Zur Bedeutung des Patientenrechtegesetzes

Die dritte Instanz

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Im Spannungsfeld zwischen Patientenrechtegesetz und der strukturellen Asymmetrie der Arzt-Patienten-Beziehung klaffen Anspruch und Wirklichkeit im Behandlungsalltag auseinander. Um das Vertrauen der Patienten zu erhalten und zu bestätigen, ist die Zahnärzteschaft gefordert, das Arzt-Patienten-Verhältnis verantwortungsbewusst und autonom zu gestalten. Eine soziologisch-zahnmedizinische Erörterung.

Eine Arzt-Patienten-Beziehung wird vonseiten des Patienten nicht vollkommen freiwillig, sondern aus einer Notlage heraus aufgenommen. Der Patient ist gleichsam geschwächt, wenn er dem (hoffentlich) in vollem Umfang handlungsfähigen Arzt gegenübertritt. Auf der Ebene der Beziehung zwischen Arzt und Patient resultiert nun ein Ungleichgewicht hinsichtlich des Fachwissens und der darauf basierenden Handlungsmöglichkeiten, um das zugrunde liegende Problem des Patienten zu lösen. Dieser Umstand wird mit dem Begriff der Asymmetrie im Arzt-Patienten-Verhältnis beschrieben. Nun könnte man in einem ersten Reflex argumentieren, dass gerade deshalb der Patient eines besonderen gesetzlichen Schutzes bedarf. Jedoch träte dann eine dritte Instanz in die duale Beziehung zwischen Arzt und Patient ein und stellte deren Interaktionen unter einen Vorbehalt. Das für eine erfolgreiche Therapie notwendige Vertrauen in der ursprünglich autonomen Dyade beziehungsweise Dualität würde auf diese Weise durch externe Kontrolle ersetzt und damit ausgehöhlt.

Helfende Arbeitsbeziehung mit dem Patienten

Diese These und die folgenden Überlegungen stehen in engem Bezug zu den soziologisch beschriebenen Funktionsbedingungen professionellen Handelns, über die sich die zahnärztliche Profession im Klaren sein muss. Die Kenntnis über diese Zusammenhänge ist dabei völlig unabhängig von der individuellen Tätigkeitsebene, da es den Praktiker vor Ort sowie den Standesvertreter gleichermaßen betrifft. Kernelement der professionellen medizinischen Tätigkeit ist die Arbeitsbeziehung mit dem Patienten als helfende Beziehung. Voraussetzung zum Tätigwerden des zahnmedizinischen Professionellen ist das Hilfeersuchen des Patienten. Durch die Erkrankung, die unterschiedlich große Anteile an (zahn-)medizinischen, psychologischen und sozialen Ursachen beinhaltet, ist dessen Handlungsfähigkeit eingeschränkt.

Der aufgesuchte (Zahn-)Arzt verfügt demgegenüber über die Wissens- und Erfahrungsbestände, mit denen diese konkreten Einschränkungen des Patienten behandelt und im besten Fall beseitigt werden können. Die Arzt-Patienten-Beziehung ist somit zunächst grundlegend asymmetrisch hinsichtlich der verfügbaren Entscheidungsfindung und Handlungsmöglichkeiten:

Auf die Beziehung zwischen Helfer und Patient im autonomen Arbeitsbündnis wird in der Professionsforschung zentral verwiesen. Dieses setzt eine an gemeinsamen Zielen orientierte Kooperation und Koproduktion voraus, um einen Behandlungserfolg überhaupt erst zu ermöglichen. Eine Selbstthematisierung und ständige Prozessreflexion professioneller Arbeit erscheint infolge der zugrunde liegenden Asymmetrie unentbehrlich, um Vertrauen gegenüber der Profession zu erhalten oder auszubauen. (Zahn-)Ärztliches Bemühen, die Asymmetrie hin zu einem aufgeklärten Patienten zu gestalten, der eine Entscheidung auf Augenhöhe mittragen kann, versteht sich unter der Prämisse des zuvor beschriebenen Schutzreflexes dann als eine ärztliche Pflicht sine qua non. Dies birgt für den praktischen Zahnarzt ein handfestes Dilemma, da bereits das Bemühen ein gleichsam wünschenswertes wie schwer zu realisierendes Ziel verfolgt. Die Phase des Entscheidungsraums wird der Behandler nur in absoluten Ausnahmefällen professionell mit dem Patienten teilen können, dem letztlich trotz profunder Aufklärung weiterhin nicht mehr als ein zahnmedizinisches Laienwissen zur Verfügung stehen wird.

