Urteil des Oberverwaltungsgerichts Hamburg

Ärztin verliert Approbation wegen Telemedizin-Betrug

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Gesellschaft
Eine rein digitale Praxis ohne Patientenkontakt – geht das? Nein! Das Oberverwaltungsgericht Hamburg entzog einer Gynäkologin deshalb die Approbation.

Im vorliegenden Fall hatte sich eine Fachärztin für Frauenheilkunde und Geburtshilfe bis zum Jahr 2013 in eigener Praxis niedergelassen, an einem telemedizinischen Unternehmen ihres Sohns beteiligt.

Über dessen Webseite erhielten Nutzer auch die Möglichkeit, sich krankschreiben zu lassen und die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AU) auf elektronischem Wege zu erhalten. Dafür mussten sie lediglich einen standardisierten Online-Fragebogen ausfüllen und Daten zur Person angeben. Nach einer kurzen Auswertung verschickte die angeklagte Ärztin daraufhin die AU – ohne persönlichen Kontakt und ohne Verifizierung der gemachten Angaben.

Vom Fragebogen zur AU: Der Vorgang im Detail

Laut dem Urteils des Hamburgischen Gerichts für Heilberufe vom 27. Oktober 2021 stellte sich der Ablauf wie folgt dar:

Nach Aufruf der Website „www.....de“ gelangte der Nutzer durch Anwahl der Felder ,,AU-Schein anfordern" und „Krankschreibung anfordern" zu einer Maske, in der verschiedene Erkrankungen aufgeführt waren, aus denen eine durch Anklicken ausgewählt werden konnte. Durch Anklicken einer der vorgenannten Erkrankungen gelangte der Nutzer zu einem Fragebogen, der sich auf das ausgewählte Krankheitsbild bezog. Der jeweilige Fragebogen enthielt unterschiedliche Fragestellungen. Zu Beginn wurden Fragen zu konkreten Beschwerden gestellt, die mit „Ja" oder „Nein" beantwortet werden konnten. Daran schloss sich in der Regel ein Feld mit der Aufforderung „Wählen Sie Ihre Symptome" an. In diesem Feld fanden sich die Symptome in Schlagwörtern, die vom Nutzer angeklickt werden konnten. Dann folgte jeweils die Frage „Haben Sie darüber hinaus weitere Symptome?", die wiederum mit „Ja" oder „Nein" beantwortet werden konnte. Hier folgte in einigen Fällen die Frage, ob der „Patient" durch die Beschwerden in seiner Arbeitsfähigkeit beschränkt sei. Beim Komplex „Rückenschmerzen" folgte die Frage, ob der Patient mehr als vier Stunden am Tag sitzend arbeite. Teilweise wurde überhaupt nicht auf die Auswirkungen der Beschwerden auf die Arbeitsfähigkeit eingegangen. Weitere Fragen zur Symptomatik oder zur konkreten Arbeitsunfähigkeit wurden nicht gestellt.

Es schlossen sich folgende weitere Fragen an: wann ist das erste Symptom aufgetreten? (Antwortmöglichkeiten: heute, gestern, vorgestern, vor über zwei Tagen), ab wann brauchen Sie eine AU? (Antwortmöglichkeiten: vorgestern, gestern, heute), für wie viele Tage fühlen Sie sich arbeitsunfähig? (Antwortmöglichkeiten: ein Tag, zwei Tage, drei Tage). Nach Beantwortung dieser Fragen durch Anklicken wurde dem Nutzer an dieser Stelle mitgeteilt, dass der Arzt dem Wunsch des Patienten zur Dauer der Arbeitsunfähigkeit folgen werde. Im Anschluss an diese Mitteilung wurde der Nutzer zu einem weiteren Fragenkatalog weitergeleitet, der sich mit dem Ausschluss von Risiken befasste bzw. wurde dem Nutzer folgende Mitteilung gemacht: „Es tut uns leid! Leider können Sie zu Ihrer eigenen Sicherheit unseren Dienst nicht nutzen, da sie Ausschlusskriterien erfüllen oder eine verlässliche Diagnose so nicht möglich ist. Wir empfehlen Ihnen dringend, sich mit einem Telearzt in Verbindung zu setzen!". Wurde z.B. die erste Frage des Fragebogens „Regelschmerzen", die wie folgt lautete: „Haben Sie mittelstarke bis starke krampfartige Schmerzen im Unterbauch?“ (Antwortmöglichkeiten: Ja bzw. Nein) mit „Nein" beantwortet, gelangte man automatisch zu der Mitteilung „Es tut uns leid". In dieser Mitteilung war wiederum die Option „zurück" anzuklicken, die es dem Nutzer durch einen Mausklick ermöglichte, zu dem von ihm ausgefüllten Fragebogen zu gelangen und die dort erbetenen Angaben erneut zu machen bzw. inhaltlich zu verändern und anzupassen.

Nach Änderung der Angaben konnte der Fragebogen erneut „abgeschickt" werden mit der Möglichkeit, auf der Grundlage der nunmehr geänderten Angaben eine AU-Bescheinigung zu erlangen. Nach Ausfüllen des Fragebogens gelangte der Nutzer zu einem weiteren Fragebogen, der ausschließen sollte, dass der „Patient" an einem Krankheitsbild oder einer Symptomatik litt, die dringend durch einen persönlichen Kontakt mit einem Arzt abgeklärt werden sollte:,,Risiken: falls eines der folgenden Risiken bei Ihnen vorliegt, können Sie unseren Service leider nicht nutzen. Im Zweifel oder wenn Sie eine Frage nicht verstehen, antworten Sie bitte zu ihrer eigenen Sicherheit mit „Ja"." Vor Beantwortung der anschließenden Fragen zur Bewertung des Risikos wurde der Nutzer darauf hingewiesen, unter welchen Umständen er keine AU-Bescheinigung ausgestellt bekommen könne. Wurden die Fragen zu etwaigen Risiken mit „Nein" beantwortet, konnte dieser Fragenkatalog über das Feld ,,Weiter" beendet werden. Wurde die Eingabe „Weiter" angeklickt, gelangte der Nutzer zu einer Eingabemaske, in die er personenbezogene Daten wie Name, Vorname, Geburtsdatum, E-Mail etc. eingeben konnte.

