Gastkommentar

Ins Abseits gedrängt

pr
Die Unterschiede zwischen SPD und Union sind verschwunden. Die gesundheitspolitische Alternativlosigkeit ist gefährlich, meint Dr. Dorothea Siems, Chefkorrespondentin für Wirtschaft der Welt, Berlin.

Ein Jahr ist die Große Koalition an der Regierung. In einem beachtlichen Tempo arbeiten Sozialdemokraten und Union seither die Aufgabenliste ab, die sie zu Beginn im Koalitionsvertrag aufgestellt hatten. Verglichen mit der schwarz-gelben Vorgängerregierung funktioniert das derzeitige Parteienbündnis erstaunlich friktionslos: Es herrscht Konsens von den Parteispitzen bis in die hinteren Bänke im Parlament. Auch in der Gesundheitspolitik gilt der großkoalitionäre Frieden. Vorbei die Zeiten, als sich SPD und Union noch erbitterte Auseinandersetzungen über die Finanzierung der Krankenversicherung geliefert hatten. Als Bundeskanzlerin Angela Merkel 2005 erstmals ein Regierungsbündnis mit der SPD einging, kämpfte ihre Partei für ein revolutionäres Prämienmodell, das die Beitragsfinanzierung ablösen sollte. Die Gegenseite pochte dagegen auf eine Einheitsversicherung für alle Bürger. Mittlerweile ist die inhaltliche Nähe derart groß, dass die Bevölkerung kaum mehr ausmachen kann, wo die Gesundheitspolitik der SPD endet und die der Union beginnt. Da überdies die FDP auf Bundesebene keine Rolle mehr spielt und die Opposition so klein ist wie nie zuvor, herrscht eine fatale Alternativlosigkeit.

Wie die große Konsens-Koalition tickt, zeigt sich exemplarisch beim geplanten Versorgungsstärkungsgesetz. Ein bunter Strauß an Maßnahmen, der zwar manchen positiven Ansatz enthält, aber doch im Großen und Ganzen vor allem mehr Bürokratie, neue Regulierungen zulasten der Ärzteschaft und weitere Kosten für die Versicherten beinhaltet. Vollmundig verspricht man Kassenpatienten, dass sie in Zukunft maximal vier Wochen auf einen Termin beim Spezialisten warten müssten. Auch die Lösungsansätze im Kampf gegen die wachsenden Versorgungslücken in ländlichen Gebieten sind vor allem von planwirtschaftlichem Denken geprägt, wie die zwangsweise Reduzierung von Arztsitzen in attraktiven Ballungsgebieten zeigt. Und dass künftig die Versicherten das Haftungsrisiko der selbstständig arbeitenden Hebammen tragen sollen, verdeutlich einmal mehr, dass SPD und Union mit der Freiberuflichkeit nicht viel am Hut haben.

Die Volksparteien legen ihr Augenmerk auf die Interessen der Bevölkerungsmehrheiten – denn hier winken die meisten Wählerstimmen. Minderheiten wie die Privatversicherten oder Berufsgruppen wie Ärzte, Zahnärzte und Apotheker spielen für SPD und Union eine untergeordnete Rolle. Da in einer alternden Gesellschaft die Rentner und rentennahen Jahrgänge die Wahlen entscheiden, machen die Volksparteien vor allem für sie Politik. Die jüngst vom Bundestag abgesegnete Pflegereform belegt dies eindeutig. Gesundheitsminister Hermann Gröhe ist stolz, mit seinem Gesetzeswerk die Ausgaben mit einem Schlag um ein Fünftel in die Höhe zu treiben – das größte Plus, das es je in einer deutschen Sozialversicherung gab. Sorgte sich Gröhes liberaler Vorgänger, Daniel Bahr, noch darum, wie die Pflege nachhaltiger finanziert werden kann, verteilt die Große Koalition lieber neue Wohltaten.

Auch in der Tarifpolitik gilt das Interesse der Koalitionäre ausschließlich den großen Playern. Mit dem geplanten Gesetz zur Tarifeinheit wollen Sozialdemokraten und Unionspolitiker Spartengewerkschaften wie den Marburger Bund ins Abseits drängen. Die Gewerkschaft der Klinikärzte will notfalls vor das Bundesverfassungsgericht ziehen, um die von SPD und Union vorbereitete Alleinherrschaft der DGB-Gewerkschaften noch zu verhindern.

Die Beispiele zeigen, wie sehr sich binnen eines Jahres die Rahmenbedingungen verändert haben. Statt in der Gesundheits- und Pflegepolitik nach demografiefesten Finanzierungsmodellen zu suchen, wird kurzfristig ausgerichtete Wohlfühlpolitik betrieben. Die unangenehmen Auswirkungen spüren vor allem diejenigen, die nicht zu den großen Lobbygruppen wie etwa den Senioren oder DGB-Mitgliedern gehören, die derzeit von der Koalition bedient werden.

Gastkommentare entsprechen nicht immer der Ansicht der Herausgeber.

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