Geschichtsaufarbeitung

Chirurgen unterm Hakenkreuz

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Heftarchiv Gesellschaft
In einem aktuellen Band beschäftigt sich die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie (DGCH) mit ihrer Rolle während der Nazidiktatur. Viele Chirurgen sympathisierten mit der Ideologie der Nationalsozialisten und profitierten davon in ihrem beruflichen Fortkommen.

Die DGCH arbeitet das dunkelste Kapitel ihrer Geschichte auf: In dem neu erschienenen Band „Deutsche Gesellschaft für Chirurgie 1933 – 1945. Die Reden der Präsidenten“ wird die Rolle des Verbands während der Nazizeit analysiert. Die Autoren, die Historiker Michael Sachs, Heinz-Peter Schmiedebach und Rebecca Schwoch, konzentrieren sich dabei auf die Biografien der Präsidenten, speziell deren Kongressreden und Niederschriften (den sogenannten „Roten Büchern“), wodurch ein unmittelbares Bild der Zeit und der Haltung der Männer gegenüber der Diktatur gezeigt werden soll.

Damit widmet sich nun auch die DGCH der nötigen Aufarbeitung unter Medizinern – in den letzten Jahren beschäftigten sich bereits Psychiater und Kinderärzte mit ihrer Rolle in der NS-Zeit. Die Geschichte der Chirurgen zwischen 1933 und 1945 war bislang nur ungenügend erforscht worden. Mit dem Band setze die Fachgesellschaft ein Zeichen gegen das Verschweigen und Vergessen, sagten die Herausgeber, Ex-DGCH-Präsident Hans-Ulrich Steinau und DGCH-Generalsekretär Hartwig Bauer, bei der offiziellen Vorstellung in Berlin.

Mitläufer und Helfer

Dass Ärzte in die Verbrechen der Nationalsozialisten tief verstrickt waren, sei es als opportune Mitläufer oder als willige Helfer, ist unbestritten. Dennoch dauerte es Jahrzehnte, bis sich die Professionen beziehungsweise die Ärzteschaft als Ganzes mit dem Thema auseinandersetzten.

Im März dieses Jahres legte zum Beispiel die Bundesärztekammer (BÄK) einen unabhängigen Forschungsbericht zum Thema „Medizin und Nationalsozialismus“ vor, der sich umfassend mit der Materie beschäftigte. „Ärzte haben in der Zeit des Nationalsozialismus aktiv an der systematischen Ermordung von Kranken mitgewirkt“, sagte der damalige BÄK-Präsident Jörg- Dietrich Hoppe bei der Vorstellung des Berichts. „Außerdem haben sich führende Vertreter der Ärzteschaft an der Vertreibung ihrer jüdischen Kolleginnen und Kollegen beteiligt. Auch wenn die Mitschuld der Ärzte an den Verbrechen der NS-Gewaltherrschaft im Rahmen verschiedener Forschungsprojekte wissenschaftlich untersucht wurde, ist die Rolle der Ärzteschaft im Nationalsozialismus bei Weitem nicht ausreichend aufgearbeitet worden.“

In der Zeit nach 1945 war es bei den Chirurgen üblich, kompromittierende Äußerungen und Passagen in den Reden und in den „Roten Büchern“ zu entfernen. Die „dunkle Zeit“ sollte hinter sich gelassen werden, Vergangenheitsbewältigung stand in der Nachkriegszeit und den Anfangsjahren der Bundesrepublik nicht auf der Tagesordnung. Erst im Jahr 2003 gelangten ungekürzte Teile an die Öffentlichkeit.

Von fast 2 600 Mitgliedern der DGCH konnten die Autoren des Buches 217 Personen identifizieren, die teils aus rassistischen, teils aus politischen Motiven expatriiert, interniert oder ermordet wurden. Dies geschah oft mit Billigung, mindestens aber ohne Protest ihrer Kollegen.

