Trainieren im Team

Hypoglykämischer Anfall

Monika Daubländer, Peer Kämmerer, Martin Emmel, Gepa Schwidurski-Maib

Die Zahnmedizinische Fachangestellte an der Anmeldung der Zahnarztpraxis wird darauf aufmerksam, dass sich im Wartezimmer eine etwa 45-jährige Patientin ungewöhnlich laut verhält. Sie schimpft lauthals, lacht hysterisch und belästigt die anderen Patienten. Die Angestellte versucht, die Patientin in einen separaten Raum zu führen, um sich intensiver um sie kümmern zu können und die Situation zu entschärfen. Dies gelingt nicht, weil sich die Patientin dagegen wehrt und jegliche Hilfe ablehnt. Denn sie fühlt sich subjektiv wohl. Letztendlich muss der Zahnarzt einschreiten. Er berührt die Patientin am Oberarm, um sie aus dem Wartezimmer zu führen. Dabei bemerkt er, dass die Patientin zittert und kaltschweißig ist. Er kann eine Mydriasis feststellen. Eine weitere körperliche Untersuchung lässt die Patientin aber nicht zu. Dennoch sind eine beschleunigte Atmung und hohe Erregung festzustellen. Der Zahnarzt gewinnt den Eindruck, dass die Frau verwirrt ist und nun auch Probleme hat, das Gleichgewicht zu halten. Fast kommt es zu einem Sturz auf dem Weg ins Behandlungszimmer. Nachdem sie Platz genommen hat, wird sie etwas ruhiger und beginnt zu grimassieren, greift wie nach Halt suchend um sich und gibt schmatzende Geräusche von sich. Da die Patientin zum ersten Mal und als Akutschmerzpatientin in der Praxis ist, versucht der Zahnarzt eine Anamnese zu erheben. Die Einnahme von Genussmitteln in den letzten Stunden wird verneint, eine längere Nahrungskarenz aber bejaht, ebenso wie ein Diabetes mellitus. Da weder die Patientin noch der Zahnarzt akut im Besitz eines Glukosemessgeräts sind, wird der Patientin, die inzwischen somnolent ist, aber noch schlucken kann, unter der Verdachtsdiagnose Hypoglykämie im Sitzen ein stark zuckerhaltiges Getränk, das zufällig eine der Angestellten mitgebracht hatte, eingeflößt. Die Frau erholt sich ganz langsam und stabilisiert sich sowohl bezüglich der vegetativen Symptomatik als auch seitens des Bewusstseinszustands und entschuldigt sich vielmals für diesen Vorfall, der ihr sichtlich unangenehm ist.

Diagnose dieses Falles

Hypoglykämische Zwischenfälle sind häufige Vorkommnisse in der täglichen klinischen Praxis. Besonders bei Patienten mit Diabetes mellitus Typ 1 oder Typ 2, wie auch in dem beschriebenen Fall, ist die Prävalenz hoch. Die Hypoglykämie beeinträchtigt das Leben der betroffenen Patienten stark, steigert das Risiko, einen schweren Unfall zu erleiden und ist oftmals ein limitierender Faktor, physiologische Blutzuckerspiegel unter anti-diabetischer Therapie zu erreichen. In einer aktuellen Arbeit konnte gezeigt werden, dass ein niedriger Blutzuckerspiegel mit reduzierten kardiovaskulären Komplikationen assoziiert ist. Die daraus zu folgernde aggressive Einstellung der Blutzuckerwerte prädisponiert die Patienten noch weiter zu immer wiederkehrenden hypoglykämischen Episoden, die wiederum einen negativen Einfluss auf die Gesamtmortalität haben. Die unbehandelte, unkontrolliert und rezidivierend auftretende Hypoglykämie kann zu schweren Folgen wie irreversiblen neurologischen Komplikationen und sogar zum Tod führen.

Definition der Hypoglykämie

Als unterer Grenzwert einer noch normalen Glukosekonzentration im Plasma werden 70 mg/dl gesehen. Somit stellt dieser Laborparameter die biologische Unterscheidungsgrenze zur Hypoglykämie dar. Symptome können jedoch bereits bei höheren Blutglukosewerten auftreten und bei niedrigeren fehlen. Differenziert wird zwischen der leichten Hypoglykämie, die von dem Patienten noch selbst behandelt werden kann, und der schweren Hypoglykämie, die mit Bewusstseinsverlusten oder gar Koma assoziiert ist und bei der die Hilfe anderer Personen benötigt wird. Zur labormedizinischen Definition einer schweren Hypoglykämie wird der Glukosewert von 40 bis 50 mg/dl verwendet.