Dilemmatische Aspekte des Patientenrechtegesetzes

Diese für alle Professionen gültigen Handlungsbedingungen haben insbesondere im medizinischen Kontext seit Jahren ein zentrales Interesse für gesellschaftliche Verbände und Interessengruppen erlangt. Um entsprechenden Forderungen nachzukommen, fasst das 2013 in Kraft getretene Patientenrechtegesetz das Arzthaftungsrecht in § 630 BGB zusammen, verbessert die Verfahrensrechte der Patienten bei Behandlungsfehlern und stärkt die Beteiligungs- und Informationsrechte der Patienten. Diese Maßnahme des Gesetzgebers weist für die Profession einen zweischneidigen Charakter auf. Welche verborgenen Chancen für die Profession offenbaren sich in diesem Gesetz? Vorurteilsfrei kann es als das rechtliche Entsprechen eines gesellschaftlichen Sicherheitsbedürfnisses verstanden werden.

Seitens der Profession wäre also die Hoffnung berechtigt, dass auf diesem Wege das öffentliche Vertrauen in (zahn-)ärztliches Handeln gefördert wird. Demgegenüber besteht jedoch in kritischer Betrachtung die Gefahr, dass der § 630 BGB den Aufklärungs-, Informations- oder Behandlungsfehler als einzige mögliche Ursache für das Scheitern einer Behandlung nahelegt. Somit wäre einem primär misstrauensfördernden Effekt Vorschub geleistet, woraus sich ein gegenläufiger Effekt auf die vertrauensvorschießende Zuwendung eines Hilfe suchenden Patienten entwickeln würde. Auch und gerade hierin spiegelt sich die Notwendigkeit des Erhalts der Freiberuflichkeit zum offenen und reflektierten Umgang mit den professionspraktischen Handlungsanforderungen wider. Eine dritte Instanz ist hierzu nicht befähigt. Dies hat seine Ursachen in deren Laienhaftigkeit wie sachfremden Interessen. Neben vielen anderen ist sicherlich die Aufklärungspflicht des Behandelnden gegenüber seinem Patienten als Hauptaspekt in den Fokus gerückt. Diagnose, Therapien, Alternativen und Risiken sollen hiernach in „leichter“ und „verständlicher“ Sprache Erläuterung finden. In der Realität trifft dieser Sachverhalt aber nicht auf einen statistisch beschreibbaren Normpatienten. Vielmehr wird in Varianz und Variabilität der Arzt-Patienten-Beziehung der Gegensatz zwischen Anspruch und Wirklichkeit manifest. Dies verdeutlicht sich beispielhaft, wenn man die Behandlungsbedingungen gerade für diejenigen Fälle bedenkt, in denen eine zielgerichtete Kommunikation nur unter erschwerten Umständen gestaltet werden kann.

