Im Fokus der Neurowoche

Seltene neurologische Erkrankungen gilt es früh zu erkennen

Die neurologischen Krankheitsbilder sind breit gefächert und bei vielen Störungen gibt es einen deutlichen Erkenntnisfortschritt und auch therapierelevante Neuerungen. Die Palette reicht vom Schlaganfall über die Epilepsie und Hirntumore bis hin zu seltenen neurologischen Störungen.

Alzheimer und Parkinson, Epilepsie und auch Hirntumore sind regelmäßig in den Schlagzeilen. Ganz anders sieht das bei seltenen neurologischen Störungen aus wie etwa den spinozerebellären Ataxien (SCA), der paroxysmalen kinesiogenen Dyskinesie (PKD) und der Musiker-Dystonie. Diese Erkrankungen werden wie auch andere seltene neurologische Störungen in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen und standen deshalb im Fokus der diesjährigen Neurowoche in München. Immerhin entfallen, so hieß es dort, rund 1 000 der insgesamt etwa 7 000 bis 8 000 seltenen Erkrankungen (Orphan Diseases) auf den Bereich der Neurologie. Das Problem: An die Erkrankungen wird oft nicht oder erst mit diagnostischer Verzögerung gedacht. Steht jedoch die Dia- gnose endlich, so gibt es oft keine effektive Therapie. „Denn der ökonomische Anreiz, Behandlungsmöglichkeiten für solche „Waisenkinder-Erkrankungen“ zu entwickeln, ist gering“, berichtete Professor Dr. Thomas Klockgether, Direktor des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) und Direktor der Neurologischen Klinik der Universitätsklinik Bonn.

Spinozerebelläre Ataxie – Suche nach Warnzeichen

Als Beispiel für seltene neurologische Erkrankungen wurden in München die spinozerebellären Ataxien (SCA) vorgestellt, eine Gruppe genetisch bedingter Erkrankungen, bei denen die Betroffenen nach und nach Balance und Koordinationsfähigkeit einbüßen. Die Symptome beginnen meist im Jugend- oder jungen Erwachsenenalter. Sie können vielgestaltig sein, wobei anfangs nicht selten Probleme beim Laufen, Sprechstörungen oder auch Sehstörungen auftreten. Im weiteren Verlauf verstärken sich die Symptome und schränken die Selbstständigkeit des Patienten mehr und mehr ein.

SCAs werden dominant vererbt, wobei inzwischen rund 40 Genmutationen identifiziert wurden, die mit dem Krankheitsbild assoziiert werden.

Eine ursächliche Therapie gibt es nicht, symptomatisch kann beispielsweise mittels einer Bewegungs- und Sprechtherapie behandelt werden, wie Klockgether darlegte. Die aktuellen Forschungsaktivitäten zielen deshalb vor allem darauf ab, Frühzeichen der Erkrankung zu identifizieren. Im Rahmen der europaweiten RISCA-Studie konnte beispielswiese gezeigt werden, dass die späteren Patienten durch Koordinationstests und Hirnscans bereits Jahre vor der Krankheitsmanifestation zu identifizieren sind. „Es gibt damit ein relevantes Zeitfenster für Maßnahmen zur Verhinderung oder zumindest zur Linderung der SCA“, so Klockgether.

Paroxysmale kinesiogene Dyskinesie hat Chancen

Ähnlich wie bei der SCA wird auch bei der paroxysmalen kinesiogenen Dyskinesie (PKD) nach Frühzeichen der Erkrankung gesucht. Bei der PKD wäre eine Frühdiagnose besonders relevant, da es durchaus effektive Behandlungsmöglichkeiten gibt. Charakteristisch für die Erkrankung sind kurzzeitige Bewegungsstörungen, die durch alltägliche Bewegungen wie das Aufstehen von einem Stuhl oder das Einsteigen in ein Fahrzeug ausgelöst werden. Sie halten meist höchstens eine Minute an, sind für die Betroffenen aber sehr belastend. Meistens treten die Attacken laut Professor Dr. Alexander Münchau, Sprecher des Lübecker Zentrums für Seltene Erkrankungen, erstmalig in der zweiten Lebensdekade auf. Die Betroffenen fühlen sich oft stigmatisiert, weil sie zum Beispiel beim Orchesterkonzert vom Stuhl fallen oder beim Basketballturnier von Krämpfen geschüttelt werden. Obwohl die Krankheit nicht zu den Epilepsien gehört, ist sie mit Antiepileptika meist gut zu behandeln. Vorausgesetzt, sie wird erkannt.

