Was haben die Schutzmaßnahmen gebracht?
Lang erwartet worden war das Gutachten des Sachverständigenausschusses zur Evaluation der Corona-Schutzmaßnahmen im Infektionsschutzgesetz (IfSG) der Bundesregierung – am 1. Juli wurde es veröffentlicht. Die Bilanz der 18 Expertinnen und Experten aus unterschiedlichen Disziplinen fiel kritisch aus. So hätten etwa in der Anfangszeit der Pandemie von der Politik verhängte Einschränkungen wie Lockdowns und Kontaktbeschränkungen „durchaus etwas gebracht“, heißt es in dem 165 Seiten starken Papier. Die Wirkung von Masken zum Infektionsschutz sei aber nur dann gegeben, wenn diese richtig aufgesetzt werden.
Schulschließungen dürften nur als letztes Mittel der Wahl eingesetzt werden. Erhebliche Defizite gebe es bei der Risikokommunikation oder bei der Erhebung von Daten. Juristisch sei die „Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ mehr als fragwürdig. Aussagen zu Corona-Impfstoffen und -medikamenten wurden nicht getroffen. Für die Politik gab es wenig konkrete Empfehlungen.
Aufgrund der unzureichenden Datenlage seien präzise Bewertungen einzelner Schutzmaßnahmen schwierig. Denn im Pandemiemanagement der Bundesregierung seien viele Maßnahmen gebündelt ergriffen worden, die man analytisch nicht voneinander trennen könne, betonten die Fachleute vor der Presse in Berlin. Ganz explizit sei es nicht Ziel des Gutachtens gewesen, eine „Abrechnung“ mit der bisherigen Corona-Politik der Bundesregierung vorzulegen, sondern den politischen Entscheidern eine Grundlage für künftige Entscheidungen zu bieten.
Können wir zuKünftig besser entscheiden?
Hier die wichtigsten Aussagen:
Lockdown: Je länger ein Lockdown dauere und je weniger Menschen bereit seien, die Maßnahmen mitzutragen, desto geringer sei der Effekt und umso schwerer fielen die nicht-intendierten Folgen ins Gewicht. Die Wirksamkeit eines Lockdowns sei also in der frühen Phase am effektivsten, verliere aber ihren Effekt schnell.
Kontaktnachverfolgung: Auch die Kontaktnachverfolgung sei in der Frühphase der Pandemie wirksam. Dringend erforscht werden sollte aber, unter welchen Prämissen der Nutzen der Kontaktpersonennachverfolgung im Vergleich zum Anraten des „Zuhausebleibens“ bei Symptomen überwiegt. Zudem sei eine bessere Digitalisierung der Infektionserfassung mit bundesweit einheitlichen Systemen in Zukunft unabdingbar.
2G/3G: Der Effekt sei in den ersten Wochen nach der Booster-Impfung oder der Genesung hoch, heißt es im Gutachten. Der Schutz vor einer Infektion lasse mit der Zeit jedoch deutlich nach. Die Beurteilung des Effekts bleibe mit Unsicherheiten verbunden. Ist man aufgrund eines hohen Infektionsgeschehens und einer (drohenden) Überlastung des Gesundheitswesens gezwungen, Zugangsbeschränkungen einzuführen, so sei bei den derzeitigen Varianten und Impfstoffen eine Testung unabhängig vom Impfstatus zunächst zu empfehlen. In Anbetracht der leichten Übertragbarkeit der derzeit vorherrschenden Omikron-Variante bei Geimpften sowie der Impf- und Genesungsquote sei allerdings begleitend zu erforschen, wie gut eine Eindämmung über Testung funktionieren kann.
Schulschließungen: Die Wirksamkeit von Schulschließungen auf die Eindämmung des Coronavirus sei weiterhin unklar, betonten die Experten – vor allem deshalb, weil im schulischen Bereich eine Reihe von Maßnahmen gleichzeitig und gebündelt eingesetzt wurden. Da Schulschließungen die Kinder besonders schwer einschränken, sollte eine Expertenkommission die Auswirkungen dieser Maßnahme unter besonderer Berücksichtigung des Kindeswohls genauer evaluieren. Schließungen sollten nur das letzte Mittel der Wahl sein.
