Arbeitslänge: 80 Millimeter
zm-online:Dr. Loose, Sie sind einer der wenigen Wildtierzahnärzte Deutschlands. Warum dieses Patientenklientel?
Dr. Marc Sven Loose:Meine "Wildtierpatienten" sind Braunbären, Löwen und Tiger. Sie sind im besonderen Maße schützenswert, da sie Teil unseres Ökosystems sind und leider immer noch von Menschen gequält und ihrer Würde beraubt werden. So vegetieren sie in Zirkusbetrieben dahin oder werden in Zoos unter sehr schlechten Bedingungen gehalten. In Freiheit lebend fallen viele von ihnen Trophäenjägern zum Opfer.
Die meisten der von mir behandelten Tiere wurden von der Stiftung Vier Pfoten aus sehr schlechten Haltungsbedingungen befreit und dürfen nun ihren Lebensabend in großzügigen naturnah eingerichteten Parks verbringen. Ich möchte diesen wundervollen Tieren ein Stück weit ihre Würde zurückgeben und in meinem Rahmen die gesundheitlichen Voraussetzungen dafür schaffen, dass sie in den Auffangzentren beschwerdefrei leben können. Die Tiere leiden an Zahnfrakturen und allen Zahnerkrankungen, die wir auch beim Menschen kennen, verursacht durch ständiges Ketten- oder Gitterbeißen, schlechter Ernährung aber auch an den Folgen von Alkoholkonsum, der zur Showeinlage gehörte.
Was unterscheidet Diagnostik und Therapie von Mensch und Bär?
Genaue Beobachtung der Tiere durch die Tierpfleger machen es möglich, akuten Behandlungsbedarf schnell zu erkennen: Verändertes Fressverhalten, vermehrten Speichelfluss oder Kratzen im Kopf- und Halsbereich, besondere Zurückgezogenheit (Bären) oder aggressives Verhalten (Großkatzen) lassen den Verdacht auf akute Schmerzgeschehen zu, so dass unser zahnärztliches Handeln erforderlich sein kann. Auf diese wichtigen Informationen müssen wir uns initial verlassen und haben dann im Rahmen der Untersuchung die Möglichkeit am narkotisierten Tier die Zahngesundheit klinisch zu beurteilen.
Die für Menschen geltenden Untersuchungsprinzipien sind auch hier richtig. Über ein digitales Röntgenbild des gesamten Schädels durch die tierärztlichen Kollegen habe ich als Zahnarzt in der Vergrößerung eine recht gute Information über die wichtigen Strukturen und kann dann meine Therapie planen. Eine dreidimensionale Darstellung mit deutlich besserer diagnostischer Aussage ist unter den Umständen in den Parks nicht durchführbar.
Es gelten die Prinzipien wie bei Menschen, die in Vollnarkose behandelt werden. Wir treten grundsätzlich als Assistenten der Tierärzte auf und arbeiten eng im Team zusammen. In den vergangenen 10 Jahren ist eine enge Kooperation mit dem Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) in Berlin entstanden, das auf die Narkose von Wildtieren spezialisiert ist und die Projekte von Vier Pfoten wissenschaftlich begleitet. So konnte ich mehr als 300 Zahnbehandlungen an Bären, Löwen und Tigern durchführen.
###more### ###title### "Parodontitis und Raumforderungen im Sinne von Neubildungen sind typische Diagnosen!" ###title### ###more###
"Parodontitis und Raumforderungen im Sinne von Neubildungen sind typische Diagnosen!"
Wie läuft denn eine Wildtier-Behandlung ab?
Die in den Bärenparks von Vier Pfoten lebenden Bären werden in regelmäßigen Abständen veterinärmedizinisch untersucht und behandelt. Sie werden aus ihren großen Freigehegen separiert oder direkt dort von den spezialisierten Veterinärmedizinern des Leibnitz Instituts für Zoo- und Wildtierforschung mit dem Narkosegewehr oder dem Blasrohr sediert. Das Team des jeweiligen Tierparks trägt den Bären in einen Behandlungsraum, wo alles für die Vollnarkose sowie für die zahnärztliche Behandlung vorbereitet ist. Die Veterinärmediziner verwenden eine für den Menschen sehr ähnliche i.V. Intubationsnarkose unter EKG-Kontrolle. Der Atemreflex wird allerdings nicht ausgeschaltet. Es werden Fell-, Blut-, Urin- und Stuhlproben entnommen, Röntgenaufnahmen unter anderen des Schädels sowie Ultraschallaufnahmen inklusive Doppleraufnahmen der Organe durchgeführt.
Die Tatzen werden durch Seile fixiert, um das Risiko von Verletzungen des Behandlungsteams durch Reflex- oder Krampfbewegungen der Tiere zu minimieren. Sobald das Tier in einer stabilen Narkose liegt, beginnen wir als zahnärztliches Team mit unserer systematischen Untersuchung. Extra- und intraorale entzündliche Schwellungen, Karies, Zahnfrakturen sowie Vernarbungen an Lefzen, Zunge und Wange durch gewaltsames menschliches Zutun (Ketten zum Halten der ehemaligen Tanzbären), Parodontitis und auch Raumforderungen im Sinne von Neubildungen sind typische Diagnosen.
Es wird sofort begonnen, die zum Teil erheblichen Befunde zu priorisieren, um in der aktuellen Sitzung ein Maximum an Effekt im Sinne einer Gesundung zu erreichen. Zusammen mit den Tierärzten wird anhanddessen besprochen, wie lange der Patient in Narkose verbleiben darf und wie danach die Behandlung geplant und durchgeführt. Nach Lokalanästhesie zur zusätzlichen Schmerzausschaltung führen wir konservierend-chirurgische Leistungen durch.
