Politik gefesselt
Klaus Heinemann
Freier Journalist
Wenn sich im Zuge der globalen Finanzkrise auch die Erkenntnis Bahn gebrochen hat, dass den Prognosen sogenannter Ökonomie-Experten mit einer gehörigen Portion Skepsis zu begegnen ist, so lassen sich doch manifeste Entwicklungen ausmachen. Die Steuereinnahmen des Staates brechen weg, während die Ausgaben weiter steigen. So knickten die Eingänge aus der Körperschaftssteuer im Juni um die Hälfte ein im Vergleich zum Vorjahreszeitpunkt. Zugleich explodieren die Kosten für die Bewältigung der Krise.
Vorsichtigen Berechnungen zufolge könnten die wachsende Arbeitslosigkeit und die soeben erhöhten Hartz-IV-Regelsätze den Bund bis 2013 mit zusätzlich etwa 100 Milliarden Euro belasten. Die Bundesagentur für Arbeit rechnet allein im kommenden Jahr mit einem Defizit von 22 Milliarden Euro. Da der Bund für diese Finanzierungslücke haftet, sein Etat jedoch bereits jetzt bis zum Äußersten überspannt ist, wird der bis Ende 2010 auf 2,8 Prozent festgeschriebene Beitragssatz wohl spätestens 2011 kräftig angehoben werden müssen.
In der Gesetzlichen Krankenversicherung wird für das laufende Jahr ein Defizit von rund drei Milliarden Euro erwartet. Dieses überbrückt der Bund durch die Gewährung eines Darlehens. Dieses Darlehen muss jedoch bis Ende 2011 zurückgezahlt werden. Wie die Kassen das bewerkstelligen sollen angesichts sinkender Einnahmen als Folge steigender Arbeitslosigkeit, bleibt ein Rätsel. Da dieses Dilemma auch nicht durch die gesetzlich mögliche Erhebung eines Zusatzbeitrages von den Versicherten gelöst werden kann, wird wohl der erst zur Jahresmitte auf 14,9 Prozent abgesenkte allgemeine Beitragssatz mindestens wieder auf seine ursprüngliche Höhe von 15,5 Prozent heraufgesetzt werden müssen – trotz eines Steuerzuschusses in zweistelliger Milliardenhöhe.
In der gesetzlichen Rentenversicherung verläuft die Entwicklung ebenfalls negativ. Das Defizit beträgt in diesem Jahr vier Milliarden Euro, kann aber noch aus Rücklagen gedeckt werden. Auch in diesem Sozialsystem ist der Bund mit einem Steuerzuschuss von inzwischen 80 Milliarden Euro involviert. Da diese Altersversicherung ebenfalls höchst sensibel auf Beschäftigung und Arbeitslosigkeit reagiert, ziehen auch hier schwarze Wolken auf. Vor diesem Hintergrund mutet es geradezu abenteuerlich an, ein politisches Versprechen in Gestalt einer Garantie gegen sinkende Bezüge abzugeben. Das dürfte ausschließlich der bevorstehenden Wahl geschuldet sein und über eine entsprechend kurze Halbwertszeit verfügen. Und schließlich hören wir noch vollmundige Versprechungen hinsichtlich einer überfälligen Reform der gesetzlichen Pflegeversicherung. Hier soll für die Eingruppierung in eine der Pflegestufen ein neuer Begriff der Pflegebedürftigkeit eingeführt werden. Dieser würde eine Abkehr vom zeitlichen Aufwand der Pfleger bedeuten. Maßstab soll dann allein der „Grad der Selbstständigkeit“ des zu Pflegenden sein. So wünschenswert dies auch sein mag, die damit einhergehenden Kostensteigerungen sind mit dem derzeitigen Beitragssatz nicht zu stemmen. Also: Beitragssatz-Anhebung.
Wenn das Szenario zutrifft, demzufolge sich die Zahl der Arbeitslosen allein im kommenden Jahr um 900 000 auf dann 4,6 Millionen im Jahresdurchschnitt und zum Jahresende eventuell sogar auf fünf Millionen erhöhen wird (im Herbst 2008 lag sie noch unter drei Millionen), so spiegelt das die ganze Dramatik. Das deutsche Sozialsystem ist zwar in seiner strukturellen Ausprägung vorbildlich, jedoch extrem störanfällig. Und es ist auch alles andere als zukunftsfest. So gesehen, dürften sich die Jahre nach der Bundestagswahl – politisch gesehen – eher durch rigide und damit unpopuläre Sparzwänge als durch gestalterische Aktivitäten auszeichnen. Die Quittung kommt dann 2013.
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