Masken und Maskenpflicht: Das Tragen von Masken könne ein wirksames Instrument in der Pandemiebekämpfung sein, heißt es im Gutachten. Eine schlecht sitzende Maske habe jedoch einen verminderten bis keinen Effekt. Deshalb müsse zukünftig in der öffentlichen Aufklärung ein starker Schwerpunkt auf das richtige und konsequente Tragen von Masken gelegt werden. Da die Übertragung des Coronavirus im Innenbereich ungleich stärker als im Außenbereich sei, sollte eine Maskenpflicht zukünftig auf Innenräume und Orte mit einem höheren Infektionsrisiko beschränkt bleiben. Die epidemiologisch messbare Wirksamkeit von Gesichtsmasken sei dabei gerade im Hinblick auf die unterschiedlichen Bewertungen von chirurgischer und FFP2-Maske nicht abschließend zu beurteilen. Eine generelle Empfehlung zum Tragen von FFP2-Masken sei aus den bisherigen Daten nicht ableitbar.
Datenmanagement: Angemahnt wird im Gutachten ein gezieltes Datenmanagement – das bislang fehle. Ein flächendeckendes Surveillance-System, mit dem Daten zur Wirksamkeit der einzelnen Maßnahmen erhoben und adäquat in Modellen abgebildet werden können, wäre eine hilfreiche Option für die Zukunft.
Risikokommunikation: Hier sehen die Experten Defizite. Angemahnt wird eine gezielte Risikokommunikation als staatliche Aufgabe. Statt top-down zu kommunizieren, sollten dialogische Strategien gestärkt und kontroverse Debatten zugelassen werden.
Ferner empfehlen die Sachverständigen, die psychosozialen Auswirkungen der Pandemie vor allem auf Frauen und jüngere Menschen in den Blick zu nehmen und ein besonderes Augenmerk auf Kinder und Jugendliche zu legen. Auch die Folgen für Familien und vulnerable Gruppen sollten beachtet und sozial bedingte Ungleichheiten als eigenständiges Thema der Pandemiepolitik behandelt werden. Als positiv schätzten die Experten die wirtschaftlichen Corona-Hilfen von Bund und Ländern für die Unternehmen ein.
Infektionsschutzgesetz hat erheblichen Reformbedarf
Was das Infektionsschutzgesetz angeht, sehen die Sachverständigen erheblichen Reformbedarf. Die „Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ (§ 5 Abs. 1 IfSG) stelle juristisch eine fragwürdige Konstruktion dar. Die im Gesetz vorgenommene Verlagerung wesentlicher Entscheidungsbefugnisse auf die Exekutive werde im rechtswissenschaftlichen Schrifttum ganz überwiegend für verfassungswidrig gehalten, so die Experten. Statt eines spezifischen Gesetzes für eine Pandemie sollte eine Norm geschaffen werden, die für alle kommenden Krankheitserreger und künftige mögliche Pandemien gilt.
Zoff ums Gutachten
Der Gesetzgeber hatte im Oktober 2021 festgelegt, dass das BMG eine externe Evaluation durch unabhängige Sachverständige zu den Auswirkungen der Corona-Regelungen im Infektionsschutzgesetz (IfSG) vornehmen soll. In ihrem Bericht betonen die Experten, dass ihre Arbeit vor allem dadurch erheblich erschwert wurde, dass sie zur Bewertung der auf das IfSG gestützten Maßnahmen erst im Nachhinein aufgefordert wurden. Zudem sei mit Beginn der Pandemie versäumt worden, eine ausreichende und stringente begleitende Datenerhebung durchzuführen. Diese wäre aber notwendig für die Evaluierung gewesen. Die Weichen hin zu einer statistische Begleitung des Infektionsgeschehens hätten bereits zu Beginn der Pandemie grundsätzlich anders gestellt werden müssen. Mit Blick auf die Rechtsgrundlagen der Pandemiebekämpfung mahnten die Fachleute eine grundlegende Neuausrichtung des IfSG an. Das Infektionsschutzrecht sei erst im Laufe der Pandemie um Rechtsgrundlagen für weitgehende Eingriffe ins gesamte gesellschaftliche Leben ergänzt worden.
Nach der Veröffentlichung entbrannte unter Wissenschaftlern ein heftiger Streit über das Papier. Es fehle unter anderem an Transparenz und Wissenschaftlichkeit. Konkret wurden eine systematische Literaturrecherche und ein Methodenteil vermisst. Bemängelt wurden Intransparenz bei der Auswahl und eine falsche Bewertung der Studien. Die Gegenüberstellung von Maßnahmen und Inzidenzen sei amateurhaft. Der Ausschussvorsitzende Stefan Huster hatte bereits vorab darauf hingewiesen, dass Zeit und Geld für die Arbeit gefehlt hätten. Chef-Virologe Christian Drosten hatte das Gremium auch deshalb verlassen. Drei Kommissionsmitglieder reagierten darauf auf „Zeit online“: „Der Kommission war früh klar, dass sie die überbordenden Erwartungen nicht erfüllen konnte: Eine endgültige Bewertung von einzelnen Maßnahmen der Corona-Pandemie ist schlichtweg nicht möglich.“