Studieren und Arbeiten in England

Zwischen High-End-Studium und NHS-Schock

Eva Algermissen
Schon immer war ich begeistert von England. Und ich wollte meinen Master in Implantologie machen. In Birmingham ist beides möglich – im Sommer mache ich hier meinen Abschluss. Parallel arbeite ich am Wochenende als Zahnärztin im Notdienst einer Praxis. Zunehmend spürbar wird dabei, was es heißt, dass Patienten zu lange auf einen Termin warten (müssen), entweder weil sie vorher keinen bekommen oder weil sie sich die Behandlung schlicht nicht leisten können.

Birmingham, College of Medicine and Dentistry: Hier mache ich den Master of Oral Implantology – mit internationalen Studierenden, auf hohem Niveau und mit vielen praktischen Kursen. Unter der Woche besuche ich Seminare, lerne für meine Weiterbildung oder schreibe an meiner Masterarbeit.

An den Wochenenden bin ich als sogenannte „On call“-Zahnärztin in einer Praxis in der Stadt tätig. Dort stehe ich für Notfälle zur Verfügung und behandle die Akutpatienten. Ein Großteil der Eingriffe sind dabei Extraktionen oder Abszesseröffnungen.

Da im National Health Service (NHS) Termine schwer zu bekommen oder die Wartezeiten sehr lang sind, wird bei Beschwerden tatsächlich deutlich schneller zur Zange gegriffen, als ich das aus Deutschland kenne. Die Möglichkeit der Zahnerhaltung bieten wir natürlich immer an, aber aus Termin- oder Kostengründen wird das meist abgelehnt. Das muss man lernen zu akzeptieren.

Im NHS greift man deutlich schneller zur Zange

Um meinen Wunsch nach einem Auslandsaufenthalt und mein Interesse für Implantologie und Oralchirurgie zu verknüpfen, begab ich mich auf die Suche nach einem passenden Masterstudiengang – und fand den „MSc Oral Implantology“ in Birmingham in den West Midlands. Der Studiengang bietet eine umfassende Ausbildung im Bereich der Implantologie. Von den Grundlagen bis zu komplexen Fällen sind alle Aspekte abgedeckt. Das Curriculum umfasst nicht nur theoretische Vorlesungen, sondern auch klinische Übungen und praktische Erfahrungen im Operationssaal.

Obwohl ich keine zahnmedizinischen Kontakte in die Region hatte, gelang es mir nach dem Umzug und dem Start des Studiums schnell mich zurechtzufinden. Inzwischen kann ich mich hier gut austauschen, erfahre, welche beruflichen Möglichkeiten es neben dem Studium gibt und wie die Arbeitsbedingungen sind. Mit Fragen zum Studium konnte ich mich im Vorfeld an den Studierendenservice des Colleges wenden. Informationen zur Registrierung findet man auf der Website des General Dental Council (GDC). In Deutschland habe zuvor ich als allgemeine Zahnärztin gearbeitet, wollte aber einen Schwerpunkt setzen: Deshalb entschied ich mich für den Master.

Es gibt eine gewisse Angst vor Beschwerden „unzufriedener“ Patienten

Behandlungen und Falldiskussionen mit den klinischen Supervisoren, den Uni-Dozenten, finden einmal wöchentlich statt. Besprochen werden meistens die Fälle der kommenden Woche, so dass wir genau wissen, was auf uns zukommt. Studierende und Supervisor arbeiten gemeinsam an komplexen Behandlungen und diskutieren neue Behandlungskonzepte. Die restliche Woche verbringe ich mit theoretischen und praktischen Weiterbildungen oder nehme an Hands-on-Kursen teil, in denen ich oft neue Behandlungsmethoden erlerne. Die Kurse finden entweder an Schweinekiefern oder an Humanpräparaten statt.

Ein großer Unterschied zu Deutschland, der mir aufgefallen ist, betrifft die Bewertungs- und Beschwerdekultur: Gelegentlich stellen Patienten Beschwerden bei der Praxis ein oder hinterlassen schlechte Rezensionen, wenn sie nicht 100-prozentig zufrieden sind. Ob diese Beschwerden immer gerechtfertigt sind, ist fraglich. Dennoch besteht eine gewisse Angst vor Beschwerden – und normalerweise erstattet die Praxis einen Teil der Behandlungskosten, um weitere Unannehmlichkeiten zu vermeiden. Glücklicherweise ist der Großteil der Patienten aber freundlich und dankbar für die Behandlung – besonders an einem Sonntagnachmittag im Schmerzdienst.

