Barmer-GEK-Medizinkongress

Versorgung auf dem Prüfstand

Patientenorientierung und demografischer Wandel – überfordern Multimorbidität und „Chronic Care“ die Versorgung? Diese Fragen stellten Vertreter der größten deutschen Krankenkasse auf ihrem Medizinkongress in Berlin. Experten gaben differenzierte Antworten, wie gut die Versorgung für die alternde Gesellschaft aufgestellt ist.

„Nicht jede Mengen- und Kostensteigerung im Gesundheitswesen lässt sich mit dem demografischen Faktor rechtfertigen“, erklärte Dr. Christoph Straub, Vorstandsvorsitzender der Barmer GEK, in Berlin. Daher sei es angemessen, wenn die Bundesregierung medizinisch nicht begründbare Mengenausweitungen im Krankenhaus infrage stelle.

Grundsätzlich sei die Gesundheitsversorgung in Deutschland auf die wachsende Zahl älterer sowie multimorbider Patientenvorbereitet. Es gebe einige vielversprechende Strategien im Umgang mit dem demografischen Wandel. So würden zum Wohle der älteren Patienten vor allem die Vernetzung der Versorgung, ein gezieltes Case- und Caremanagement sowie altersgerechte Patienteninformationen vorangetrieben. Außerdem setze man auf die Delegation ärztlicher Tätigkeiten an nicht-ärztliches Personal, das mehr Zeit für Gespräche aufbringen könne. „Unser Hauptanliegen ist die Förderung von Teamstrukturen zwischen Ärzten, medizinischen Fachangestellten und Therapeuten. Nur so wird eine koordinierte Behandlung älterer Menschen möglich,“ befand Straub.

Dominanz des Dringlichen zulasten Langzeitkranker

Als zwiespältig beurteilte Prof. Ferdinand M. Gerlach, Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, die derzeitige Versorgungssituation. Während die Akutmedizin „gut ist“, bewerte er die Betreuung chronisch Kranker nur mit mangelhaft: „Unser Gesundheitssystem leidet unter einer Dominanz des Dringlichen und ist nicht optimal auf die Langzeitbetreuung chronisch Kranker, insbesondere solcher mit Mehrfacherkrankungen, ausgerichtet“, so Gerlach, der auch Stellvertretender Vorsitzender des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen ist. Zukünftige Aufgaben und Chancen lägen vor allem im Wandel weg vom Dringlichen hin zu einer proaktivstrukturierten, nachhaltig ausgerichteten Langzeitversorgung. Vorrangig seien dabei die Entwicklung evidenzbasierter und zugleich praxistauglicher Konzepte zur notwendigen Priorisierung von Therapiezielen bei Multimorbidität, die Professionalisierung hausärztlicher Praxisteams mit Monitoring-Aufgaben sowie die Implementierung von Konzepten mit dem Ziel, Patienten zu aktivieren beziehungsweise zu informieren. Wege zu echter Patientenorientierung, insbesondere zur Bewältigung der komplexen Herausforderungen bei Multimorbidität, würden – mit kaum zu überschätzender Bedeutung – profilbildend für die Allgemeinmedizin der Zukunft sein.

Alte Menschen sind nicht angemessen versorgt

Mit Blick auf den demografischen Wandel wurde die Versorgung älterer Patienten auch vom Kongressinitiator und Gesundheitsexperten Prof. Dr. Gerd Glaeske vom Zentrum für Sozialpolitik (ZeS) an der Universität Bremen als kritisch eingeschätzt. Noch immer suchten Versicherte mit Demenzdiagnose nur zu einem Bruchteil einen Neurologen und/oder Psychiater auf. Auch erhielten sie weiterhin zu viele Neuroleptika, obwohl die Gabe dieser Psychopharmaka bei Demenzpatienten ein erhöhtes Schlaganfall- und sogar Mortalitätsrisiko bedeute. „Allzu häufig werden Demenzpatienten still gestellt, um das Pflegepersonal zu entlasten.“ Solche Beispiele für Fehlversorgung und Versorgungslücken identifiziere man vor allem durch die Analyse von Kassendaten und Patientenbefragungen, so Glaeske. Die Versorgungsforschung gehöre deshalb unbedingt in den Baukasten altersgerechter Versorgungsstrategien. Ihre Funktion als Politikfolgeabschätzung, also als eine kontinuierliche Begleitforschung der Auswirkungen und des Nutzens von Gesetzesänderungen, werde allerdings immer noch sträflich vernachlässigt.

Wie Patienten die neuen Versorgungsformen, wie etwa Disease-Management-Programme, bewerten, konnte Prof. Thomas Kohlmann vom Institut für Community Medicine an der Universität Greifswald beantworten. Zwar seien in Deutschland seiner Aussage nach trotz der Verfügbarkeit von partiell geeigneten Erhebungsinstrumenten bisher nur wenige Studien zur patientenseitigen Evaluation von neuen Kooperationsformen durchgeführt worden. Und ein Teil dieser Studien habe darüber hinaus nur methodisch schwache Designs ohne Kontrollgruppe verwendet, so dass kaum belastbare Aussagen möglich seien, wie höher integrierte Versorgungsformen beurteilt werden.

Betrachte man nur die methodisch besseren Studien und schließe man auch Studienergebnisse aus dem Ausland mit ein, so lasse sich dennoch ein Trend erkennen, nach dem Patienten in integrierten Behandlungsprogrammen auf verschiedenen Ebenen über einen höheren Grad der Koordination berichten sowie mit der Behandlung und mit ihren Partizipationsmöglichkeiten zufriedener seien. Allerdings fänden sich neben diesen positiven Ergebnissen auch solche, die keine durchgängige Überlegenheit der integrierten Programme zeigten. „Es wäre angesichts der dünnen und zum Teil inkonsistenten Ergebnisse dringend erforderlich, die integrierten Behandlungsprogramme systematisch und regelhaft auch aus Patientensicht zu evaluieren. Dabei sollten methodisch hochwertige Studientypen und inhaltlich umfassende Erhebungsinstrumente verwendet werden“, empfahl Kohlmann.

Versorgungsforschung hat auch ihre Kritiker

„Mit dem Interesse an der Versorgungsforschung nimmt auch die Kritik an ihren Ergebnissen zu“, erklärte der stellvertretende Barmer-GEK-Vorstandsvorsitzende, Dr. Rolf-Ulrich Schlenker. So fühlten sich Leistungsanbieter angegriffen wegen der Feststellung von Über-, Unter- und Fehlversorgung. Versicherte sähen sich dem Vorwurf übermäßiger Leistungsinanspruchnahme ausgesetzt. Und schließlich seien die Ergebnisse der Versorgungsforschung durchaus Wegbereiter für – teils gefürchtete – Priorisierungsentscheidungen im Gesundheitswesen. Das zentrale Motiv der Versorgungsforschung bleibe aber klar, so Schlenker: „Im Vordergrund steht der Patientennutzen, nicht die Produktorientierung.“ sf/pm

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