Seltene Erkrankungen in der EU

Strukturiertes Vorgehen nötig

Seltene Erkrankungen bilden eine sehr heterogene Gruppe von zumeist komplexen Krankheitsbildern. Das macht es oft schwer, sie zu erkennen und zu behandeln. Die EU bemüht sich daher darum, das Wissen über diese Erkrankungen auf europäischer Ebene zusammenzuführen, um die Versorgung für die Betroffenen in allen EU-Staaten zu verbessern. Doch das ist leichter gesagt als getan, denn strukturierte Ansätze sind bislang rar. Die Bemühungen erschöpfen sich derzeit in Projekten, einer intensiven Forschungsförderung und dem Engagement von Selbsthilfegruppen und einigen Spezialisten.

Die Überlebenswahrscheinlichkeit und die Heilungschancen eines Patienten mit einer seltenen Erkrankung hängen mitunter entscheidend davon ab, wo dieser lebt. Für Avril Daly jedenfalls war es Glück, dass sie in Irland beheimatet war, als sie im Alter von 23 Jahren bei der Vorbereitung zum Führerschein die Diagnose Retinitis pigementosa erhielt. Bei der Krankheit handelt es sich um eine seltene, erblich bedingte Augenerkrankung, die in aller Regel zum Erblinden führt.

Retinitis pigementosa

„Irland war aber damals schon führend in der Erforschung von Augenerkrankungen“, berichtet Daly. Das gab der jungen Frau Hoffnung, obwohl ihre Augenärztin ihr prophezeit hatte, dass sie innerhalb von drei Jahren blind sein wird. Dank medizinischer Fortschritte ist Daly dieses Schicksal bis heute aber erspart geblieben.

Den Kampf gegen seltene Erkrankungen fechten dabei nicht nur Ärzte und die Gesundheitsindustrie aus. Viele Erfolge sind vor allem auf das unermüdliche Engagement  von Betroffenen, Angehörigen und Selbsthilfegruppen zurückzuführen. 480 Organisationen aus 45 Ländern haben sich allein der europäischen Patientenvereinigung für seltene Erkrankungen, Eurordis, angeschlossen. Die Organisation vertritt EU-weit knapp 30 Millionen Patienten mit rund 4 000 seltenen Erkrankungen.

Trotz des Einsatzes aller Beteiligten dauert es oftmals Jahre, bis Menschen mit seltenen Erkrankungen erfahren, was der Grund für ihr Leiden ist. Die Kinder von Kay Parkinson, Matthew und Charlotte, aus Großbritannien, waren beispielsweise 18 und 15 Jahre alt, als endlich feststand, dass sie unter dem Alström-Syndrom leiden, eine ebenfalls seltene Erbkrankheit mit mannigfaltigen Auswirkungen auf den Organismus und einer Überlebenswahrscheinlichkeit von maximal 40 Jahren. „Die Diagnosen wechselten so oft wie die Spezialisten“, so Parkinson.

In der gesamten EU sind schätzungsweise knapp 36 Millionen Menschen von einer seltenen Erkrankung betroffen. Das entspricht etwa sieben Prozent der EU-Bevölkerung. Als selten gilt eine Krankheit, wenn nicht mehr als fünf von 10 000 Einwohnern an ihr leiden.

Alström-Syndrom

Rund 8 000 seltene Erkrankungen kennt die Medizin inzwischen. Die meisten dieser Leiden sind nicht heilbar. Durch eine intensive Betreuung und medikamentöse Unterstützung lassen sich allerdings die Lebensqualität der Betroffenen oftmals deutlich verbessern und manchmal auch ihr Leben verlängern. „Die Fortschritte bei der Entwicklung von Medikamenten zur Behandlung der Cystischen Fibrose haben beispielsweise bewirkt, dass die Betroffenen inzwischen eine um etwa zehn bis 15 Jahre längere Lebenserwartung haben als noch vor einigen Jahren“, so Yann le Cam, Geschäftsführer von Eurordis und Vater einer Tochter mit Mukoviszidose.