21 Monate Wartezeit bis zum Extraktionstermin!

Meinen ersten „NHS-Schock“ hatte ich kurz nach Arbeitsbeginn bei einer Patientin, die eine Extraktion des 45 benötigte. Sie kam zu mir in den privaten Schmerzdienst mit einem Abszess, der geöffnet werden musste. Ihr NHS-Zahnarzt hatte sie für die Extraktion zu einem Spezialisten überwiesen, da es ein besonders schwieriger Fall sei und er selbst selten Zähne ziehe. Die Wartezeit bis zum Extraktionstermin vom Start der Beschwerden betrug ungefähr 21 Monate! Für die wiederkehrenden Beschwerden und Abszesse bekam sie alle paar Monate von ihrem NHS-Zahnarzt Antibiotika verschrieben. Kosten für die Extraktion beim Spezialisten: etwa 500 Pfund (um die 584 Euro), die nicht vom NHS getragen werden.

Die Wartezeit kam ihr insofern gelegen, als dass sie diese Summe nicht stemmen konnte. Ich habe sie eine Woche später im College einbestellt und den Zahn extrahiert, denn dort sind die Behandlungen kostenfrei. Insgesamt gibt es zum Teil leider extrem lange Wartezeiten für NHS-Behandlungen, oft auch für Weisheitszahn-OPs. Ein Jahr ist keine Seltenheit. Wenn in der Zwischenzeit Beschwerden auftreten, sind Antibiotika das Mittel der Wahl. Wer zügiger behandelt werden will – und es sich leisten kann –, nimmt Privatleistungen in Anspruch.

Alles ist auf Augenhöhe – man fühlt sich unter Kollegen

In England organisieren sich Zahnärztinnen und Zahnärzte in professionellen Verbänden wie der British Dental Association (BDA) oder dem Royal College of Surgeons. Diese Organisationen bieten Fortbildungen, Networking-Möglichkeiten und setzen sich für die beruflichen Interessen der Zahnärzte ein. Die BDA bietet beispielsweise regelmäßig Kurse, Tagungen und Veranstaltungen an, die klinische wie nicht-klinische Themen umfassen. Das bietet den Mitgliedern eine breite Palette an Lernmöglichkeiten. Durch die Uni bin ich quasi direkt Teil eines Netzwerks von nationalen und internationalen Zahnärzten geworden.

Das College pflegt enge Beziehungen zu führenden Experten und Fachleuten auf dem Gebiet der Implantologie und Oralchirurgie. Daher finden regelmäßig Kurse und Fortbildungen statt, die von Spezialisten aus aller Welt gehalten werden – und man trifft sich am College oder auf Kongressen wieder. Wir haben sogar Studierende aus Australien, die für Hands-on-Kurse in den Flieger steigen.

Die Stimmung bei den Zusammenkünften empfinde ich als super. Es ist nicht wie früher als Studentin in der Uni, sondern alles auf Augenhöhe. Man fühlt sich unter Kollegen. Die typische Hierarchie zwischen Studierenden und Dozenten spüre ich hier nicht. Insgesamt ist die Uni sehr international ausgerichtet, dadurch ergibt sich ein interkultureller Austausch, den ich beruflich und privat sehr spannend finde.

Meine persönlichen Erfahrungen in England sind wirklich positiv. Anschluss findet man leicht, da die Leute sehr offen sind und man schnell ins Gespräch kommt. In der Uni-Klinik und in meiner Praxis herrscht eine freundliche Arbeitsatmosphäre und in beiden wurde ich von Tag eins an herzlich ins Team aufgenommen. Dass die deutsche Pünktlichkeit hier nicht unbedingt erforderlich ist, daran habe ich mich gewöhnt (und bin trotzdem immer noch zu früh dran).

Dr. Eva Algermissen

Zahnärztin
on the way zum Master of Implantology

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