Aus gesund wird krank
Seit 1952 wird der "Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders" (DSM) von der American Psychiatric Association herausgegeben. Er gilt als maßgeblicher Leitfaden zur Diagnose seelischer Störungen und Krankheiten. Die neue, fünfte Fassung wird jedoch sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in Europa stark kritisiert. Der Tenor: Das DSM-5 pathologisiert Alltagsprobleme und macht aus gesunden Menschen psychisch Kranke.
Bestenfalls ein Wörterbuch
Über 900 Experten haben laut "Tagesspiegel" an dem Handbuch mitgearbeitet, die Kritik aber nicht verhindern können. "Der DSM-Leitfaden ist als 'Bibel' des Fachgebiets beschrieben worden, aber er ist bestenfalls ein Wörterbuch", zitiert das Blatt den Direktor des Nationalen Instituts für mentale Gesundheit (NIMH) der USA, Thomas Insel. "Seine Schwäche ist der Mangel an Zuverlässigkeit." Die vom NIMH unterstützte Forschung werde sich künftig nicht mehr am DSM als maßgeblicher Richtschnur orientieren.
"Gesunde werden zu Kranken gemacht"
Auch in Deutschland steht der DSM-5 unter Beschuss "Die Überarbeitung des Katalogs war eigentlich nicht nötig", sagte Wolfgang Maier, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde, der "Zeit". "Methodisch hat sich DSM-5 qualitativ nicht wesentlich weiter entwickelt als sein Vorgänger." Allerdings rücke die Grenze zwischen gesund und krank nun gefährlich nah an normales Verhalten heran. "Die Kollegen scheuen sich nicht, einen großen Anteil von Gesunden zu Kranken zu machen", so Maier.
Aus Trauer wird Depression
Die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) warnt davor, Diagnose-Kriterien für psychische Erkrankungen aufzuweichen. BPtK-Präsident Prof. Rainer Richter kritisiert, dass in dem Handbuch Trauer nach dem Verlust einer nahestehenden Person bereits nach zwei Wochen als Krankheit eingestuft werden kann: "Wer intensiv trauert, erfüllt zwar häufig formal die Kriterien einer Depression, ist aber nicht krank. Der oftmals monatelange Schmerz von Trauernden solle nicht als behandlungsbedürftig gelten.
Erstmals erfasst der DSM-5 auch Wutausbrüche von Kindern und Jugendlichen: Die Diagnose "Disruptive Mood Dysregulation Disorder" wertet Richter in einer Mitteilung als "hilflosen Versuch", eine US-spezifische Überdiagnostik von bipolaren Störungen bei Kindern in den Griff zu bekommen. Als sinnvoll bezeichnete er die Aufnahme des pathologischen Glücksspiels als Verhaltenssucht.
Für Deutschland wird die Veröffentlichung des DSM-5 keine unmittelbaren Auswirkungen haben, weil Ärzte und Psychologen nach dem Diagnoseschlüssel der Weltgesundheitsorganisation, dem ICD-10, abrechnen. Doch auch das ICD-10 werde laut Richter gerade überarbeitet. Es sei nicht auszuschließen, dass Diagnosen nach dem Vorbild der USA übernommen werden. Der DSM wird auch als Grundlage für die Forschung anerkannt.