Harmonisierung und Gesundheitsmarkt Europa

Noch scheiden sich die Geister

Heftarchiv Gesellschaft
Für Arzneimittel und medizinische Produkte ist der europäische Gesundheitsmarkt längst Wirklichkeit. Für Versorgungsleistungen gewinnt er zunehmend an Bedeutung. Doch über das „Wie“ sind sich die Experten uneins, zumal unterschiedliche Systeme nicht einfach harmonisiert werden können. Während die einen sich dafür aussprechen, das Zusammenwachsen der Gesundheitssysteme aktiv anzugehen, um das Marktpotenzial voll auszuschöpfen, wollen andere die Entwicklung nicht unnötig vorantreiben, aus Angst vor Verlust an Kompetenzen und Einbußen bei der Qualität der Versorgung.

Deutlicher könnten die Unterschiede kaum ausfallen: Die Hälfte der Bundesbürger wünscht sich keinen einheitlichen europäischen Gesundheitsmarkt. Sie fürchten negative Auswirkungen auf die medizinische Versorgung durch einheitliche Mindeststandards. Nur zwölf Prozent der Deutschen gehen davon aus, dass es überhaupt einmal ein europäisches Gesundheitssystem geben wird. Das ergab eine aktuelle Umfrage des Berliner Meinungsforschungsinstituts Forsa. Ganz anders sehen dies Politiker und Interessenvertreter aus Brüssel, die sich regelmäßig mit den Folgen einer Angleichung der Gesundheitssysteme im europäischen Binnenmarkt beschäftigen. Sie glauben mehrheitlich, dass nur eine Harmonisierung die medizinische Versorgung in Europa langfristig verbessern kann.

Health First Europe (HFE), ein Zusammenschluss von Ärzten, Patienten, Pflegekräften, Wissenschaftlern und Vertretern aus der Industrie, ermittelte, dass 41 Prozent der Brüsseler Meinungsmacher sich ein EU-weites Gesundheitssystem durchaus vorstellen können. Dies ist nach Ansicht von HFE ein Beleg dafür, dass in den letzten Jahren auf europäischer Ebene das Bewusstsein dafür gewachsen sei, die gesundheitliche Versorgung unter einer grenzüberschreitenden Perspektive zu betrachten.

Dieser Meinungswandel rührt nicht zuletzt aus der Erkenntnis, dass gänzlich andere Politikfelder als die Gesundheitspolitik, allen voran die europäische Wettbewerbs-, Beschäftigungs- und Forschungspolitik, längst dafür sorgen, dass die Märkte und Systeme mehr und mehr zusammenwachsen. „Noch vor Jahren wäre es allerdings undenkbar gewesen, über solche Fragen offen zu diskutieren“, sagt Bernard Merkel, Leiter der Abteilung Gesundheitsstrategie bei der Generaldirektion Gesundheit und Verbraucherschutz (GD Sanco) der Europäischen Kommission.

Zusätzliche Dynamik

Inzwischen gehören Gesprächsrunden, Seminare und Konferenzen zur Entwicklung des europäischen Gesundheitsmarktes ebenso zum Alltag in Brüssel und anderswo, wie Veranstaltungen zu klassischen europäischen Themen. Aktuelle Bestrebungen der Europäischen Union (EU), die grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung zu regeln, verleihen der Entwicklung darüber hinaus eine zusätzliche Dynamik.

Noch ist zwar nicht sicher, wie sich die EU eine Regelung der Mobilität von Patienten, Ärzten, Zahnärzten und den Angehörigen von anderen Gesundheitsberufen sowie aller mit einem grenzüberschreitenden Gesundheitsmarkt zusammenhängenden Fragen konkret vorstellt; Klarheit hierüber wird es wahrscheinlich erst Ende des Jahres geben. Auf jeden Fall aber soll die Initiative den nationalen Gesundheitsmärkten und damit der EU insgesamt neue wirtschaftliche Impulse geben, so der Leiter der GD Sanco, Robert Madelin.

Aus Sicht von Fachleuten ist dies nicht genug. Europäische und nationale Institutionen müssten endlich den Mut aufbringen, sich klar für einen europäischen Gesundheitsmarkt auszusprechen, sagt Dr. Hans Stein. Stein leitete von 1991 bis Ende 2002 das Referat „Europäische Gesundheitspolitik“ im Bundesgesundheitsministerium und ist heute als gesundheitspolitischer Berater auf nationaler und europäischer Ebene aktiv.

Dem Credo für einen europäischen Gesundheitsmarkt steht jedoch das unerschütterliche Glaubensbekenntnis der EU-Länder gegenüber, keine Kompetenzen für die Organisation der Gesundheitssysteme von der nationalen auf die europäische Ebene übertragen zu wollen. Dabei fehlen bislang Analysen, wie groß die Gefährdung für die Stabilität der Gesundheitssysteme durch eine verstärkte wirtschaftliche Austauschbeziehung von Gesundheitsleistungen, -personal und -gütern zwischen den EU-Ländern tatsächlich ist.

„Es gibt kaum systematisch ausgearbeitete Vorstellungen dazu, in welcher Weise der Prozess der europäischen Integration die nationalen Gesundheitsversorgungs- und -finanzierungsstrukturen verändert“, heißt es zum Beispiel in einem Gutachten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW).