Anforderungen an (zahn-)ärztliches Handeln

Der demografische Wandel wird durch die absolute und relative Zunahme älterer Menschen dazu führen, dass sich der professionelle Praktiker mit gehäuften Problemen konfrontiert sieht, um der gesetzlich geforderten Reduktion an Asymmetrie in der Beziehung zum Patienten zu entsprechen. Allerdings: Wie soll dies etwa in Grenzfällen von Demenzverläufen auf der psychischen Ebene oder bei Hörschwächen auf der materiellen Ebene unmissverständlich realisierbar gemacht werden? Welche Voraussetzungen hat der professionell Handelnde überhaupt, um mit denen im Alter sich verändernden Lebensumständen und veränderten Verhaltensweisen (Mundhygiene, Kontrolltermine et cetera) umzugehen? Wie gelingt es andererseits in der Behandlung geistig behinderter Menschen, in einem oft eng bemessenen Zeitfenster die Behandlung und die Notwendigkeit eines komplexeren Aufklärungsmodus miteinander zu vereinbaren? Ist denn in einem möglicherweise geregelten Betreuungsverhältnis zu erwarten, dass eine gesetzlich stellvertretende Aufklärung unter den gegebenen Umständen von Pflegeengpässen immer auf eine ausreichende Aufmerksamkeit trifft? Kann denn wahrhaft sichergestellt werden, dass bei Patienten mit Verständnisschwierigkeiten komplexe Behandlungsabläufe abgegrenzt von Alternativen und einhergehenden Risiken zweifelsfrei verstanden werden, und somit eine Nachvollziehbarkeit vorliegt, die das Einverständnis in eine Therapie legitimiert? Wie gelingt derselbe Sachverhalt in der Interaktion mit der zunehmenden Zahl an Patienten, deren Deutschkenntnisse nicht ausreichen, um Vorbeschriebenes ausreichend beurteilen zu können.

Umgekehrt: Wie geht die Profession mit aktuellen Ansätzen zur Lösung des Ärztemangels um, in denen ausländische Mediziner eingesetzt werden, denen aber die notwendige deutsche Fach- und Umgangssprache fehlt, um eben den gesetzlichen Forderungen des Übersetzens fachlicher Sachverhalte in umgangssprachliche Vergleiche überhaupt entsprechen zu können? Welche Spielräume hat der Professionelle beim desinteressierten Patienten, der sich in der Asymmetrie der Beziehung wohl fühlt und sich auf sein interpersonelles Vertrauen stützt und weniger auf Fachinformationen? In diesen Fällen sind dann die gängig geäußerten Kommentare: „Sie sind doch der Fachmann“, „Reden Sie doch nicht so viel davon, ich hab doch davon keine Ahnung“ oder „Machen Sie’s doch so, wie Sie’s für richtig halten“. Dabei wird dem Behandelnden immer bewusst sein, dass Komplikationen nie auszuschließen sind.

Ein ähnliches Problem stellt sich bei Phobikern, denen es in ihrer übergroßen Überwindung daran gelegen ist, die ihnen erscheinende psychische Belastung oder gar Tortur schnellstmöglich hinter sich zu bringen, ohne vom Wissen über technische Details der Behandlung wieder behandlungsunfähig gemacht zu werden. Und auch wenn aus gesetzlicher Sicht scheinbar klare Regeln für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen existieren, so sieht die praktische Realität teils völlig anders aus. Diese auf den ersten Blick marginal erscheinende Grauzone ließe sich weiter ausdehnen.