Le Cam führt dies auch auf die enge europäische Zusammenarbeit auf diesem Gebiet zurück. Seit nunmehr 13 Jahren unterstützt die Europäische Union (EU) Kooperationen, Selbsthilfegruppen, den Aufbau einer europäischen Datenbank sowie die Forschung und Entwicklung von Arzneimitteln gegen seltene Erkrankungen mit rund 530 Millionen Euro. Zahlreiche Forschungsprojekte mit Partnern aus mehreren europäischen Ländern haben bereits von den Mitteln aus dem EU-Haushalt profitiert. Dazu gehören zum Beispiel das ECORN-CF-Projekt, das dazu dienen soll, ein Modell für ein europäisches Referenznetzwerk von Spezialisten für die Behandlung der Cystischen Fibrose zu etablieren. Das 2010 gestartete interdisziplinäre Projekt CARE-NMD unter Federführung des Universitätsklinikums Freiburg verfolgt dagegen das Ziel, gesicherte einheitliche Standards für die Behandlung von Patienten mit Duchenne Muskeldystrophie zu entwickeln.

Andere Projekte wiederum beschäftigen sich mit Empfehlungen für nationale Aktionspläne im Kampf gegen seltene Erkrankungen, mit der Sammlung von Daten zu seltenen Krebserkrankungen oder der Implementierung von Neugeborenen-Screenings in den Mitgliedstaaten. Die Beteiligung deutscher Wissenschaftler an europäischen Forschungsprojekten ist nach Aussage von Birgit Wetterauer vom Bundesministerium für Bildung und Forschung sehr hoch.

ECORN-CF

Dank einer EU-Verordnung aus dem Jahr 1999, die der Pharmaindustrie Anreize für die Erforschung von Arzneimitteln gegen seltene Erkrankungen bietet, macht die EU auch auf diesem Gebiet Fortschritte. 63 Medikamente haben innerhalb der letzten zehn Jahre eine Zulassung für den europäischen Markt erhalten. Mehrere Hundert Arzneimittel sind derzeit in der klinischen Prüfung für eine eventuelle Marktreife.

Die Anstrengungen reichen aus Sicht der Europäischen Kommission jedoch nicht aus. Die Brüsseler Behörde drängt die EUStaaten daher unter anderem dazu, intensiver an einer einheitlichen Klassifizierung und Identifizierung von seltenen Erkrankungen zu arbeiten und die Informationen in die europäische Datenbank Orphanet einzuspeisen. „Bislang beinhaltet Orphanet Daten über 600 Krankheiten“, sagt Paola Testori-Coggi von der Generaldirektion Gesundheit der EU-Kommission.

Die Datenbank wurde 1997 ins Leben gerufen. Die Informationen über Symptome, Ursachen, Leitlinien, Therapieoptionen, Kliniken und Labore sind in sechs Sprachen abrufbar. „Pro Tag erfolgen etwa 20 000 Zugriffe“, berichtet Dr. Ségolène Ayme, Direktorin von Orphanet. Am häufigsten rufen Angehörige von Gesundheitsberufen Informationen ab.

Patienten, Ärzte, Kostenträger und Industrievertreter aus Deutschland bemängeln dennoch, dass über viele seltene Erkrankungen zu wenig Informationen verfügbar sind und dass bei vielen Erkrankungen gesicherte Diagnoseverfahren und Kenntnisse über das jeweilige Krankheitsbild fehlen, wie aus einer Studie des Bundesministeriums für Gesundheit hervorgeht („Maßnahmen zur gesundheitlichen Situation von Menschen mit seltenen Erkrankungen“, August 2009).

Orphanet

Als einen weiteren Schritt zu einer verbesserten Information und somit auch Versorgung der Betroffenen streben die EURegierungen daher an, nationale Pläne und Strategien für seltene Erkrankungen auszuarbeiten. Diese sollen bis Ende 2013 vorliegen, um daraus dann ein EU-weites Vorgehen abzuleiten.

Auf der Agenda der EU steht darüber hinaus die Zusammenführung der zahlreichen Register, die die Zahl der Patienten mit bestimmten seltenen Erkrankungen erfassen. Derzeit existieren EU-weit 596 solcher Register von unterschiedlicher Qualität, Verbreitung wie auch Urheberschaft.

Nach Meinung von Kate Bushby vom Zentrum für Neuromuskuläre Erkrankungen in Newcastle ist es aber noch ein weiter Weg, bis die EU ihrem Ziel, die Versorgung von Patienten mit seltenen Erkrankungen flächendeckend zu verbessern, nähergekommen ist. „Das bislang Geleistete ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Was wir dringend benötigen, sind strukturierte Ansätze“, mahnt Bushby.

Petra SpielbergAltmünsterstr. 165207 Wiesbaden

Melden Sie sich hier zum zm-Newsletter des Magazins an

Die aktuellen Nachrichten direkt in Ihren Posteingang

zm Heft-Newsletter


Sie interessieren sich für einen unserer anderen Newsletter?
Hier geht zu den Anmeldungen zm Online-Newsletter und zm starter-Newsletter.