Die konservierenden Behandlungen werden mit Kofferdam durchgeführt. Wurzelkanalbehandlungen können aufgrund der Ausstattung eines Behandlungsraums eines Tierparks nicht mit dem OP-Mikroskop durchgeführt werden. Prothetische Versorgungen spielten bisher keine Rolle für mein Wildtier-Patientenklientel. Es gibt Braunbären, die fast zahnlos sind und dennoch feste Nahrung zerkleinern können.
###more### ###title### "Die Wurzelkanalfeilen sind 75 bis 90 Millimeter lang!" ###title### ###more###
"Die Wurzelkanalfeilen sind 75 bis 90 Millimeter lang!"
Vor welchen Herausforderungen stehen Sie bei der Behandlung?
Erstens: Wir arbeiten unter hohem Zeitdruck, um in der verbleibenden Zeit ein Maximum an zu behandelnden Zähnen zu therapieren, da meist eine Folgebehandlung erst in 6 bis 12 Monaten machbar ist.
Zweitens: Wir halten im Grunde eine komplette mobile Zahnarztpraxis mit Instrumenten, Materialien und Geräten wie zum Beispiel eine mobile Behandlungseinheit, Absauger, Polymerisationslampe, Sterilisationsgerät etc. vor. Die Bedingungen in den unterschiedlichen Bärenparks im Behandlungsraum sind nicht vergleichbar mit den Bedingungen in einer modernen Zahnarztpraxis. Meist ist eine stehende Behandlung über mehrere Stunden an einem überbreiten feststehenden OP-Tisch nötig.
Drittens: Wurzelkanalbehandlungen an den Fangzähnen, den Dentes Canini, bedeuten aufgrund der extremen Länge von 70 bis 80 Millimetern bei großem Kanallumen eine enorme Herausforderung. Sie erfordern einen hohen Aufwand bezüglich der Darstellung und des „Flarings“ des gekrümmten Kanallumens mit Lindemannfräsen (60 Millimeter) und langen Wurzelkanalfeilen (75 bis 90 Millimeter), um die notwendige Arbeitslänge zu erreichen. Die elektrometrische Längenbestimmung funktioniert bei diesen Dimensionen nicht wirklich präzise, so dass man ohne eine Röntgen-Mess-Aufnahme zu einer fehlerhaften Längenabstimmung kommt.
Besonders komplex ist die Obturation des Lumens entweder über die kombinierte laterale und vertikale Kondensation mittels spezieller Guttaperchaspitzen (60 Millimeter) und Sealer oder aber mittels MTA. Beide Techniken erforderten die Herstellung spezieller Instrumente. Der Verschluss erfolgte in den letzten 10 Jahren mittels eines autopolymerisierenden Aufbaumaterials inklusive Glasfaserstiften und einer Deckfüllung aus einem hochwertigen Nanokomposit mit Schmelz-Ätz-Technik. Bei jährlichen Nachkontrollen sehen wir die Haltbarkeit bestätigt oder müssen nur kleinere Füllungsreparaturen durchführen.
###more### ###title### "Dann wachte einer der von uns behandelten Löwen während der Narkose auf!" ###title### ###more###
"Dann wachte einer der von uns behandelten Löwen während der Narkose auf!"
In welchen Ländern waren Sie bereits im Einsatz und welche Tiere haben Sie dort behandelt?
Wir starteten 2006 im Tanzbärenpark in Bulgarien und behandelten die von Vier Pfoten befreiten Tanzbären. Im Laufe der Jahre kamen dann viele weitere Vier Pfoten Projekte dazu, und zwar in:
Deutschland : Bärenwald Müritz
Kosovo: Bärenwald Prishtina
Polen : Kooperationsprojekt mit dem Zoo Posen
Ukraine: Auffangstation für Baitingbears
Südafrika: Löwen und Tiger im Lionsrock Park
Darüber hinaus kommen seit 2016 auch einheimische Wildparks und Zoos auf uns zu und bitten um unsere Unterstützung, die wir gerne im Sinne der Tiere leisten, wie zum Beispiel der Wildpark Schwarze Berge bei Hamburg und der Wildpark Johannismühle in Brandenburg.
Erinnern Sie sich an Ihre gefährlichste Behandlung?
Als wir in 2009 in südafrikanischen Bethlehem im Lionsrock Park waren, in dem Löwen aus ehemals sehr schlechter Haltung leben, war das Interesse der Studenten und Medien so groß, dass die Tiere sehr unruhig wurden. Der Adrenalinspiegel der Tiere war deutlich erhöht. Dies führt zum raschen Abbau des Narkosemittels, so dass eine stabile Narkose zu schwer zu fahren war. Einer der von uns behandelten Löwen wachte während der Narkose auf. Alle Personen, die sich im Behandlungsraum befanden, hatten den Raum unverzüglich zu verlassen, mit Ausnahme der verantwortlichen Tierärzte des Zoo Johannisburg und aus Sicherheitsgründen des „Gunman“, der sich schussbereit machte. Zum Glück konnten die Veterinärmediziner durch eine erneute Verabreichung von Medikamenten eine ausreichende Sedierung des Löwen erreichen, so dass die Behandlung beendet werden konnte.
Seit 2006 behandelt der Hamburger Zahnarzt Dr. Marc Sven Loose Wildtiere. Seinen ersten Einsatz hatte er im Tanzbärenpark Belitsa in Bulgarien. Etwa vier- bis sechsmal jährlich fährt er die Projekte von Vier Pfoten an. Darüber hinaus behandelt er auch gern Bären und Großkatzen in Wildparks und Zoos. Vor Kurzem versorgte er im Zoo Posen die zwei Bären Baloo und Ewka chirurgisch als auch endodontisch. Aber in der Regel behandelt er menschliche Patienten in seiner Hamburger Praxis.