Generell stellt sich die Frage, wie weit der Patientenwille gehen kann. Und Beispiele finden sich sicherlich nicht nur in der ästhetischen Chirurgie. Ist etwa eine Patientenforderung im zahnmedizinischen Kontext „Ziehen Sie bitte einfach alles und machen mir am besten eine Prothese, dann habe ich Ruhe damit“ in professioneller Reflexion der unterschiedlich denkbaren Fallumstände in dem einen Fall gerade noch gerechtfertigt und im anderen bereits kontraindiziert? Und welche Details rechtfertigen dann eine ungleiche Würdigung des Patientenwillens, natürlich ohne eine statistische Normierung eines Patienten vornehmen zu wollen? Und selbst der gut vorinformierte Patient („Ich habe mich genau im Internet informiert.“) fällt in Gesamtbetrachtung unter das Zufallsprinzip. Ob dessen Selbsteinschätzung zutrifft, mit der er seinen Behandler konfrontiert, hängt auch in der Zahnmedizin zumeist von einer derart umfangreichen Kombination von Faktoren ab, dass es einem nicht umfassend ausgebildeten Laien unmöglich ist, eine abgegrenzte Information, sei sie auch noch so detailliert, fundiert einordnen zu können. Und unter dem gesteigerten Bewusstsein der Patientenaufklärung geht es schließlich auch um die alltägliche Organisation von Behandlungsabläufen, wenn sich beispielsweise morgens zu den einbestellten Patienten parallel noch mehrere Schmerzpatienten gleichzeitig einfinden. Aufklärung und Verständigung fallen schwer, wenn ursprünglich drei oder vier Patienten nacheinander zur ‘01‘ und eventuell noch Zahnsteinentfernung eingeplant waren, nun aber ein akutes Problem entstanden ist, das jeweils einer invasiveren Behandlung bedarf und somit ein deutlich längeres Zeitkontingent erforderlich macht. All die beschriebenen Konstellationen und deren denkbare Kombinationen lassen sich nicht normativ lösen, sondern sind im Einzelfall immer wieder von Neuem zu bearbeiten – und dies möglichst transparent und begründbar, obwohl ein großer Anteil der Kommunikation zwischen Arzt und Patient nonverbal verläuft und implizit bleibt. Die Balance zwischen Vertrauen und Kontrolle, zwischen Autonomie und Normierung ist im gesellschaftlichen Raum zwischen der Profession und den politischen Entscheidungsträgern vor diesem Hintergrund auszuhandeln. Denn um der Vielzahl der zu erwartenden dilemmatischen Situationen entsprechen zu können, müssen für den Behandler vor Ort gleichzeitig Praktikabilität und die nötige Rechtssicherheit gegeben sein.

Unzureichend reflektierte Misserfolgskultur

Als Anlass für den Ruf nach gesetzlicher Regelung wirken insbesondere die Fälle, die in der Öffentlichkeit wirksam dokumentieren, dass die Profession ihrem Versorgungsauftrag scheinbar ungenügend nachkommt. Zahnmedizinische Misserfolge erzeugen über Gutachten und die Verlagerung an die juristische Profession durch Gerichtsurteile ein öffentlichkeitswirksames Bild. Diese Fälle haben in der Regel einen komplexen und langwierigen Verlauf hinter sich. Neuere Forschungsergebnisse mit sozialwissenschaftlich-qualitativer Methodik verweisen darauf, dass diese Misserfolgsfälle jedoch zumeist nur als einseitiges Versagen der Professionellen gewürdigt werden und gerade nicht als Ausdruck dilemmatischer und undurchschauter Fallbedingungen und Wechselwirkungen. Die Studien zeigen, dass sich der Konflikt zwischen Arzt und Patient in diesen Fällen häufig auf der Beziehungsebene anstatt auf der Sachebene realisiert. Werden beide Ebenen vermischt und diese Vermischung nicht durchschaut, sprechen wir von einem Double Bind in Dentistry als Verlaufskurve der Behandlungsbeziehung (Abbildung linke Seite). Aber welche Autorität soll genau dies entscheiden? Erfolgt beispielsweise die Reflexion eines Misserfolgs in der gutachterlichen Beurteilung nur aus einer technikfixierten Betrachtung und werden alle Interaktionsverläufe ohne technomorphen Bezug ausgeblendet, so wirkt die Profession aus sich heraus deprofessionalisierend.

