Digitalisierung des Gesundheitswesens in Deutschland und Europa

Auf der Suche nach dem Masterplan

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Die Digitalisierung im Gesundheitswesen wurde auf der Digital-Health-Messe DMEA in Berlin aus einer Vielzahl von Perspektiven betrachtet. In allen Keynotes und Panels war man sich jedoch einig: Um die Gesundheitsversorgung mithilfe der Digitalisierung zu verbessern, müssen Projekte und Bemühungen besser vernetzt werden.

Auf einen für sie wichtigen Dreiklang in Zusammenhang von Gesundheit und Digitalisierung wies Judith Gerlach (CSU), Bayerische Staatsministerin für Gesundheit, Pflege und Prävention, in ihrer Keynote hin: „Ich möchte dazu drei Gedanken formulieren und sie an die neue Bundesregierung adressieren. Das Erste ist: Vergesst die Praxis nicht! Das Zweite ist: Vergesst die Menschen nicht! Und das Dritte ist: Vergesst die Sicherheit nicht!“

Zu Punkt eins führte sie aus, dass neue Technologien wie Künstliche Intelligenz natürlich vorangetrieben werden müssten, manchmal sei es in Deutschland aber noch immer notwendig, bei den Basics anzusetzen – und beispielsweise für leistungsfähiges WLAN in Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen zu sorgen. Außerdem müssten die Erkenntnisse aus Modellprojekten besser geteilt werden: „Oft ist es so, dass der eine Kompetenz-Cluster nicht weiß, was der andere macht. Auf diese Weise erfinden alle das Rad immer wieder neu, statt Know-how clever zu vernetzen.“

Lost in Digitalization

Die CSU-Politikerin betonte, dass die Digitalisierung nicht nur eine technische Seite habe: „Und das ist mein zweiter Punkt: Es geht auch um die Menschen und die Frage: Verstehen sie digitale Anwendungen und können sie sie bedienen?“ Daran habe sie Zweifel. Erst kürzlich habe ihre Staatskanzlei eine Studie vorgestellt, wonach die Gesundheitskompetenz der Menschen in Deutschland zurückgehe. „Nur noch ein Viertel der Deutschen kann sich ohne Probleme in unserem Gesundheitssystem orientieren, drei Viertel der Leute sind teilweise lost.“

Gerlach plädierte dafür, die Bürgerinnen und Bürger mit guten kommunikativen Maßnahmen mitzunehmen und Ängste abzubauen, indem man die Vorteile der Digitalisierung hervorhebe. Für die Beschäftigten im Gesundheitswesen seien außerdem Fortbildungsinitiativen entscheidend. „Nicht alle Menschen sind digital affin. Aber wenn wir die Digitalisierung an ihnen vorbei vorantreiben, wird sie nie Fuß fassen. Hier müssen wir zeigen, welchen Mehrwert digitale Technologie für die Praxis schafft.“

Ein dritter Punkt, den Gerlach in Richtung der designierten Bundesregierung adressierte: Die Digitalisierung der Gesundheitsversorgung müsse krisenfest und insbesondere geschützt vor Cyber-Attacken sein. Hier mahnte sie an, dass die Entwicklung der digitalen Infrastruktur auch im Bereich Sicherheitsstandards gut aufeinander abgestimmt ablaufen müsse. „Denn“, schloss sie ihren Vortrag, „ich glaube, dass Digitalisierung nur so gut ist, wie sie auch sicher ist.“

Viele News zur ePA

Der scheidende Bundesgesundheitsminister und DMEA-Schirmherr Prof. Dr. Karl Lauterbach (SPD) bezeichnete das Gesundheitswesen als Taktgeber für die Digitalisierung in Deutschland. Mit Blick auf die elektronische Patientenakte (ePA) trat er jedoch erst einmal auf die Bremse: „Ich gehe davon aus, dass wir in den kommenden Wochen in eine Hochlaufphase der ePA eintreten können und so die nächste Stufe der Testung erleben werden – außerhalb der Modellregionen und breiter aufgesetzt.“ Für die Heilberufe folgte eine wichtige Ergänzung: Die Teilnahme an der ePA-Testung werde für Ärztinnen und Ärzte zunächst freiwillig sein und zunächst auch ohne Sanktionen ablaufen. (Anmerkung: In der Woche nach der DMEA wurde bekannt, dass Lauterbach den bundesweiten ePA-Start für den 29. April terminiert hat, siehe Kasten.)

