Bertelsmann-Stiftung veröffentlicht Studie

Flickenteppich Gesundheit

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Heftarchiv Gesellschaft
mg
Auf den ersten Blick ist die Sache klar: Die Wahrscheinlichkeit einer Untersuchung, Behandlung oder Operation hängt von der Diagnose des Arztes und der Entscheidung des Patienten ab. Doch auch der Wohnort spielt offensichtlich eine Rolle. Laut „Faktencheck Gesundheit“ – den das IGES-Institut für die Bertelsmann-Stiftung erarbeite – schwankt die Behandlungshäufigkeit ausgesuchter Befunde in Deutschland je nach Region um das bis zu Achtfache. Diese Erkenntnis beschäftigt nun gleichermaßen Datensammler, Versorgungsforscher und Politiker.

„Wir wollten mit dem Faktencheck Gesundheit nicht die Qualität der Behandlung in Deutschland infrage stellen“, erklärt Thomas Neldner von der Bertelsmann-Stiftung, „sondern lediglich die aktuelle Situation der medizinischen Versorgung abbilden.“ Dazu wurden Krankenhaus-Abrechnungsdaten der Jahre 2007 bis 2009 ausgewertet, regionale Behandlungshäufigkeiten von Kaiserschnitten, Prostataentfernungen und 14 weiteren, ausgesuchten Behandlungsgebieten errechnet und grafisch dargestellt.

Obwohl die soziodemografischen Besonderheiten der einzelnen Regionen berücksichtigt und herausgerechnet wurden, ist das Ergebnis eindeutig: Das Bundesgebiet gleicht einem Flickenteppich, wenn die Häufigkeit ausgewählter Behandlungen auf einer Karte farbig dargestellt wird. Genau das leistet der Faktencheck für die 412 Kreise und kreisfreien Städte Deutschlands – wie am Beispiel der Gaumenmandel-Entfernungen bei Kindern und Jugendlichen unter 19 Jahren anschaulich wird.

Behandlungshäufigkeiten schwanken stark

Im Raum München, dem Berchtesgardener Land, dem Kreis Tübingen und in Steinburg bei Hamburg ist die Karte tiefblau. Hier wird die entsprechende Operation maximal halb so oft durchgeführt wie im Bundesdurchschnitt. Ganze Wolken von Kreisen in Nordwest-, Nordost- und Mitteldeutschland erscheinen dagegen sandfarben bis bräunlich, da hier deutlich häufiger operiert wird als im Durchschnitt – Spitzenreiter ist Schweinfurt mit dem Faktor 2,43. Das übrige Bundesgebiet changiert hellblau bis beige um den milchig grün dargestellten Mittelwert.

Bei diesem müsse es sich jedoch nicht zwingend um den Idealwert handeln, schränkt Hans-Dieter Nolting, Geschäftsführer des Instituts für Gesundheits- und Sozialforschung (IGES), die Aussagekraft seiner eigenen Studie ein. „Die richtige Häufigkeit einer medizinischen Maßnahme lässt sich im Regelfall nicht angeben“, sagt er. So beurteile der Faktencheck die verschiedenen Häufigkeitswerte einzig im Verhältnis zum Bundesdurchschnitt.

„Damit ist dann auch schon die natürliche Grenze dieser Studie erreicht“, erklärt Dr. David Klingenberger, stellvertretender Institutsleiter des Instituts der Deutschen Zahnärzte (IDZ). Dem Gesundheitsökonom ist wichtig zu betonen, dass für den „Faktencheck Gesundheit“ keinen neuen Daten erhoben, sondern bestehende sekundärstatistisch analysiert worden sind.

„Das Problem ist, dass sich daraus Fehlerwahrscheinlichkeiten ergeben“, erläutert er, „weil diese Abrechnungsdaten schon aufgrund von Übercodierung und regional unterschiedlichen Vertragsgestaltungen zwischen Krankenhäusern und -kassen schwanken können.“ Trotz dieser möglichen Fehlerhaftigkeit sei die Auswertung für den klinischen Bereich eine wissenschaftlich interessante Arbeit. „Das sind alles keine Geheimnisse und es ist auch keine Zauberei, was dabei rausgekommen ist“, so Klingenberger, „aber es ist in jedem Fall eine echte Fleißarbeit des IGES-Instituts.“ Schließlich handele es sich um die erste Vollerhebung, in der das gesamte, aktuell erhältliche Datenmaterial „zur Gänze berücksichtigt“ sei.

