Kultursensible Altenpflege

Vom Gastarbeiter zum Senior

Migranten trugen einen erheblichen Teil zum deutschen Wirtschaftswunder in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts bei. Nun hat die erste Generation der sogenannten Gastarbeiter vielfach das Rentenalter erreicht, einige sind auf Pflege angewiesen. Doch wie sieht eine Pflege aus, die auf die kulturellen Sensibilitäten der älteren Migranten Rücksicht nimmt?

Am 30. Oktober 2011 jährte sich das Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und der Türkei zum 50. Mal. Die Bundesrepublik brauchte in den 1950er- und 1960er-Jahren frische Arbeitskräfte, um den Wirtschaftsaufschwung am Laufen zu halten und den Arbeitskräftemangel auszugleichen – dafür sollten auch türkische Gastarbeiter sorgen, die (laut Abkommen) nach zwei Jahren wieder gehen sollten. So die Theorie. Doch wie Max Frisch treffend analysierte: „Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen.“

Menschen werden sesshaft, Menschen gründen Familien oder holen ihre bestehenden Familien zu sich. Und Menschen werden alt. Eine angedachte Rückkehr in das Herkunftsland haben viele verworfen, einige haben die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen. Der Lebensmittelpunkt liegt meist in Deutschland, die Kinder wohnen hier, die Enkel und Bekannten. „Die Leute sind hier verwurzelt“, sagt die Sozialpädagogin Ulrika Zabel vom Kompetenzzentrum Interkulturelle Öffnung der Altenhilfe (kom-zen) in Berlin. Die erste Gastarbeitergeneration – nicht nur aus der Türkei, auch aus Italien, Griechenland, Spanien – befindet sich mittlerweile im Seniorenalter. Ein Teil dieser ersten Generation ist auf Pflege angewiesen.

„Die pflegerische Versorgung von Migranten spielte aufgrund der geringen Anzahl pflegebedürftiger Migranten in den Integrationsdebatten der Vergangenheit kaum eine Rolle“, erklärt Prof. Stefan Görres vom Institut für Public Health und Pflegeforschung der Universität Bremen. Bis Anfang der 2000er-Jahre sei sogar bestritten worden, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Das habe sich geändert, als sich immer mehr Türken der ersten Generation dazu entschlossen, hier ihren Lebensabend zu verbringen.

Die Pflege öffnen

Bis 2030 werden etwa 2,8 Millionen über 60-jährige Migranten in der Bundesrepublik leben, schätzt Görres. Damit gehören sie laut der Berliner Senatsverwaltung für Integration zu einer der am stärksten anwachsenden Bevölkerungsgruppen.

Mit der zunehmenden Zahl älterer Zuwanderer hat sich auch der öffentliche Diskurs verändert. „Pflegebedürftige Migranten rückten zunächst gar nicht in den Fokus der Wahrnehmung, weil davon ausgegangen wurde, dass die pflegerische Versorgung von der Familie geleistet wird“, sagt Görres. Erst mit der zahlenmäßigen Zunahme von pflegebedürftigen Migranten und dem gleichzeitigen Auflösen traditioneller Familienstrukturen sei die Erfordernis gegeben gewesen, die pflegerische Versorgungsinfrastruktur und damit auch Politik und Gesellschaft zu sensibilisieren.

Damit sind auch Pflegeeinrichtungen, die sich auf die älteren Migranten einstellen wollen, vor Herausforderungen gestellt. Denn diese haben spezielle gesundheitliche Probleme aufgrund der Beschwernisse der Migration und ihrer Erwerbsbiografie. In der ersten Generation waren vor allem un- und angelernte Arbeiter tätig, die meist harte körperliche Arbeiten verrichteten, hinzu kamen Schicht- und Nachtarbeit. „Körperliche, geistige und seelische Belastungen treten häufiger und im Durchschnitt fünf bis zehn Jahre früher auf als bei gleichaltrigen Deutschen“, erklärt Görres. Vor allem unter Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems, Rheuma und Mobilitätsbeeinträchtigungen hätten Migranten häufiger zu leiden.

Eine weitere Herausforderung stellen sprachliche und kulturelle Barrieren dar, die zwischen (deutschem) Pflegepersonal und den älteren Migranten auftreten können. Vielfach bestehen laut dem Bremer Pflegeforscher Unsicherheiten und Hilflosigkeiten im Umgang miteinander. Deshalb wurde Ende der 1990er-Jahre das Konzept der kultursensiblen Altenpflege eingeführt, „vor allem in Großstädten mit einem hohen Anteil von Migranten wie Berlin oder Köln“, sagt Görres. Die entscheidenden Impulse dafür seien hauptsächlich von den Wohlfahrtsverbänden wie Caritas oder Diakonie ausgegangen.