Musiker-Dystonie – Jazz schützt, Klassik schadet

Zu den seltenen neurologischen Störungen gehört auch die Musiker-Dystonie, an der etwa ein bis zwei Prozent aller Berufsmusiker leiden. Sie verlieren die feinmotorische Kontrolle über Bewegungsabläufe, die sie vorher lange und extrem präzise eingeübt haben. „Betroffen sind vor allem Solisten, die sich vorwiegend der klassischen Musik widmen. Jazzmusiker scheinen dagegen seltener eine solche Störung zu entwickeln“, erläuterte Münchau. Oft manifestiert sich die Erkrankung nach seiner Darstellung erst nach Jahren, wenn die Musiker bereits viel Zeit und Kraft in ihre Karriere investiert haben: Kann jedoch ein Geiger seine Finger nicht mehr richtig bewegen oder ein Trompeter seine Lippen nicht mehr in die richtige Position bringen, droht laut Münchau das Aus der Karriere.

Die Behandlung der betroffenen Musiker sollte nach seiner Darstellung in einem spezialisierten Zentrum erfolgen, wobei meist versucht wird, durch lokale Botulinumtoxin-Injektionen die übermäßige Anspannung bestimmter Muskelgruppen zu lindern.

Schlaganfall – Jede Minute zählt

Erhebliche Forschungsanstrengungen gibt es zudem hierzulande bei weit verbreiteten neurologischen Erkrankungen wie etwa dem Schlaganfall. Dabei geht es unter anderem darum, die Patienten rasch zu identifizieren und eine Lysetherapie in einer Stroke Unit durchzuführen. Gelingt dies innerhalb von 90 Minuten, so sind die Resultate sehr gut. „Es zählt deshalb jede Minute“, berichtete Professor Dr. Werner Hacke, Direktor der Neurologischen Universitätsklinik Heidelberg. Für die Lysetherapie gilt nach seinen Angaben derzeit ein Zeitfenster von 4,5 Stunden.

In Deutschland werden Schlaganfall-Patienten im internationalen Vergleich recht gut versorgt, wie eine aktuelle Erhebung ergeben hat: Demnach wird bei insgesamt zwölf Prozent der Patienten eine Lysetherapie durchgeführt, im Jahr 2012 waren es sogar 14 Prozent. „Das ist eine der weltweit höchsten Behandlungsraten“, so Hacke. Jede sechste Lysebehandlung konnte dabei innerhalb von 90 Minuten nach dem Beginn der Symptome eingeleitet werden.

WAKE-UP-Studie zum Schlaganfall im Schlaf

Etwa 25 Prozent aller Schlaganfälle treffen die Menschen im Schlaf. „Weil bei diesen Patienten der Zeitpunkt des Schlaganfalls nicht genau erfragt werden kann, können sie nicht von der Thrombolyse profitieren“, erklärte Professor Dr. Christian Gerloff, Direktor der Klinik und Poliklinik für Neurologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Mittels einer Kernspinuntersuchung wird deshalb in der sogenannten WAKE UP-Studie derzeit geprüft, ob es Hinweise dafür gibt, wie lange im individuellen Fall ein Schlaganfall zurückliegt und ob ein Patient doch noch für eine Lyse infrage kommen könnte. „Wir untersuchen nun, ob dieser neue Ansatz wirklich zu einer Verbesserung der Erholungschancen nach Schlaganfall führt“, so Gerloff.

Voruntersuchungen haben nach seinen Worten gezeigt, dass sich mittels spezieller MRT-Sequenzen mit etwa 90-prozentiger Genauigkeit feststellen lässt, ob der Schlaganfall nicht länger als 4,5 Stunden zurückliegt. „Bestätigt sich das Ergebnis in der Studie, so könnten zukünftig wahrscheinlich zahlreiche Patienten, die im Schlaf einen Schlaganfall erleiden, mit der Thrombolyse behandelt werden“, sagte der Neurologe.

Erkrankung mit genetischen Risikofaktoren

Um eine klinisch heterogene Erkrankung handelt es sich bei der Epilepsie. In einer aktuellen Studie konnte dabei jüngst gezeigt werden, dass die verschiedenen Krankheitsformen gemeinsame distinkte genetische Risikofaktoren aufweisen. Wie Professor Dr. Holger Lerche, Ärztlicher Direktor der Abteilung Neurologie mit Schwerpunkt Epileptologie der Universität Tübingen in München darlegte, sind mindestens 50 Prozent der Epilepsien genetisch bedingt, wobei die Ursache in den meisten Fällen polygen ist. Nur wenige der sogenannten idiopathischen/genetischen Epilepsien folgen einem monogenen Erbgang.

