Gastkommentar

Ethik versus Kosten

Die Rationierung im Gesundheitswesen schreitet voran, doch die Politik verweigert die Debatte darüber, meint Dr. Dorothea Siems, Politikkorrespondentin der Welt, Berlin.

Das Institut für Demoskopie Allensbach hat den ersten „Glücksatlas“ Deutschlands vorgelegt. Die Meinungsfragen zeigen, dass für das individuelle Wohlbefinden kein Faktor so entscheidend ist wie die Gesundheit. Dahinter folgen mit großem Abstand Partnerschaft, Einkommen oder die Zufriedenheit am Arbeitsplatz. Nimmt man diese herausragende Bedeutung der Gesundheit, so verwundert es, dass Gesundheitspolitik hierzulande vor allem als Kostendämpfungspolitik betrieben wird. Dass dies auf Dauer nicht ohne Folgen bleiben kann, liegt auf der Hand: Ärzteverbände klagen, dass Rationierung in der medizinischen Versorgung mittlerweile an der Tagesordnung ist.

Die Patienten merken, dass das Versprechen, jeder Versicherte bekomme alles Nötige, längst nicht mehr im vollen Umfang gilt. Wenn Arzttermine an Kassenpatienten erst im nächsten Quartal vergeben werden, ist dies Rationierung. Das Gleiche gilt für die Ausdünnung der Rettungsdienste mit der Folge, dass man in abgelegenen Regionen im Notfall länger auf den Krankenwagen warten muss als früher. Klinikumfragen zeigen überdies, dass in vielen Fällen selbst medizinisch notwendige Leistungen aus Kostengründen nicht immer gewährt werden. Bislang erfolgt die Rationierung schleichend. Eine gesellschaftliche Debatte über dieses heikle Thema lehnt die Politik bisher ab. Altersgrenzen zum Beispiel für Hüft- oder Augenoperationen, wie sie Großbritannien eingeführt hat, gelten hierzulande als unethisch. Doch die Ärzte sind es leid, dass sie ohne klare gesetzliche Regeln von Fall zu Fall entscheiden müssen, welche Leistung noch gewährt werden soll und welche nicht. In der Tat ist diese schleichende Rationierung höchst unfair. Denn je nach dem, an welchen Mediziner man gerät oder in welchem Krankenhaus man liegt, wird großzügiger oder knauseriger verfahren. Unter dem Stichwort der „Priorisierung“ fordern die Ärzteverbände die Debatte darüber, wie eine gerechte Versorgung gestaltet werden kann. Dabei gehe es um rechtliche und um ethische Fragen. An die Stelle von willkürlichen Entscheidungen soll eine verbindliche Regelung treten, die Medizinern wie Patienten Sicherheit und Transparenz bietet.

Priorisierung bedeute nicht den Ausschluss von medizinisch notwendigen Leistungen, betonen die Ärztevertreter. Es gehe vielmehr um eine Abstufung der Leistungsgewährung nach Vorrangigkeitsprinzipien. Vorschläge für Priorisierungen soll ein neuer Gesundheitsrat erarbeiten, in den Theologen, Philosophen, Juristen, Patientenvertreter sowie Mediziner und Vertreter anderer Gesundheitsberufe berufen werden. Das Gremium würde alle Leistungen klar festlegen, auf die ein Patient in jedem Fall Anspruch hätte. Darunter fielen etwa lebensnotwendige Operationen oder Medikamente. Andere Leistungen stünden dagegen auf einer niedrigeren Rangstufe und könnten somit bei ausgeschöpften Mitteln später oder gar nicht gewährt werden. Die letzte Entscheidung über die Eingruppierung läge bei der Politik.

Auch ein solches Verfahren löst sicher nicht alle Probleme. Richtig ist jedoch die Erkenntnis, dass in Zukunft das Problem knapper Ressourcen zwangsläufig größer wird. Die Politik muss sich von der Illusion verabschieden, dass die gesetzliche Krankenversicherung jedem Patienten alle medizinisch sinnvollen Leistungen finanzieren kann. Die Alternative zur Priorisierung wäre die pauschale Streichung von Ansprüchen. Populär ist weder die Priorisierung noch die Ausdünnung des Leistungskatalogs. Doch die jetzige, verdeckte Rationierung trifft die Patienten viel härter und bietet keine Möglichkeit, sich gegen die Folgen abzusichern.

Gesundheit ist jedem Einzelnen im wahrsten Sinne des Wortes teuer. Wenn nicht mehr alles von der Solidargemeinschaft finanziert werden kann, sollten die Bürger mitentscheiden dürfen, welche Leistungen für sie unverzichtbar sind.

Gastkommentare entsprechen nicht immer der Ansicht der Herausgeber.

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