Nach der Eingabe war eine Auswahl zu treffen zwischen der Möglichkeit, die AU-Bescheinigung als PDF-Dokument oder zusätzlich per Post zugesandt zu bekommen. Die erste Alternative kostete 14,- Euro. Die zusätzliche Übermittlung einer AU-Bescheinigung auf dem Postweg kostete weitere 8,- Euro. Der Nutzer wurde sodann zum Bezahlen mit unterschiedlichen Zahlweisen weitergeleitet. Nachdem der Nutzer bezahlt hatte, wurde ihm durch Zusendung einer E-Mail oder „WhatsApp" eine automatisiert erstellte AU-Bescheinigung digital zugeleitet. Die von den Nutzern angegebenen Informationen wurden ungeprüft übernommen. Entschied der Nutzer sich in der „Produktauswahl" neben der PDF-AU-Bescheinigung auch für die postalische Übersendung einer AU-Bescheinigung, wurde ihm eine eigenhändig von der Antragstellerin [der angeklagten Ärztin] unterschriebene AU-Bescheinigung zugesandt. Die Tätigkeit der Antragstellerin beschränkte sich in diesen Fällen allenfalls auf eine Überprüfung der Schlüssigkeit der bereits auf der Bescheinigung vorausgefüllten Diagnose anhand der Angaben der Kunden im Online-Formular.

Außerdem konnten Nutzer über die Webseite Corona-Selbsttest-Zertifikate mit Praxisstempel und Unterschrift der Ärztin erhalten. Auf dem Zertifikat stand: „Die u.g. Person hat keine Symptome und ist nicht mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 infiziert, da sie einen negativen Antigen-Test gemacht hat unter meiner fachärztlichen Überwachung meiner Arztpraxis i.S.d. § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 TestV gemäß § 2 Nr. 7 SchAusnahmV.“ Für den Erhalt eines solchen Schreibens genügte jedoch die Angabe, man habe sich selbst negativ getestet. Eine Überprüfung durch die Ärztin fand auch hier nicht statt. Vielmehr genügte es, das Foto eines gebrauchten Test-Kits einzusenden.

Die Ärztin hat sich berufsunwürdig verhalten

Das Berufsgericht für die Heilberufe Hamburg erteilte der Ärztin wegen Berufsvergehens einen Verweis. Zudem verurteilten die Richter sie zur Zahlung eines Bußgelds in Höhe von 6.000 Euro. Die zuständige Approbationsbehörde widerrief die Approbation der Frau und ordnete die sofortige Vollziehung an: „Nach dem Erkenntnisstand des Eilverfahrens sei anzunehmen, dass sich die Antragstellerin als berufsunwürdig erwiesen habe, weil sie über mehrere Jahre in einem automatisierten Verfahren über das Internet massenhaft AU-Bescheinigungen gegen Entgelt unter ihrem Namen sowie auch zahlreiche Testzertifikate zum sog. Corona-Schnelltest ohne verlässliche Prüfung ausgegeben habe.“

Dabei sei die Ausstellung der mit ihrer Unterschrift versehenen AU-Bescheinigungen erfolgt, „ohne dass sie jemals mit den betreffenden Personen wegen ihrer angegebenen Erkrankungen – persönlich, per Videoschaltung oder per Telefon – in Kontakt getreten sei“, so die Approbationsbehörde weiter. Darüber hinaus sei davon auszugehen, dass die Ärztin ihre berufsspezifischen Pflichten „auch zukünftig nicht beachten werde und es ihr damit an der notwendigen Zuverlässigkeit zur Ausübung des Arztberufs i.S.d. § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Alt. 2 BÄO fehle.“

Die Verwendung eines Online-Formulars ist keine Behandlung

Das Verwaltungsgericht und das Oberverwaltungsgericht Hamburg bestätigten die Entscheidungen: „Für die Feststellung der Berufsunwürdigkeit eines Arztes ist es unerheblich, ob die gravierende Verfehlung auch strafbewehrt oder gar strafrechtlich geahndet worden ist“, urteilten die Richter.

„Ein Arzt, der ein Online-Verfahren anwendet, bei dem auf der Grundlage von online angeklickten, vorbezeichneten Antwortmöglichkeiten automatisiert erstellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen in Form einer PDF-Datei, die mit der Faksimile-Unterschrift des Arztes versehen sind, erstellt und ausgegeben werden, verstößt gegen die Berufspflicht nach § 25 der Berufsordnung der Hamburger Ärztinnen und Ärzte“, heißt es in der Urteilsbegründung weiter.

Auch stelle die Verwendung eines standardisierten Online-Formulars zur Erlangung einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung keine Behandlung im Sinne der Berufsordnung dar, weil der individuelle Austausch zwischen Arzt und Patient vollständig fehle.

Oberverwaltungsgericht Hamburg
Urteil vom 15. Dezember 2022
Az.: 3 Bs 78/22

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