Chirurgen waren den Recherchen zufolge während der Nazizeit an Versuchen an KZInsassen, an Zwangssterilisationen und an der Bestimmung von sogenanntem „lebensunwertem Leben“ beteiligt.

Die meisten Chirurgen suchten also nicht die Opposition zum Hitler-Regime – im Gegenteil: Viele bejahten das nationalistische Gedankengut. Nur wenige hätten sich anfänglich diesem Regime entziehen wollen, bestätigt Steinau.

Laut den Autoren waren die Chirurgen geprägt durch strenge Hierarchien in Kliniken, durch politisch instabile Verhältnisse in der Weimarer Republik und durch ein politisch konservatives Umfeld, einige hatten Sanitätserfahrungen im Ersten Weltkrieg gesammelt. Auf diesem Nährboden konnten nationalsozialistische Ideen gut gedeihen.

Der NSDAP-Chirurg

Als beispielhaft für die damalige Zeit kann die Biografie von Rudolf Stich gelten, auf die auch im Buch näher eingegangen wird. Stich war Mitglied des „Stahlhelms“– dem Bund der Frontsoldaten des Ersten Weltkriegs – und ab 1933 förderndes Mitglied der SS. Stich war ein überzeugter Nationalsozialist – deswegen wurde er 1936 vom sogenannten Ausschuss, der von mehr oder minder überzeugten Sympathisanten des Nationalsozialismus dominiert wurde, für das Amt des Vorsitzenden vorgeschlagen und auch von der Generalversammlung gewählt. Stichs braune Überzeugungen schlugen sich auch in der Eröffnungsrede der 61. Tagung der DGCH im März 1937 nieder. Im selben Jahr trat er der NSDAP bei.

Über die Euthanasiepläne an geistig und körperlich behinderten Menschen wusste der Chirurg ab 1940 durch die Information des Neurologen Gottfried Ewald Bescheid. Daran oder an ähnlich menschenverachtenden Handlungen hat er sich jedoch nicht beteiligt. Nach Kriegsende wurde er im Sommer von den Briten verhaftet, aber bald wieder freigelassen. Aufgrund seiner Verdienste als Arzt wurde Stich 1955 zum Ehrenbürger der Stadt Göttingen ernannt. Er war unter anderem an der Entwicklung der zirkulären Gefäßnaht beteiligt. Auf der Homepage der Stadt Göttingen wird er heute als „einer der wichtigsten Chirurgen Deutschlands“ geführt.

An der Person Rudolf Stich ist der damals beliebte Kompromiss zwischen dem überzeugten Anhängen an der nationalsozialistischen Ideologie und den damit verbundenen Aufstiegsmöglichkeiten einerseits und dem Festhalten an wenigstens ein paar ärztlich- ethischen Grundprinzipien andererseits zu sehen, den einige Chirurgen der damaligen Zeit praktizierten.

Ein Blick zurück nach vorn

Nach der ausführlichen Beschäftigung mit der Geschichte der DGCH fällt das Fazit der Autoren klar aus: „Im nationalsozialistischen System ergaben sich für herausragende Chirurgen Sonderkonditionen. Hervorragende Chirurgie in Kombination mit Parteitreue ermöglichte damals sogar Einlass in die Führeretage, verbunden mit Lehrstühlen und dem Präsidentenamt der DGCH.“

Die Herausgeber Steinau und Bauer sehen in dem Band sowohl eine Aufarbeitung der Vergangenheit als auch eine Verpflichtung, möglichen künftigen Entwicklungen vorzubeugen. Man wollte auf Fragen „der Genese von gewissenlosem Forscherdrang, vorauseilendem Gehorsam, Karrieresucht, verblendetem Rassismus und der Pervertierung ethischer Grundlagen der ärztlichen Profession“ Antworten finden.

Den Chirurgen, die von den Nazis diskriminiert, verfolgt, vertrieben und ermordet wurden, soll sich in Zukunft ein zweiter Band widmen.

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