Ein zweites Beispiel ist das über Jahrhunderte gültige cartesianische Schmerzbild, nach dem in einem einwärts gerichteten Ablauf die Auslösung, Weiterleitung und Wahrnehmung von Schmerz seit dem 16. Jahrhundert bis in die Neuzeit bestehende Gültigkeit hatte. Nur ist bei chronischen Schmerzfällen mittlerweile gesichert, dass dieser Schmerzmechanismus in gerade entgegengesetzter Richtung verläuft. Entsprechend findet der Denkansatz von Reuter seine Berechtigung, wenn er hinterfragt [1992]: „Ist zu erwarten, dass purer Rationalismus in dieser Welt Erfolg hat, wenn er schon in der physischen Welt regelmäßig mit Mechanismen des Versagens assoziiert ist? Und was taugt eine dann in Normen gefasste Rationalität, die der Gefahr des Fehlers mit einem ausschließlichen Mehr-vom-Selben begegnet, anstatt ihr mit einer Umzentrierung und Umstrukturierung des Denkens zu begegnen?“

In dieser Argumentationslinie wird die Entstehenslogik der Gesetzesentstehung nachvollziehbar. Hier sind Annahmen von zentraler Bedeutung, die voraussetzen, dass allen Misserfolgen ein Fehler im ärztlichen Handeln vorausgeht. Dies ist empirisch belegt mitnichten der Fall. Gerade für die zahnmedizinische Profession hat sich gezeigt, dass fehlerbasierte und beziehungsbasierte Misserfolge gänzlich unterschiedliche Muster aufweisen.

Eine gesetzliche Intervention, die der Haltung unterliegt, Misserfolg und Fehler nicht voneinander zu trennen, vernachlässigt Befunde aus der empirischen Welt der Fehlerforschung. Selbstverständlich tragen Rationalität und Genauigkeit zur Fehlervermeidung bei, ebenso wie Fehler im Umgang mit technischen Abläufen durch die profunde Kenntnis der technischen Rationalität der Abläufe zu vermeiden sind. Doch sind deren unbelebter wie lebender Anteil bedeutend, weil sonst Fehlern in ihrer Unvorhersehbarkeit Tür und Tor geöffnet wird. Fehler lebendiger Systeme sind strukturell anders als Fehler technischer Systeme. Versuche, beide Fehlerkategorien für einander vergleichbar zu erklären, werden durch die puren phänomenalen Systemunterschiede zu wissenschaftstheoretischem und pragmatischem Unfug. Von wichtiger Bedeutung für ein lebendiges Ganzes ist nach Wehner [1992] „die Fähigkeit des Versagers, Bewusstsein seiner Fehlerhaftigkeit zu entwickeln“. In der Fehlerfreundlichkeit evolutiver und lebendiger Systeme liegt ein überlebenswichtiger Vorteil, der den Anspruch eines Paradigmenwechsels entgegen der jahrhundertelangen Devise „Fehler erkennen und vermeiden“ rechtfertigt. Sanktionsdruck wird als Ausdruck einer Null-Fehler-Mentalität eine Haltung fördern, die den Fehler verleugnet, und damit auch eine Weiterentwicklung der professionellen Leistung verhindern. Ohne Fehler ist Leben nicht möglich. Der Mensch in seinem Wesen unterliegt zudem keinen engen, sterilen Funktionsbedingungen, abweichend von Universitätsstandards unter In-vitro-Bedingungen. Vielmehr ist er in einem breiten Intervall biologischer Adaptationsbreite beschreibbar. Das Einhalten dieses Adaptationsintervalls ist der Handlungsraum hochkomplexer Erfolgskriterien, von denen es ein tragischer Trugschluss wäre, dass technische Regelgrößen sie allein beschrieben. Das Patientenrechtegesetz trägt diesen Sachverhalten eher wenig Rechnung. Es erscheint unter diesen Aspekten vielmehr als eine Verfasstheit formaler Aufklärungskriterien, die in den beschriebenen Fällen schneller zu dilemmatischen Handlungsanforderungen führen, als dies ohnehin der Fall ist.

