Gesundheitsreform in den USA

Ein Sieg der Vernunft

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Heftarchiv Gesellschaft
pr
Gegen alle Widerstände hat US-Präsident Barack Obama seine Gesundheitsreform durchgeboxt. Die im Land stark umstrittene Reform hat die Hürde Repräsentantenhaus genommen. Damit hat Obama sein größtes innenpolitisches Ziel erreicht – selbst wenn wichtige Kernpunkte des ursprünglichen Konzepts nicht umgesetzt werden konnten.

Bis zuletzt mussten die Demokraten um die nötigen Stimmen bangen – doch es reichte tatsächlich: Das US-Repräsentantenhaus hat die umstrittene Gesundheitsreform mit 219 zu 212 Stimmen abgesegnet. Es ist eine historische Entscheidung. Und ein wichtiger Sieg für Präsident Obama. „So sieht der Wandel aus“, stellte Obama nüchtern fest. Die Abstimmung sei aber keineswegs ein Sieg für ihn oder die demokratische Partei gewesen, „sondern ein Sieg der Vernunft“.

Die Großreform soll in mehreren Stufen bis 2018 in Kraft treten und in den kommenden Jahren bis zu 32 Millionen unversicherten Amerikanern die Mitgliedschaft in einer Krankenkasse ermöglichen. Mit dem Gesetz wird erstmals eine Grundabsicherung für alle Amerikaner zur Pflicht. Wer sich versichern kann, aber nicht will, muss eine Strafabgabe von bis zu 2,5 Prozent seines Einkommens zahlen. Auch die Unternehmen werden in die Pflicht genommen: Sie werden zwar nicht direkt gezwungen, ihre Mitarbeiter selbst zu versichern – Betriebe mit mehr als 50 Beschäftigten müssen allerdings Strafgebühren zahlen, wenn ihre Angestellten aufgrund eines niedrigen Einkommens staatliche Zuschüsse für ihre Versicherung benötigen.

Mehr Verbraucherschutz

Das Gesetz verbietet es künftig den privaten Versicherungen, Versicherungsnehmer wegen Vorerkrankungen abzulehnen oder bestehende Verträge zu kündigen, wenn eine mit hohen Kosten verbundene Krankheit eintritt. Diese Praktiken gingen in der Vergangenheit teilweise so weit, dass die Versicherungskonzerne systematisch nach Ausschlussgründen im Leistungsfall suchten. Die Konzerne dürfen auch keine Aufschläge mehr wegen des Geschlechts oder des Gesundheitszustands von Versicherten verlangen. Der Gesetzestext enthält zudem zahlreiche weitere Vorgaben zum Verbraucherschutz, die die Stellung der Versicherten gegenüber ihren Kassen stärken sollen.

Eine der Kernforderungen linker Demokraten – die Einrichtung einer staatlichen Krankenkasse als Konkurrenz zur privaten Versicherungswirtschaft – konnte Obama allerdings nicht durchsetzen. Stattdessen sollen die US-Bundesstaaten ab 2014 sogenannte Gesundheitsbörsen einrichten, an denen die Bürger Policen vergleichen und kaufen können.

Das öffentlich finanzierte Versicherungsprogramm Medicaid, das die Krankenversicherung der Ärmsten sichert, wird durch das Anheben der Einkommensgrenzen erheblich ausgeweitet. Studenten ohne eigenes Einkommen bleiben bis zum Alter von 26 Jahren bei den Eltern mitversichert. Mit all diesen Maßnahmen will die US-Regierung erreichen, dass künftig 95 Prozent der Bürger krankenversichert sind. Derzeit sind es 83 Prozent. Die rund 15 Millionen illegalen Einwanderer bleiben allerdings weiterhin von jeder Versicherungsmöglichkeit ausgeschlossen.

Zuschüsse für Geringverdiener

Die Finanzierung der Reform wird die USA in den nächsten zehn Jahren rund 940 Milliarden Dollar (696 Milliarden Euro) kosten. Neben der Ausweitung des staatlichen Krankenversicherungsprogramms Medicaid treiben auch staatliche Zuschüsse für Geringverdiener die Kosten in die Höhe. So haben Familien mit einem Jahreseinkommen unterhalb von 88 000 Dollar (65 000 Euro) künftig Anspruch auf staatliche Unterstützung.

