten.
Für die informationelle Selbstbestimmung des Patienten setzte sich Stefan Edgeton, Verbraucherzentrale Bundesverband, ein. Der Patient habe es in der Hand, Datenströme zusammenzufügen. Das Gesundheitswesen sei immer noch zu stark anbieterdominant, kritisierte er. So sei das klassische freiberufliche Arztbild nicht gerade förderlich für Kooperationen und Vernetzung. Die bisherigen Regelungen der integrierten Versorgung zeigten, dass es sich bei diesem Modell insgesamt um ein „mühsames Geschehen“ handele. Verträge und Qualität seien intransparent und die Nutzerorientierung oft schwer nachvollziehbar. Auch monierte er, dass bei IV-Verträgen Patientenorganisationen meist nicht einbezogen seien. Edgeton verwies auf das nach dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz neu zu errichtende unabhängige Institut zur Qualitätssicherung und plädierte vehement dafür, dass dieses nicht von Interessensträgern beeinflusst werden dürfe.
Kassen müssen sich positionieren
Aus Sicht der Krankenkassen verwies Brigitte Käser, AOK Niedersachsen, auf die Integrierte Versorgung als Wettbewerbsinstrument. Bisher sei die Treue der Versicherten zu ihrer Kasse noch relativ ausgeprägt. Der Kassenwettbewerb habe sich aber in den letzten Jahren verstärkt. Ab 2007 sei ein immer intransparenter werdender Markt zu erwarten, mit Bonus- und Hausarztmodellen, Kostenübernahmemöglichkeiten, Wahltarifen und einer steigenden Vielfalt von Leistungs- und Versorgungsangeboten. „Die Kassen müssen sich jetzt positionieren“, unterstrich sie und zeigte anhand von konkreten Beispielen verschiedene Optionen dafür auf. Dazu gehörte ein AOK-Hausarztmodell für Kinder und Jugendliche oder ein Vertrag mit einem Pflegedienst in Hannover für die Behandlung von Patienten mit Parkinson, MS oder HIV. Ihr Resümee: IV diene sowohl als Instrument zur Markendifferenzierung als auch als Kostensenkungsinstrument, um im Preiswettbewerb zu bestehen. Krankenkassen sollten das Modell mit beiden Zielrichtungen einsetzen, um Wettbewerbsnachteile zu vermeiden.
Prof. Dr. Heinrich Hanika, Fachhochschule Ludwigshafen, stellte die in der Öffentlichkeit oft zitierte Mündigkeitsmetapher des Patienten in Frage. Die Kassen seien gefordert, den Patienten zu führen und dieser habe seinerseits auch das Recht auf Information. Viele Patienten seien schlichtweg überfordert mit zuviel Wissen. Auch warnte er vor dem Prinzip der überzogenen Autonomie und brach eine Lanze für den Arzt als stützendes Element im Behandlungsprozess. Sein Pädoyer an die Kassen: „Macht mir die Ärzte nicht kaputt mit zu viel Bürokratie!“
Die Tagung wurde abgerundet mit der Vorstellung verschiedener Praxisberichte aus stationärer und ambulanter Sicht sowie eines Beispiels für patientenzentrierte psychiatrische Versorgung. Fazit der Erfahrungen dort: IV-Modelle können einen Beitrag zu mehr Versorgungsqualität und Patientenzufriedenheit leisten. Ganz entscheidend dabei sind aber Aspekte wie Kommunikation, Information und Transparenz über das, was mit dem Patienten geschieht.