Entscheidungsverpflichtung handelnder Zahnärzte

Für die Grenzen der Patientenaufklärung zur Steigerung dessen autonomer Entscheidungsräume erscheinen wissenschaftliche Zusammenhänge aus dem soziologischen Zweig der Expertiseforschung grundlegend. Der Expertenstatus wird in der berufswissenschaftlichen Literatur als höchste Stufe der persönlichen Kompetenzentwicklung betrachtet. Aus psychologischer Sicht ist der Experte definierbar als eine Person, die auf einem Gebiet dauerhaft herausragende Leistungen erbringt. Dem gegenübergestellt bezieht sich der Begriff der Kompetenz auf die Resultate von Ausbildung und Qualifikation wie etwa Fähigkeiten, Einstellungen, Wissen und Verhaltensweisen. Dabei betont Kompetenz das Maß an Handlungsfähigkeit eines Experten in seinem Fachgebiet. Auch in der zahnmedizinischen Profession wird die Expertise fließend und beständig gesteigert und die Fälle werden nicht mehr nur durch vergegenwärtigte einzelne Parameter und Fälle gelöst, sondern aus der Sicht regelmäßig funktionierender „kategorialer Einheiten“, das heißt, welche Routinen anwendbar sind oder aber individuell angepasst werden müssen. Es geht dabei nicht um das auswendig gelernte Aufsagen professioneller Handlungsempfehlungen, sondern um die korrekte Anwendung derselben. Dies bezieht sich insbesondere auch auf den impliziten Charakter von Expertenhandeln, ohne dass sich der Experte explizit klar machen muss, wie er Einzelfälle immer wieder erfolgreich behandelt. In diesem Zusammenhang sei vor dem Hintergrund des Patientenrechtegesetzes auf die dilemmatische Herausforderung verwiesen, welche Zeit man einem aufzuklärenden Laien zugesteht, um den Prozess einer professionellen Einsozialisierung zu überspringen und dennoch zu einer gereiften Entscheidung im Sinne der Patientenautonomie zu gelangen.

Verständigung zwischen Professionellen und Klienten vor dem Hintergrund spezialisierten Wissens und Könnens wird dabei erstens von den Beteiligten häufig als schwierig erlebt und zweitens misslingt sie auch tatsächlich oft. Als einsamer Problemlöser wird der Experte hierzu aus dem sozialen Kontext seiner professionellen Tätigkeit herausgelöst. Um Missverständnissen und einem erhöhten Misserfolgsrisiko aus dieser Richtung entgegenzuwirken, ist es gegenüber formalen Feststellungen gesetzlicher Aufklärungsmaßnahmen vielmehr erforderlich, auf die Analysen sensibler Strukturen in der Experten-Laien-Interaktion hinzuweisen.

Politik, Sozioökonomen und einzelnen Interessengruppen wird eine kalibrierte Einschätzung dieses Sachverhalts aus deren jeweils einseitigen Interessen, verbunden mit einem unzureichenden Laienverständnis, nicht gelingen können. In der Expertiseforschung ist der Laie im Gegensatz zum Experten aus diesen Anforderungen heraus eine Person, die zwar von den Problemen, für die die Experten zuständig sind, betroffen werden oder sein kann, dem aber die Ausbildung und die institutionellen Rahmenbedingungen für eine eigenständige Problemlösung fehlen, und der dies auch gar nicht anstrebt. Die Wissensstrukturen von Experten und Laien differieren also prinzipiell, wobei Wissensbestände von Experten zwar auch umfangreicher sind, aber auch in den bereits beschriebenen „kategorialen Einheiten“ sinnvoll gebündelt. Experten packen das Erfahrungswissen in Einheiten, das für Kommunikationszwecke wieder entfaltet wird. Fachbegriffe sind als Grundlage kategorialer Wahrnehmung somit nicht einfach in alltagssprachliche Begrifflichkeit auszutauschen. Die ganzheitliche Wahrnehmung über das expertokratische Begriffssystem ist für den Experten einerseits von zentraler Bedeutung, andererseits für die Experten-Laien-Kommunikation aufgrund des differierenden Bezugsrahmens eine Ursache von Problemen in der Verständigung zwischen ihnen.