Die Finanzierung der Reform war – vor allem vor dem Hintergrund der immer noch zu bewältigenden Weltwirtschaftskrise – einer der Hauptstreitpunkte in der monatelangen politischen Auseinandersetzung zwischen Demokraten und Republikanern.

Einer Schätzung der US-Budgetbehörde zufolge wird die Reform allerdings langfristig Einsparungen bringen, die die Kosten übersteigen. Demnach wird erwartet, dass die Reform in den ersten zehn Jahren Einsparungen in Höhe von 138 Milliarden Dollar bringt, im zweiten Jahrzehnt sollen es sogar 1,2 Billionen Dollar sein. Zur kurzfristigen Finanzierung der Reform sollen unter anderem höhere Sozialabgaben für Familien mit einem Einkommen oberhalb von 250 000 Dollar (184 500 Euro) beitragen.

Geschichte geschrieben

Mit der Verabschiedung der Gesundheitsreform hat Obama Geschichte geschrieben. Beinahe hundert Jahre lang sind amerikanische Präsidenten – von Theodore Roosevelt bis Bill Clinton – mit der Einführung einer Krankenversicherung für alle Amerikaner gescheitert. Obama hat mit der Verabschiedung des Gesetzes bewiesen, dass er nicht nur ein Präsident der Ankündigungen ist. Doch der innenpolitische Etappensieg hat einen hohen Preis: Die Reform hat das Land tief gespalten. Noch nie in der US-Historie ist ein derartig gesellschaftlich relevantes Gesetz ohne eine einzige Stimme aus den Reihen der Opposition verabschiedet worden. Die hitzige und emotionale Debatte in der Kongresskammer führte drastisch vor Augen, wie ideologisch tief gespalten das Land in dieser Frage ist.

Das erbitterte Ringen um die Reform – auch innerhalb der demokratischen Partei – hat Obamas Ansehen bereits deutlich ge-schadet, wie unlängst die schwerwiegende Niederlage bei der Senatsnachwahl in Massachusetts gezeigt hat. Die Republikaner hingegen bildeten in den vergangenen Monaten eine einheitliche Front und schafften es, eine gemäßigte Gesundheitsreform in der Bevölkerung zu einem sozialistischen Putsch zu stilisieren. Und sie verstanden es, die Ängste und die Unsicherheit im Land in eine Protestbewegung umzumünzen – die Geburt der „Tea-Party-Bewegung“.

Der Disput geht weiter

Passend zum chaotischen Entstehungsprozess des Gesetzes verlief dann auch noch das Finale. Nachdem die spannende Abstimmung im Kongress zunächst knapp, aber erfolgreich für die Demokraten verlaufen war, monierten die Republikaner umgehend verschiedene Verfahrensfehler. Ein letztes taktisches Manöver, denn es handelte sich nur um kleinere Fehler, die leicht zu korrigieren waren. So konnte die Gesundheitsreform – mit einer parlamentarischen Ehrenrunde im Abgeordnetenhaus – eine Woche später auch vom Senat endgültig verabschiedet werden. Mit der anschließenden Unterschrift Obamas ist das Gesetz in Kraft getreten.

Doch die Auseinandersetzung über die Reform ist damit noch nicht beendet. Die Generalstaatsanwälte von 14 Bundesstaaten haben laut US-Medien unmittelbar nach der Unterzeichnung des Gesetzes Klage gegen die Reform eingereicht, weil sie sie für verfassungswidrig halten. Der Disput über das neue Gesetz wirft bereits jetzt seinen Schatten auf die bevorstehenden Zwischenwahlen im November, bei denen das Repräsentantenhaus und die Hälfte der Senatorensitze neu bestimmt werden. Die Republikaner haben angekündigt, die Gesundheitsreform zum Hauptwahlkampfthema zu machen und die demokratischen Abgeordneten, die dem Gesetz in letzter Minute doch noch ihre Zustimmung gegeben haben, im Wahlkampf öffentlich an den Pranger zu stellen.

Otmar MüllerGesundheitspolitischer Fachjournalistmail@otmar-mueller.de

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