Durch epidemiologische Untersuchungen der genetischen Variation des menschlichen Genoms, sogenannte genomweite Assoziationsstudien (GWAS), konnten nunmehr drei Risiko-Loci quasi als „Epilepsie-Gene“ identifiziert werden.

Chirurgie hilft Kindern mit Epilepsie normal zu leben

Fortschritte wurden in München auch hinsichtlich der Epilepsie-Chirurgie bei Kindern berichtet. Einer Reihe von Kindern mit schwerer Epilepsie kann durch einen hirnchirurgischen Eingriff ein ganz normales Leben ermöglicht werden. „Das Entfernen von epilepsieerzeugenden Fehlbildungen im Gehirn wird aber oft zu spät und insgesamt zu selten durchgeführt“, mahnte Professor Dr. Martin Staudt, Chefarzt der Neuropädiatrie der Schön Klinik in Vogtareuth. Die chirurgischen Eingriffe reichen von der Entfernung umgrenzter epilepsieauslösender Fehlbildungen, Narben oder Tumoren im Gehirn bis hin zur Hemisphärotomie, der vollständigen chirurgischen Abtrennung der gesamten epileptogenen Gehirnhälfte. Nach dem chirurgischen Eingriff sind, je nach Ursache der Epilepsie, 50 bis mehr als 90 Prozent der Patienten anfallsfrei, erklärte der Mediziner.

Etwa fünf Prozent aller Menschen erleiden nach seinen Angaben mindestens einmal in ihrem Leben einen Krampfanfall. Einer von 200 hat eine chronische Epilepsie mit wiederkehrenden Krampfanfällen. Bei zwei Drittel aller Patienten beginnt die Erkrankung vor dem 20. Lebensjahr, unter den geschätzten insgesamt 400 000 bis 800 000 Patienten in Deutschland sind 14 Prozent Kinder.

70 Prozent der kindlichen Epilepsien lassen sich laut Staudt medikamentös ausreichend gut behandeln.

Neuroonkologie – Neues gegen Glioblastome

Noch limitiert sind die Therapiemöglichkeiten bei den Glioblastomen, besonders aggressiven Hirntumoren, an denen jedes Jahr in Deutschland rund 7 000 Menschen erkranken. Trotz operativer Tumorentfernung sowie Strahlen- und Chemotherapie verstirbt die Mehrzahl der Patienten innerhalb der ersten zwei Jahre nach der Diagnose.

Mit neuen in München vorgestellten Ansätzen versuchen die Forscher, die Behandlungsoptionen zu verbessern. Zum einen wird dabei versucht, die Tumoren minimalinvasiv mittels Laserlicht nach Vorbehandlung mit einem speziellen Farbstoff zu zerstören. Der Farbstoff akkumuliert im Tumorgewebe und macht es besonders empfindlich gegenüber Laserlicht.

In anderen Forschungsarbeiten wurde gezeigt, dass das Enzym α-Carboanhydrase-IX (CA-IX) in Glioblastomzellen überexprimiert ist. Normalerweise reguliert das membrangebundene Enzym den pH-Wert innerhalb der Zelle, bei Glioblastomzellen scheint es jedoch eine Rolle bei der Ausbreitung und Vermehrung der Tumorzellen zu spielen. Tumorzellen ohne CA-IX sprachen besser auf Strahlen- und Chemotherapie an, so dass die Inhibition von CA-IX therapeutisch bedeutsam sein könnte.

Keine zu voreilige Intervention bei Angiomen

Gewarnt wurde in München vor einer voreiligen Behandlung bei einer arteriovenösen Fehlbildung (Angiome) des Gehirns, die dank der Fortschritte in der Bildgebung immer häufiger diagnostiziert werden können. Die operative Behandlung der Fehlbildungen ist aber mit erheblichen Risiken bis hin zur Auslösung eines Schlaganfalls behaftet. „Im Rahmen der ARUBA-Studie zeigte sich, dass bei einigen nicht ruptierten Angiomen ein konservatives Management mit sorgfältiger Beobachtung des Patienten einer interventionellen Therapie überlegen sein kann“, berichtete Professor Dr. Ulrich Sure von der Klinik für Neurochirurgie des Universitätsklinikums Essen. Von den Eingriffen ist aus seiner Sicht insbesondere abzuraten, wenn die Fehlbildung nur teilweise verschlossen werden kann. Um die Kriterien für die jeweils richtige Behandlungsstrategie zu definieren, forderte Sure dringend prospektive Studien mit einem ausreichend langen Beobachtungszeitraum.

Christine VetterMerkenicher Straße 22450735 Kölninfo@christine-vetter.de

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