Pflegeforscher Unsicherheiten und Hilflosigkeiten im Umgang miteinander. Deshalb wurde Ende der 1990er-Jahre das Konzept der kultursensiblen Altenpflege eingeführt, „vor allem in Großstädten mit einem hohen Anteil von Migranten wie Berlin oder Köln“, sagt Görres. Die entscheidenden Impulse dafür seien hauptsächlich von den Wohlfahrtsverbänden wie Caritas oder Diakonie ausgegangen.

Den Glauben beachten

Wie sieht aber nun eine Altenpflege aus, die kulturell und religiös bedingte Sensibilitäten von Migranten beachtet? „Das Credo einer kultursensiblen Altenpflege und der dazu notwendigen interkulturellen Kompetenz besteht darin, Gruppen nicht automatisch kulturelle Eigenschaften zuzuschreiben“, erklärt der Wissenschaftler. Es gehe darum, den vielfältigen Facetten eines Pflegebedürftigen adäquat zu begegnen.

Wie diese Anforderungen konkret umgesetzt werden können, zeigt das Gerhard-Kersting-Haus in Essen, das vom Deutschen Städtetag als beispielhaft hervorgehoben wird. Das Haus wurde 2008 eröffnet und bietet kultursensible Altenpflege wie auch altersgerechtes Wohnen an. Das Heim hat sich auf muslimische Bewohner, die vorwiegend aus der Türkei stammen, eingestellt und ist nach eigenen Angaben auf „das Zusammenleben verschiedener Religionen ausgerichtet“. Um die Integration zu gewährleisten, gibt es aber keine separaten Wohnbereiche für Muslime.

Für gläubige Muslime gibt es einen nach Mekka ausgerichteten Gebetsraum mit vorgelagertem Waschraum, der in Abstimmung mit der türkischen Gemeinde eingerichtet wurde. Das Essen ist den religiösen Speisevorschriften angepasst und wird von einem muslimischen Koch zubereitet, der kein Schweinefleisch oder Alkohol als Zutat verwendet. Während des Fastenmonats Ramadan wird den Bewohnern, die tagsüber fasten, am Abend eine Mahlzeit angeboten, die ihren Bedürfnissen zum Fastenbrechen entspricht. Damit sich die türkischen Bewohner über ihr Herkunftsland informieren können, haben sie die Möglichkeit, türkische Zeitungen zu lesen und türkische Fernsehsender zu empfangen. Es gibt Pflegepersonal mit Migrationshintergrund, dass mit Bewohnern in deren Landessprache reden kann. Für nicht-muslimisches Personal gibt es Fortbildungen, in denen Werte und Traditionen des Islam vermittelt werden. Es gibt zudem Kurse, in denen die wichtigsten Pflegebegriffe auf türkisch gelehrt werden, damit sich die Mitarbeiter mir den Bewohnern verständigen können, die kein oder nur wenig deutsch sprechen. In der Essener Einrichtung wird darauf geachtet, dass die Pflege, insbesondere im Intimbereich, von gleichgeschlechtlichen Personen übernommen wird.

Ulrika Zabel vom kom-zen Berlin räumt ein, das eine solche interkulturelle Öffnung für die Einrichtungen auch ein Kostenfaktor ist. Veränderungen in der Küche, Veränderungen in den Angeboten, mehrsprachige Auslagen und Informationsveranstaltungen – das alles kostet Geld. „Diese Investitionen sind auch der Grund, warum viele Einrichtungen davor zurückschrecken“, sagt Zabel. Den Gewinn, den sie langfristig aus der Erschließung einer neuen Kundenschicht ziehen könnten, sähen sie nicht.

Den Alltag widerspiegeln

Auch in Zukunft werden weiterhin viele Pflegeeinrichtungen von den Kosten abgeschreckt sein, glaubt die Sozialpädagogin. „EIn Großteil der Migranten wird sich deshalb fügen in das, was ihnen angeboten wird. Doch es wird keine auf ihre Person zugeschnittene Pflege sein.“

Kultursensible Pflegeheime hätten nur dann eine Chance zu bestehen, wenn den Alltag der Menschen und ihre Lebensverhältnisse widerspiegeln, ergänzt Görres. „Zugleich dürfen die multikulturellen Heime aber nicht zu einer Ghettoisierung und zu ethnischen Enklaven führen. Deshalb sei es sinnvoll, wenn die Pflegeheime die wirkliche Kultur und den Alltag etwa der Stadtteile abbilden, aus denen die Migranten kommen.“

Allgemein müsse in Deutschland aber erst noch gelernt werden, wie Pflegeheime für ausländische Bürger gestaltet werden müssen, glaubt der Bremer Forscher. Insofern könne man davon ausgehen, dass es ausländische Senioren in Pflegeheimen in Deutschland nach wie vor schwerer haben als Deutsche. eb

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