Entsprechend stolz hatte Dr. Brigitte Mohn aus dem Vorstand der Bertelsmann-Stiftung, die über die 2011 neu geschaffene Gesellschaft INIgG (Initiative für gute Gesundheit) in Auftrag gegebene Studie Ende September auf einer Fachtagung in Berlin vorgestellt. „Für uns war die zentrale Fragestellung: Wie können wir die medizinische Versorgungssituation in Deutschland abbilden?“, erklärt sie gleichlautend mit Neldner. Schließlich seien Unter-, Über- und Fehlversorgung in Fachkreisen schon lange ein Thema. Eines, das nach Mohns Wunsch in Zukunft auch für Laien verständlich aufbereitet werden soll.

Nur diffuse Erkenntnisse

Nur so könnten Patienten in die Lage versetzt werden, gemeinsam mit dem Arzt die Entscheidung für oder gegen eine Behandlungsform zu treffen, findet die Tochter des 2009 gestorbenen Firmenpatriarchen Reinhard Mohn. Dass dies mit dem Faktencheck gelingt, bezweifelt Klingenberger. „Da tut man sich schon als Versorgungsforscher schwer, alles zu sichten“, sagt er. „Ob das dann für den Durchschnittspatienten wirklich handhabbar ist, weiß ich nicht.“ Häufig blieben die Erkenntnisse zu diffus, beklagt er. Und: „In Teilbereichen klingen die Erklärungen schon recht demütig, weil nur beschrieben wird, was man alles nicht weiß.“ Ein Fakt, der nach Klingenbergers Befürchtungen die Laien und den Patienten möglicherweise mehr verunsichere, als dass er ihnen eine Hilfestellung liefere.

Neldner ist da optimistischer. „Wir wollen unserem Auftrag nachkommen, dem Bürger Orientierung zu geben, und so das Gesundheitssystem zukunftsfähiger machen“, formuliert er. Schon jetzt bekomme die Stiftung viele positive Rückmeldungen zum „Faktencheck Gesundheit“ von begeisterten Patienten, die sich auf dem gleichnamigen Webportal informiert hätten.

Beschreibung für Laien

Vom Bundesgesundheitsministerium bekommt die Stiftung immerhin ein – wenn auch sehr vage formuliertes – Lob. Der Faktencheck liefere „interessante Informationen zur medizinischen Versorgungslage“, so ein Sprecher, die eine gute Grundlage „zur Bearbeitung weitergehender Fragestellungen“ darstellen.

Diese wünscht sich auch Nolting. Stattdessen sei die Konzeption des ersten Faktenchecks jedoch klar darauf ausgerichtet gewesen, für jedes der Themen „nur einen ersten thematischen Überblick“ zu erstellen, betont er. „So werden etwa je Thema nur zwei Buchseiten vorgelegt, je eine Seite für die grafischen Illustrationen der Variationen“, beschreibt er die Anforderung an das IGES-Institut, „und eine Seite für die laienorientierte Beschreibung des Themas, des Ausmaßes der regionalen Unterschiede sowie für die Formulierung von ersten Erklärungsansätzen und Handlungsoptionen.“

Außerdem beklagt er die aktuell in Deutschland herrschenden Mangelsituation von auswertbaren Daten. Im Vergleich mit internationalen Studien (siehe Kasten) hätte darum für den Faktencheck nur ein „vergleichsweise enger Datenkranz“ zur Verfügung gestanden. „In anderen Ländern wird systematischer nach Fehlallokationen im Gesundheitswesen gesucht“, berichtet Nolting. Mit Folgen: So könnten die Autoren der amerikanischen Studie „Dartmouth Atlas of Health Care“ etwa nicht nur auffällige Inkongruenzen zwischen Mitteleinsatz und Nutzen sowie erhebliche Variationen der Leistungsqualität feststellen – sondern häufig auch einige „Fehlanreize und Insuffizienzen der regulatorischen Rahmenbedingungen“ benennen, die für jene Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitsdefizite verantwortlich seien.

Auch das Forschungsministerium (BMBF) kommentiert die Ergebnisse des Faktenchecks mit Zurückhaltung. Die Datenquellen bewertet man lapidar „als solide und qualitätsgesichert“ und die Auswahl der beteiligten Experten als „ausgewogen“. Hintergrund: Aktuell fördert das BMBF selbst zahlreiche Einzel- und Verbundprojekte im Bereich der Versorgungsforschung. Auf Nachfrage heißt es, nach derzeitiger Abschätzung werde man 2011 im Bereich der Versorgungsforschung rund 6,7 Millionen Euro ausgeben, 2012 soll es sogar doppelt so viel sein. Voraussichtlich fließen dann 13,5 Millionen Euro in „zahlreiche neue Vorhaben im Bereich der Versorgungsstudien und an ausgewählte Zentren der gesundheitsökonomischen Forschung“, informiert das BMBF ungenau.

Die Ergebnisse des „1. Faktencheck: Regionale Unterschiede in der Gesundheitsversorgung“ sind im Internet unter www. faktencheck-gesundheit.de zu finden – wo ab sofort auch eine Printversion der IGESStudie angefordert werden kann.

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