WikiLeaks und die Folgen

Regeln für die Revolution

Wenn sich die Medien verändern, verändert sich die Gesellschaft, sinnierte 1905 der Philosoph Walter Benjamin. Sein Zitat bleibt aktuell und beschreibt sehr treffend die digitale Revolution, die um uns herum stattfindet. Der Prozess wirft ethische, politische und juristische Fragen auf – Antworten lassen auf sich warten. Welche Regeln braucht die digitale Gesellschaft?

„Die Digitalisierung ist revolutionär, sie ist kein evolutionärer Schritt“, sagt der Internetsoziologe Stephan Humer von der Universität der Künste in Berlin. Der Umbruch ist tiefgreifend. Manche feiern ihn, anderen ist er suspekt. Sie lehnen ihn ab oder ignorieren ihn ganz einfach. Egal, welchen Standpunkt man einnimmt, fest steht: Die Digitalisierung lässt sich nicht rückgängig machen. Humer hofft deshalb, dass sie endlich als das angesehen wird, was sie ist: „Epochal. Revolutionär. Die Zukunft. Und mehr als Google Street View oder Facebook.“ Gleichzeitig fordert Humer soziale Regeln, die den Fortschritt begleiten. Wie das digitale Zeitalter ethische, juristische und politische Gegebenheiten umkrempelt, zeigt – stellvertretend – WikiLeaks.

2010 wurde WikiLeaks einer breiten Öffentlichkeit bekannt – im April veröffentlichten die Whistleblower, zu deutsch Informanten oder interne Hinweisgeber, das Video der Bordkamera eines amerikanischen Kampfhubschraubers im Irak aus dem Jahr 2007: Ohne Warnung feuern die US-Soldaten in die Menge, töten einige Personen und begleiten das Geschehen mit menschenverachtenden Kommentaren. „Schau dir die toten Bastarde an“, sagt einer der Soldaten. Die Opfer seien Aufständische gewesen, wird das Pentagon später sagen. Nein, es habe sich um Zivilisten gehandelt, hält die Nachrichtenagentur Reuters dagegen – zwei ihrer Mitarbeiter waren mit der Gruppe unterwegs.

Politische Sprengkraft hatten auch die Veröffentlichungen der Dokumente zum Afghanistan- und Irak-Krieg im Jahr 2010. Für eine enorme Erschütterung der internationalen Politik sorgte WikiLeaks dann erneut Ende November mit dem Go-Live von über 250 000 amerikanischen Botschaftsdepeschen. Viele der politischen Partner der USA, vor allem in Europa, kamen dabei schlecht weg – peinlich für die Weltmacht.

Die Publikation der Depeschen löste auch in der breiten Öffentlichkeit heftige Diskussionen darüber aus, was im Internet erlaubt sein darf. Die Meinungen zu WikiLeaks repräsentieren den Konflikt, dem sich die im Werden befindliche digitale Gesellschaft stellen muss. Die Veröffentlichung der Akten sei ein juristisch illegaler Akt, der zudem die politischen Beziehungen gefährde, heißt es auf der einen Seite. Sie schaffe Transparenz und stärke die Bürgerrechte, auf der anderen.

Rechtlich scheint ein Vorgehen gegen Wiki-Leaks zwar nicht haltbar zu sein – dennoch lassen sich mit den herkömmlichen sozialen und juristischen Regeln solche Vorfälle nicht mehr adäquat bewerten. Viele aus der Netzgemeinde wollen das auch nicht. Von ihnen ist zu hören, dass WikiLeaks einen wertvollen Beitrag zur Demokratie liefert: Die Plattform verbreitet Informationen ungefiltert und ohne Umwege. Bürger erhalten News so nicht mehr aus zweiter Hand durch Medien, sondern können ihre eigenen Schlüsse ziehen.

WikiLeaks zeigt, dass eine neue Ära des Informationszeitalters angebrochen ist. Menschen sehen klar wie nie zuvor, was ihre politischen Vertreter tun. Befürworter loben WikiLeaks dafür, dass es die Rolle des schwächelnden Journalismus als vierte Macht im Staat übernimmt. Die klassischen Medien kämpfen mit strukturellen Problemen wie Geldmangel, unausgereiften Recherchen und Angst vor juristischen Klagen. WikiLeaks hingegen liefert die Informationen pur. Punkt.

Ethische Bewertung

Doch die Whistleblower-Plattform hat unbestreitbare Defizite. Ihre Arbeitsprozesse sind undurchsichtig und der Führungsstil von Gründer Julian Assange gilt internen Quellen zufolge als autoritär. Die Plattform vernachlässigte zudem bislang die Frage, welche weitreichenden und unabsehbaren Folgen die Veröffentlichung geheimer Dokumente haben könnte. Das sollen jetzt neue Abläufe ändern: Dokumente sollen nur online gehen, wenn ein Beirat von Journalisten vorher Nutzen und Gefahren abgewogen hat. Unter öffentlichem Druck bemüht sich WikiLeaks nun, Regeln zu finden und sich damit der ethischen Verantwortung zu stellen. Ob das Installieren einer Zwischeninstanz seine Bedeutung als Informationslieferant schmälert, wird sich zeigen.