Diese Zurückhaltung hält Stein für nicht ganz ungefährlich. Denn der europäische Binnenmarkt und die Erweiterung der EU würden einen wachsenden Druck auf die nationalen Gesundheits- und Sozialsysteme ausüben. „Kosten, Preise, Qualität und Effizienz der unterschiedlichen Systeme werden transparenter und vergleichbarer. Unterschiede werden bei Ungleichheiten auch vermehrt politisch erklärungsbedürftig“, so der gesundheitspolitische Experte in einem Beitrag für den Band „Wettbewerb und Solidarität im europäischen Gesundheitsmarkt“ (siehe Kasten).

Impulsgeber Deutschland

Nach Meinung von Thomas Zimmermann, Referent im Bereich Gesundheitswesen der Techniker Krankenkasse (TK) Rheinland- Pfalz, könnte indessen gerade Deutschland ein wichtiger Impulsgeber für den europäischen Gesundheitsmarkt sein. Allerdings sei es notwendig, sich rechtzeitig auf europäische Entwicklungen auszurichten, um das wachstums- und beschäftigungsfördernde Potenzial der Gesundheitsbranchen langfristig voll nutzen zu können.

Derzeit arbeiten in Deutschland rund 4,2 Millionen Menschen im Gesundheitswesen. Das Hamburger Weltwirtschaftsinstitut geht davon aus, dass bis zum Jahr 2020 1,2 Millionen Arbeitsplätze hinzukommen können – grundlegende Umstrukturierungen auf nationaler und ein Umdenken auf europäischer Ebene vorausgesetzt.  

Bisherige Ansätze, grenzüberschreitende Aktivitäten im Gesundheitsbereich durch Reformen zu fördern, fruchten indessen kaum. Das liegt vor allem an der Halbherzigkeit der Maßnahmen.  

Als Beispiel nennt Dr. Bernd Schulte vom Münchner Max-Planck-Institut für Internationales und Sozialrecht eine Vorschrift im Sozialgesetzbuch V, die den Krankenkassen das Recht einräumt, mit Ärzten und Zahnärzten im europäischen Ausland Einzelverträge abzuschließen. Leider habe es der Gesetzgeber versäumt, zugleich die Vergütungsfrage zu regeln, kritisiert Schulte. Die Folge: „Da den Krankenkassen durch solche Vereinbarungen zusätzliche Kosten entstehen würden, weil sie die Leistungen der ausländischen Vertragspartner nicht aus dem Gesamtbudget bezahlen dürfen, ist diese Option für sie gegenwärtig nicht attraktiv“, so der Jurist.

In den Niederlanden, die im Zuge der Privatisierung ihres Krankenversicherungssystems auch ausländischen Unternehmen das Recht eingeräumt haben, niederländische Bürger zu versichern, kommt der grenzüberschreitende Wettbewerb ebenfalls nicht in Gang. Hier schrecken die nach wie vor weitreichenden staatlichen Eingriffsmöglichkeiten in den Markt die ausländischen Krankenversicherer ab.

Offene Methode zeigt wenig Wirkung

Auch das politische Instrument der Offenen Methode der Koordinierung (OMK), das auf europäischer Ebene die Modernisierung der Sozialschutzsysteme vorantreiben soll, entfaltet bislang wenig Wirkung. Ziel der OMK ist es, über einen regelmäßigen Erfahrungs- und Informationsaustausch zwischen den EU-Ländern die Versorgungsniveaus anzugleichen und das Wachstum im Gesundheitsmarkt anzukurbeln. Politische Strategien, die sich in einem Land bewährt haben, sollen als Vorbild für andere Länder dienen.

Das kann sich in der Praxis aufgrund der unterschiedlichen Gesundheitssysteme und Rechtslagen jedoch als äußerst schwierig erweisen. „Gute Beispiele können natürlich nicht einfach so von allen EU-Ländern kopiert werden“, räumt selbst EU-Generaldirektor Madelin ein. Die OMK sei daher ein „sehr langwieriger Prozess“.

Wie langwierig und schwierig der Prozess ist, zeigt auch die mühsame Suche nach Indikatoren, mit denen die Länder im Rahmen der OMK ihre Reformerfolge messen sollen. Hierunter sollen zum Beispiel die gesunde Lebenserwartung, also die Spanne, in der ein Mensch weitgehend krankheitsfrei durchs Leben geht, oder der Prozentsatz der Bevölkerung ohne Versicherungsschutz fallen.

„Am Ende kommen wahrscheinlich nur rhetorische Leerformeln heraus, mit der sich die Diversität der nationalen Gesundheitssysteme nicht erfassen lässt“, prophezeit Andreas Meusch, Leiter der TK-Landesvertretungen. Die OMK sei daher in erster Linie für wissenschaftliche Institutionen, die die Indikatoren im Auftrag der EU-Kommission entwickeln sollen, ein brillantes Instrument zur Drittmittelbeschaffung, fügt er provozierend hinzu.

Schwächen wie die der OMK beweisen für Bernhard Merkel immer wieder, dass die EU nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, der Bedeutung des Themas Gesundheit für Europa gerecht zu werden. „Die Kluft zwischen dem grundsätzlichen Bewusstsein für die Probleme und den Möglichkeiten, die wir haben, diese gemeinsam zu lösen, ist einfach noch viel zu groß“, bemängelt Merkel

Um diese Lücke zu schließen, wäre eine rechtliche Ausweitung der Kompetenzen der EU in der Gesundheitspolitik erforderlich. Eine Option, die sich immerhin bereits ein Drittel der von HFE befragten Meinungsbildner in Brüssel wünscht.  

Petra SpielbergRue Colonel Van Gele 98B-1040 Brüssel

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