Differenzialdiagnose

Eine wichtige Differenzialdiagnose zur Hypoglykämie sind zerebrale Störungen, vor allem der akute Schlaganfall, der sich mit klinisch ähnlichen Symptomen bemerkbar machen kann. Hier ist die Bestimmung der Blutglukose die wichtigste Prozedur, die unbedingt unternommen werden sollte. Bei starker körperlicher Belastung und/oder bei Stressereignissen (wie sie beispielsweise ein Zahnarztbesuch darstellt), können auch gesunde Patienten mit einer Hypoglykämie reagieren.

Die Ursachen schwerer Hypoglykämien können multifaktoriell sein:

• iatrogene Geschehnisse (zum Beispiel Insulin-Überdosierung)

• infektiöse Erkrankungen, vor allem mit begleitender Sepsis

• Tumor (zum Beispiel Insulinom)

• Autoimmunerkrankungen

• Einnahme einer Vielzahl von Medikamenten, unter anderem von Beta-Blockern und ACE-Hemmern

• übermäßiger Alkoholgenuss

Physiologie

Tritt eine Hypoglykämie auf, so handelt es sich um die Folge eines Missverhältnisses zwischen hepatischer Glukoseabgabe und Glukoseaufnahme der verbrauchenden Organe.

Allgemeine Diagnostik

Typisch für eine Hypoglykämie ist die Whipple-Trias, die aus den Punkten

• Zeichen einer Unterzuckerung,

• Nachweis einer Hypoglykämie (40 bis 50 mg/dl) sowie

• rasche Symptombeseitigung nach Kohlenhydrataufnahme besteht.

Die Symptome einer Hypoglykämie sind stark variabel und individuell unterschiedlich. Aggression, plötzliche Müdigkeit und Schweißausbrüche können auf einen hypoglykämischen Anfall hinweisen. Insgesamt lassen sie sich unterteilen in

• autonome Symptome (Heißhunger, Übelkeit, Erbrechen, Asthenie, Nervosität, Schwitzen, Tachykardie, Tremor, Mydriasis, Hypertonus),

• neuroglykopene Syndrome (Verwirrtheit, Doppelbilder, halbseitige Lähmungen, mangelnde Koordination, Sprachstörungen, Bewusstseinsverlust, Unruhe, verlangsamtes Denken) sowie

• nicht-spezifische Symptome und primitive Automatismen (Grimassieren, Greifen, Schmatzen, Kopfschmerzen, Übelkeit, Aggressivität). Sollte keine Kohlenhydrat-zufuhr erfolgen, so tritt Somnolenz bis hin zum hypoglykämischen Schock mit zentralen Atem- und Kreislaufstörungen auf.

Allgemeine Therapie

Ratsam ist, diabetische Patienten gezielt darauf hinzuweisen, dass sie ihre normale Medikation sowie entsprechende Nahrung vor dem Eingriff zu sich nehmen. Sollten dennoch Symptome einer akuten Hypoglykämie auftreten, ist es zu empfehlen, dem noch kooperationsfähigen Patienten oral Glukose zuzuführen, dies gegebenenfalls auch ohne vorherige Bestimmung des Blutglukosewerts. Als Dosis werden hier fünf bis 20 g bei einem erwachsenen Patienten empfohlen. Dies kann in Form von stark zuckerhaltigen Getränken oder Gelen geschehen. Bei einer asymptomatischen oder milden bis moderaten Hypoglykämie ist daraufhin nach 15 bis 20 Minuten mit einer Besserung zu rechnen. Ist der Patient nicht mehr in der Lage, mit dem Behandler zu kooperieren, oder ist der Patient bereits bewusstlos, muss die Gabe über einen intravenösen Zugang erfolgen. Erbringen die oben genannten Maßnahmen keinen Erfolg oder sind in der zahnärztlichen Praxis nicht verfügbar, ist der Notarzt zu alarmieren, der dem Patienten vorzugsweise Glukose i. v., (initial 40 bis 100 ml Glukose 40-prozentig, anschließend Glukose fünfprozentig per infusionem), in schwereren Fällen, einen Bolus von 50 ml oder Glukagoninfusion (1 mg/ml) zukommen lässt. Die Zielgröße ist ein Blutzuckerspiegel von etwa 200 mb/dl. Bis zum Eintreffen des Notarztes sind die Vitalzeichen des Patienten (Bewusstsein, Atmung, Kreislauf) zu überprüfen und der Patient, wenn er bewusstlos ist, in die stabile Seitenlage (siehe zm 2/2012, Seite 49) zu bringen. Um eine erneute Hypoglykämie zu vermeiden, sollte bei diesen Patienten alle 30 Minuten für die ersten zwei Stunden der Blutglukosespiegel gemessen und, wenn nötig, weiter substituiert werden. Sobald möglich, erfolgt dies dann wieder oral durch die Gabe von Kohlenhydraten.