WikiLeaks ist eine hervorstechende Innovation der digitalen Welt – eine Herausforderung, will man belastbare Normen entwickeln. Macht man sich online auf die Suche nach Regeln fürs Internet, stößt man vor allen Dingen auf Sicherheitstipps à la „Aktualisieren Sie Ihren Virenschutz!“ oder „Achten Sie auf ein gutes Passwort!“. Ein typisches Verhalten hierzulande, erklärt Internetsoziologe Humer: „In Deutschland konzentriert man sich häufig nur auf technische Regeln. Man sollte das Internet aber ganzheitlich betrachten. Alle Akteure müssen an einem Strang ziehen, damit wir dauerhafte Strategien entwickeln können.“

Ganzheitliche Strategien

Humer setzt sich seit längerem mit der Frage auseinander, was im Netz erlaubt ist und was nicht – und warum es so schwerfällt, Regeln, die wir in der analogen Welt ganz selbstverständlich befolgen würden, auch für das Internet umzusetzen. Seiner Einschätzung nach gibt es zahlreiche Gründe. „Einer der wichtigsten ist sicherlich die Tatsache, dass die Digitalisierung und damit das Internet etwas epochal Neues ist. Es gibt keine vergleichbaren Vorläufer, an denen man sich orientieren kann. Und das heißt, dass es vergleichsweise anstrengend ist, neue Regeln zu entwerfen, also die Möglichkeiten der Digitalisierung zu beherrschen.“ Das koste Zeit, Geld, Nerven, Anstrengungen und man benötige besondere Fertigkeiten, zum Beispiel die Fähigkeit zu abstrahieren und zu imaginieren. Humer: „Gleichzeitig ist die Digitalisierung extrem schnell. Was gerade eben erst verstanden und positiv eingesetzt wurde, kann bald schon wieder wenig oder gänzlich unbrauchbar sein.“

Mit alten Besen kehrt es sich auch im Netz nicht gut. So bieten zahlreiche Formeln der analogen Welt nicht ausreichend viele Anknüpfungspunkte beziehungsweise Deckungsgleichheiten, die sie für die digitale Welt brauchbar erscheinen lassen. Humer: „Man sieht, wie wenig es in vielen Fällen hilft, altbekannte Regeln einfach in die digitale Welt zu überführen, beispielsweise die Sendezeitbeschränkung des Fernsehens für Websites zum Schutz von Kindern vor Angeboten für Erwachsene.“ Das Internet hat keinen Sendeplan, hier bekommt man jederzeit alles, wonach man sucht.

Welche konkreten Vorschriften aber sind möglich und denkbar? „Es gibt bisher schon ein paar Skizzierungen. Worauf man achten sollte, ist zum Beispiel eine Verwebung von Technik, Recht und Gesellschaft. Techniker sollen nicht einfach etwas Digitales auf den Markt werfen, ohne auf rechtliche Implikationen oder soziale Phänomene zu achten“, erklärt der Internetsoziologe. Beides müsse ineinandergreifen.

Nicht zu privat warden

Darüber hinaus müssen User an ihrer Abstraktionsfähigkeit und ihrem Vorstellungsvermögen arbeiten. Als Beispiel nennt Humer die Diskussion um Kinderfotos im Netz: „Eltern müssen für ihre Kinder digital mitdenken. Sie sind nicht nur für ihre eigene Identität im digitalen Raum verantwortlich, sondern auch für die ihrer Kinder.“ Hier gilt: Je weniger Mütter und Väter über die Folgen einer Veröffentlichung, etwa auf Facebook, wissen, desto höher sollte die Scheu sein, ein Foto ins Netz zu stellen. Wenn eine Risikoabschätzung kaum oder gar unmöglich ist, rät Humer, ganz darauf zu verzichten: „Auch auf die Gefahr hin, dass man einen Trend verpasst und ständig gefragt wird, warum man seine Bilder nicht auch online stellt. Das sei doch schließlich so einfach und praktisch.“ Gut kann man sich schützen, wenn man nach der Maxime handelt: Nicht zu privat werden.

Ein konkreter Regelkatalog ist noch lange nicht in Sicht, die Diskussion und das Bewusstsein für Gefahren im Netz entsteht bei vielen Usern gerade erst.

Susanne TheisenFreie Journalistin in KölnSusanneTheisen@gmx.net

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