Fazit

Dennoch muss der Laie im Idealfall eine informierte Entscheidung treffen, woraus allerdings eine paradoxe Anforderung entstehen kann. Denn die Bewältigung der Situation erfordert zwangsläufig eine Vermittlung von Expertenwissen, ohne dass ein wechselseitiges Lehr-/Lernverhältnis angestrebt wird. Nun ist die Interaktion zwischen Professionellem und Klient keineswegs als Form der Instruktion misszuverstehen, da es um einen mündigen Patienten geht, der nicht professionalisiert werden soll. Zudem sei auf zwei erziehungswissenschaftliche Problembestände verwiesen: Erstens ist der Wissensvermittlungsprozess beiderseits hoch individuell und kaum systematisch planbar, zweitens werden die Professionellen in ihrer Ausbildung nicht mit Vermittlungsproblemen konfrontiert. Am Beispiel der Profession Zahnmedizin lässt sich diese theoretische Annahme in der Tat verifizieren, zumal es bislang weder ein Pflicht- noch ein Wahl-Curriculum in psychosozialer oder professionsethischer Grundkompetenz gibt, was zum tieferen Verständnis der Interaktionsmodalitäten zwischen Arzt und Patient unter professionstheoretischen Aspekten unerlässlich wäre. Gerät die Arzt-Patienten-Interaktion im ungünstigen Fall in eine Schieflage, dann versagen gerade die formalen Vorgaben eines Patientenrechtegesetzes vollends, da sie die vorbeschriebenen tiefgreifenden Reflexionsgrade im Professionellen-Laien-Bezug unberücksichtigt lassen. Da die unterschiedlichen Perspektiven zwischen Professionellem und dem um Hilfe ersuchenden Laien zwangsläufig eine Interaktionsasymmetrie bilden, scheitert im Fall des Misserfolgs dann genau die Strategie, die es als Grundlage des Patientenrechtegesetzes aber gerade gewährleisten sollte, diese problembehaftete Interaktion zu klären. So nimmt ein belastetes Verhältnis zwischen Arzt und Patient Züge des Nichtverstehens an. In einer nicht erfolgreichen Behandlung wird unter solchen Voraussetzungen auch abseits eines Fehlers der Vertrauensvorschuss des Patienten aufgebraucht, wie übrigens auch das Vertrauen des Behandlers in den Patienten. In der Folge wird eine weitere Interaktion beiderseitig von misstrauensfördernden Beziehungsmustern geprägt. Die Erfordernisse, den kompletten Misserfolg im Sinne eines Abbruchs des autonomen Arbeitsbündnisses zu vermeiden, erfordert dann weit mehr als ein eher schematisch anwendbares fachbezogenes Expertenwissen. Dieser Bezug bleibt aber im Rahmen des aktuell gefassten Patientenrechtegesetzes unverstanden.

Die deutsche Zahnärzteschaft ist gefordert, sich das Maß an gesellschaftlichem Vertrauensvorschuss zu erarbeiten, dessen es bedarf, um das Arzt-Patienten-Verhältnis in verantwortungsbewusster Autonomie ohne erhobenen Zeigefinger einer zwischengeschalteten staatlichen Regelung zu gestalten. Wer den engen Horizont der eigenen Interessen reflexiv durchbricht und sich selbst als ebenso soziales wie individuelles Wesen interpretiert, erkennt auch ohne Rekurs auf rechtliche Normen leicht, dass die Pflege von vertrauensbasierten Beziehungsnetzen sinnvoll ist und letztlich gleichermaßen auf dem Konto der zahnärztlichen Profession wie auch auf dem des einzelnen Akteurs zu Buche schlägt.

Dr. med. dent. Dr. phil. Mike Jacob, M.A.Maximinstr. 4366763 Dillingen/Saardr.mikejacob@t-online.de

Prof. Dr. rer. pol. Michael DickOtto-von-Guericke Universität MagdeburgFakultät für HumanwissenschaftenZschokkestr. 3239104 Magdeburgmichael.dick@ovgu.de

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