Kritische Wertung dieser Notfallsituation

Eine ausführliche Anamnese bietet dem behandelnden Arzt bei Auftreten eines akuten Ereignisses die Möglichkeit der diagnostischen Eingrenzung und das rasche Einleiten weiterer diagnostischer und therapeutischer Schritte.

Dies war im vorliegenden Fall bedingt durch das Verhalten der Patientin erschwert und nur verzögert möglich. Die primäre Verdachtsdiagnose Alkoholintoxikation ergab sich auch aus dem auffälligen Benehmen, ist aber für eine Hypoglykämie typisch. Letztendlich hat aber die Anamnese zur Diagnose geführt. Es ist davon auszugehen, dass schätzungsweise ein Drittel aller Diabeteserkrankungen nicht diagnostiziert sind.

Generell wird ein Screening auf Diabetes bei allen Patienten empfohlen, die älter als 45 Jahre sind. Risikofaktoren sind unter anderem Adipositas (BMI 30), Hypertonie, Alkoholabusus, Leberdysfunktionen, Hypothyreoidismus, Niereninsuffizienz und bereits festgestellte Glukosetoleranz. Auf anamnestische Symptome wie Polyurie, Polydipsie und unerklärlichen Gewichtsverlust ist sensibel zu reagieren. Gerade aufgrund der möglichen schwerwiegenden Folgen ist es auch die Aufgabe des behandelnden Zahnarztes, gefährdete Patienten zu erkennen, aufzuklären und präventiv einzugreifen. Die Behandlung diabetischer Patienten sollte in enger Zusammenarbeit mit dem behandelnden Internisten oder Hausarzt erfolgen. Nach einem, wie in dem Fall beschriebenen, hypoglykämischen Ereignis ist zu klären, ob die Patientin schon öfter derartige Anfälle hatte oder ob es sich um eine erstmalige Angelegenheit handelte.

Aufgrund der möglichen Differenzialdiagnosen (vor allem Apoplex) sollte im Falle einer Erstmanifestation dringend Abklärung über den Hausarzt empfohlen werden.

Univ.-Prof. Dr. Dr. Monika DaubländerPoliklinik für Zahnärztliche ChirurgieUniversitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (KöR)Augustusplatz 255131 Mainz

daublaen@uni-mainz.de

Dr. Dr. Peer KämmererKlinik für Mund-, Kiefer- und GesichtschirurgieUniversitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (KöR)Augustusplatz 255131 Mainz

Dr. Martin EmmelPraxis Dr. MohrThilmanystr. 554634 Bitburg

Dr. Gepa Schwidurski-MaibHans-Katzer-Str. 450858 Köln

INFO

Notfallserie ab 2012

Eine Notfallsituation ist eine besondere Herausforderung. Aber nicht jedes Praxisteam hat gemeinsam eine Beatmung geübt und für den Tag X geprobt. Aber nur ein eingespieltes Team kann schnell und richtig handeln. Die zm stellen in jeder geraden Ausgabe eine Notfallsituation vor, die im Praxisteam besprochen werden sollte, damit jeder seinen Handgriff im Notfall auch wirklich beherrscht. Denn Kompetenz rettet Leben.

Bereits veröffentlichte Themen:

zm 2/2012: Die Synkope

INFO

Präventive Maßnahmen

• Frühzeitige Aufklärung des Patienten über perioperative Nahrungsaufnahme und Medikamentenapplikation

• Schulung der Patienten zur „Hypoglycemia awareness“

• Glukosebestimmung aus dem Kapillarblut als Monitoring oder beim Auftreten von Symptomen

• Falls Blutzuckermessung nicht möglich und bei Vorliegen einer typischen Symptomatik: orale Glukosegabe

INFO

Mögliche Fehler bei der Therapie

• Falsche Blutzuckermesswerte durch mangelnde Reinigung der Haut an der Einstichstelle für die Kapillarblutblutzuckerbestimmung (vor allem Glukose)

• Zu späte Diagnosestellung und zu später Therapiebeginn (bei akuter neurologischer und psychiatrischer Symptomatik immer Blutzuckerbestimmung)

• Verwechslung der Symptomatik mit einem hyperglykämischen Koma und Blutzuckersteigerung bei Glukosegabe

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