Demografie

Die Mär von der Beitragssatzstabilität

Die gesundheitspolitische Einschätzung des demografischen Wandels war zentrales Thema einer Tagung der Konrad-Adenauer-Stiftung in Schwerin. Ende März diskutierten Vertreter aus Politik und Wissenschaft, inwieweit die Bevölkerungsentwicklung das deutsche Gesundheitssystem beeinflusst und mit welchen Mitteln die Politik darauf reagieren könnte.

Die Demografie und ihre potenziellen Gefahren ernst nehmen, ohne vor etwaigen Szenarien zu kapitulieren, diese Haltung vertrat der Staatssekretär im Bundesfamilienministerium, Josef Hecken. Der zukünftige Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) kritisierte, dass über die Demografie bisweilen „zu viel lamentiert“ wird, statt sie als Herausforderung anzusehen, die es anzunehmen gelte. So müsse der Bevölkerung von der Politik klar vermittelt werden, dass die Aufrechterhaltung des bestehen Gesundheitssystems nicht zum Nulltarif zu haben sei. „Wer heute so tut, als könne man Beitragssatzstabilität garantieren, der lügt“, so Hecken. Um das System aufrechtzuerhalten, komme der Selbstverwaltung eine gewichtige Bedeutung zu. Sie sorge für die notwendige Erdung, die im „Politikbetrieb“ häufig zu wenig oder gar nicht vorhanden sei.

Staatssekretär Thomas Ilka vom Bundesministerium für Gesundheit nannte den Prozess der Bevölkerungsentwicklung „trügerisch“: „Das Thema Demografie betrifft zwar alle, der Prozess geht aber so langsam vor sich, dass man denkt, man sei davon ausgespart.“ Trotzdem könne man vor der Tatsache, dass immer mehr Menschen älter werden, „nicht die Augen verschließen“. Schon gar nicht aufseiten der Akteure im Gesundheitsbereich, einschließlich der Krankenversicherer und Kliniken sowie in der Ärzteschaft, im Pflegebereich und auch in der Politik. Ilka machte deutlich, dass dies auch „angekommen“ sei, daher arbeite das Gesundheitsministerium in Kooperation mit anderen Ministerien an einer Demografiestrategie.

Ilka nannte eine Reihe von Aktivitäten, die sowohl von der Zivilgesellschaft als auch von der Politik umgesetzt werden müssten, um das Thema „in den Griff zu bekommen“. Dies reiche von der Veränderung bestehender Infrastrukturen im Gesundheitssystem über Überlegungen, wie altersgerecht der zukünftige Städtebau auszusehen hat, bis zur Förderung des medizinischen Nachwuchses. Gerade Letzteres sei notwendig, um dem sich abzeichnenden Fachkräftemangel zu begegnen.

Angesichts einer sich schon heute bisweilen verschlechternden Versorgungssituation in ländlichen Gebieten, hob Ilka hervor, dass Konzepte, die die zukünftige Bereitstellung medizinischer Leistungen für die Patienten thematisieren, das Kriterium der regionalen Umsetzbarkeit erfüllen müssten. „Die Strategien müssen Länder- und Kommunentauglich sein“, so Ilka. Eine Forderung, die auch sämtliche anderen Referenten als herausragendes Merkmal von Überlegungen charakterisierten, wie medizinische Versorgung für die Bevölkerung hierzulande zukünftig zu organisieren sei.

Der Staatssekretär bedauerte, dass das Thema „meist negativ“ besetzt sei, obwohl man es doch auch positiv sehen könne, dass immer mehr Menschen älter werden und die Möglichkeiten des Lebens ausgeweitet werden. Zudem sei der Gesundheitsbereich der am größten expandierende Sektor mit enormer volkswirtschaftlicher Bedeutung. „Auf einem anderen Blatt“ stünde allerdings „die bittere Wahrheit“ der sinkenden Zahl von Beitragszahlern aufgrund der schrumpfenden Zahl von Erwerbstätigen. Verschärfend komme gleichzeitig ein Fachkräftemangel im Gesundheitswesen hinzu, und dies nicht nur hierzulande, sondern in der gesamten Europäischen Union. Ilka prophezeite, dass es auch zukünftig notwendig sei, vonseiten der Politik mit Kostendämpfungsmaßnahmen zu reagieren, weil die systemimmanenten Ausgabensteigerungen nicht aufhören würden.

Kontroverse Szenarien

Eine Entdämonisierung des Themas Demografie forderte der Gesundheitsforscher Dr. Jürgen Grümmert vom Unabhängigen Centrum für empirische Markt- und Sozialforschung Rostock. Die Veralterung der Bevölkerung bedeute nicht zwingend einen (finanziellen) Mehraufwand an gesundheitlicher Versorgung. Vielmehr stelle sich die Demografie als temporärer Prozess dar. Wachsen weniger Jüngere ins höhere Alter hinein und versterben die heute Älteren, wandele sich die Bevölkerungspyramide erneut – und das Veralterungsthema verliere an Gewicht. So würden etwa höhere Gesundheitskosten infolge der Veralterung durch geringere Ausgaben für andere Bereiche wie etwa weniger Bau- und Unterhaltskosten von Kindergärten oder Schulen kompensiert. Interne Studien des Rostocker Instituts belegten auch, dass „die Demografie an sich“ kein Kostentreiber sei, hierfür sei vielmehr der medizinisch-technische Fortschritt verantwortlich. Da die Gesundheitsversorgung maßgeblich in regionalen Strukturen geschehe, sei zukünftig verstärkt auf die Beantwortung der Frage „Wo ver altert die Bevölkerung?“ zu drängen.

Der Kieler Gesundheitsökonom Prof. Fritz Beske dagegen warnte auf dem Symposium erneut davor, die Gefahren der Demografie für das deutsche Gesundheitssystem zu unterschätzen. Die Auswirkungen des Älter-Werdens seien gesundheitspolitisch und sozialpolitisch hoch brisant und hätten das Potenzial, die Gesellschaft zu spalten. Permanente Kostensteigerungen durch den rasanten medizinisch-technischen Fortschritt, die sinkende Zahl Voll-Erwerbstätiger, die in die Sozialkassen einzahlen und so das Gesundheitssystem finanzieren, bei gleichzeitiger Zunahme von älteren – oft multimorbiden – Patienten, sei ein Zustand, der sich äußerst negativ auf das Sozialgefüge auswirken könne, so Beske. Um diese Entwicklung zu stoppen, forderte er einen Paradigmenwechsel: Die Finanzierung des Gesundheitssystems müsse so umgestellt werden, dass die Einnahmen die Ausgaben bestimmten. Momentan definiere der Bedarf die Ausgaben, dies gehe nicht mehr. Beske: „Das, was notwendig ist, wird neu definiert werden müssen.“

Besonders augenscheinlich würden die Auswirkungen des fortschreitenden Alterungsprozesses im Bereich jener Patienten werden, die unter mehreren Krankheiten gleichzeitig leiden würden. Dies bedeute letztlich auch eine höhere Zahl von Pflegebedürftigen. Seien es heute bereits über zwei Millionen Menschen, so steigere sich die Zahl derer, die auf pflegerische Hilfe und Betreuung angewiesen sind, bis zum Jahr 2050 auf etwa fünf Millionen Patienten, rechnete der Gesundheitsforscher vor. Angesichts des Mangels an Pflegekräften, der heute schon herrsche, müsse man die Attraktivität dieses Berufs weiter erhöhen, wolle man „nicht Schiffbruch erleiden, was den Umgang einer Gesellschaft mit ihren Schwachen und Kranken angeht“. sg

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