Bundesweiter Roll-out der ePA beginnt

In der Woche nach der DMEA wurde bekannt, dass Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach den bundesweiten ePA-Start auf Ende April terminiert hat. In einem Brief an die Gesellschafter der gematik – darunter die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung – schrieb er, dass die Akte „ab dem 29. April 2025 in ganz Deutschland genutzt werden“ könne. Die Begrenzung auf die Modellregionen werde dann aufgehoben: „Die Hochlaufphase soll von den Leistungserbringenden genutzt werden, um sich ausgiebig mit der ePA vertraut zu machen und sie in die Versorgungsabläufe zu integrieren. Dabei werden weitere Erfahrungen gesammelt, um die Mehrwerte der ePA in der Versorgung entstehen zu lassen. Spätestens ab dem 1. Oktober 2025 ist die ePA entsprechend der gesetzlichen Vorgaben und Verpflichtungen bundesweit durch die Leistungserbringenden zu nutzen.“

Dr. Susanne Johna, erste Vorsitzende und Vizepräsidentin des Marburger Bundes (MB), sagte in einer Diskussionsrunde am zweiten Messetag, dass unter der Ampel-Regierung ein Aufbruch im Gesundheitswesen wahrzunehmen gewesen sei. Bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens habe sich Vieles zum Positiven verändert: Die ePA habe an Fahrt aufgenommen und werde nun in die Breite gebracht. Funktionen wie der Medikationsplan und das bereits erfolgreich etablierte E-Rezept hätten aus ihrer Sicht großes Potenzial.

Allerdings gebe es zurzeit noch zu viele Insellösungen im Gesundheitswesen. „Uns fehlt ein Masterplan“, lautete Johnas Fazit. Man müsse nun abwarten, ob von der Ampel angestoßene Vorhaben wie die Krankenhausreform zu Verbesserungen führten. Für die neue Regierung bleibe viel zu tun, hielt die MB-Vize fest, insbesondere eine zügige Reform der Notfallversorgung.

Wanted: ein europäisches Mindset

Eine der letzten Diskussionsrunden drehte sich um den Europäischen Gesundheitsdatenraum (EHDS), der am 26. März in Kraft getreten ist. An dem Panel nahmen Vertreterinnen und Vertreter der AOK, der gematik und der Industrie teil. Alle schilderten ihren Blick auf die Möglichkeiten, die sich durch den EHDS eröffnen. Einigkeit herrschte darüber, dass der EU-weite Rechtsanspruch auf einfachen Zugang zu elektronischen Gesundheitsdaten als ein Riesenfortschritt zu werten sei.

Nicht nur Patientinnen und Patienten, die im Ausland medizinische Hilfe benötigten, sondern auch die Gesundheitsfachkräfte profitierten enorm vom Zugriff auf die sogenannten Primärdaten der Versicherten, weil mit ihrer Hilfe bessere Behandlungsentscheidungen möglich seien. Der EHDS diene jedoch nicht nur dem Austausch von Primärdaten, sagte Ira Mießler, Referentin im Bundesgesundheitsministerium (BMG). Vereinbart worden sei zudem die Sekundärnutzung von Gesundheitsdaten in den Bereichen Forschung und Industrie. Zukünftig könnten Unternehmen, Forschungseinrichtungen und öffentliche Organisationen über ein europaweit einheitliches System einen Antrag auf die Nutzung von Gesundheitsdaten stellen, um diese für bestimmte, gesetzlich festgelegte Zwecke zu nutzen.

Die Vertreterinnen und Vertreter der Unternehmen auf dem Panel äußerten großes Interesse an dieser Möglichkeit. Allerdings hätten die Unternehmen das Potenzial des EHDS noch nicht flächendeckend erkannt, räumte Dr. Andreas Bachmeier vom Unternehmen Zeiss Digital Innovation ein: „In vielen Unternehmen ist er noch gar kein Begriff. Hier muss also noch ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, den EHDS in die Prozesse der Unternehmen zu integrieren, zum Beispiel, wenn es um die Datenbeantragung geht. Wenn die Industrie das entsprechende Know-how etabliert hat, könnte sich das Potenzial auch tatsächlich entfalten.“

Delia Strunz von Johnson & Johnson sagte: „In den 27 EU-Staaten gibt es sehr viele Player, die gemeinsam den EHDS aufbauen. Es muss dafür Sorge getragen werden, dass sie gut verzahnt miteinander arbeiten und dass es Kanäle für den Erfahrungsaustausch gibt.“ Andernfalls laufe man Gefahr, dass man vorhandene Expertise nicht effizient nutze, sondern dass alle „immer wieder von vorne anfangen“. Dem stimmte Dr. Malte Haring, Geschäftsführer bei inav (privates Institut für angewandte Versorgungsforschung), zu. Er sprach sich für weniger „sektorales Denken“ aus: „Davon sind wir in der EU nach wie vor geprägt, auch im Bereich Datenhaltung. Wenn wir es schaffen, diese Haltung aufzubrechen und ein europäisches Mindset zu etablieren, können wir die Chancen des EHDS nutzen.“

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