Deutsche wollen größere Beachtung der Gendermedizin
Mehr als acht von zehn sind zudem überzeugt, dass auch Krankheitssymptome geschlechterspezifisch sind. Gleichzeitig erhalten jedoch 67 Prozent der 1.000 Befragten von Ärzten keine Informationen über unterschiedliche Wirkungen von Medikamenten auf Frauen und Männer. Dies werde aus ihrer Sicht weder in der Forschung noch im Arztgespräch ausreichend berücksichtigt. Besonders viele Frauen, nämlich 88 Prozent, glauben, dass bei ihrem Geschlecht andere Symptome auftreten. 79 Prozent der Männer sind der gleichen Ansicht.
Im ArztGespräch beklagen besonders Frauen mangelnde Transparenz
Im Gespräch mit Ärzten beklagen der Umfrage zufolge besonders Frauen eine mangelnde Transparenz: Nur 26 Prozent sagen, ihr Arzt habe sie über die unterschiedlichen Wirkungen von Medikamenten aufgeklärt – im Unterschied zu 40 Prozent der Männer.
Insgesamt haben demnach zwei Drittel der befragten Frauen und Männer keine entsprechende Auskunft bei der ärztlichen Behandlung erhalten. 83 Prozent wünschen sich deutliche Hinweise von Medizinern, wenn noch unklar ist, ob Medikamente auf Männer und Frauen unterschiedlich wirken. Nur 33 Prozent sagen, ihr Arzt habe mit ihnen darüber gesprochen.
Frauen haben bei den gleichen Krankheiten häufig andere Symptome
Prof. Dr. Sabine Oertelt-Prigione, Inhaberin von Deutschlands erster Professur für geschlechtersensible Medizin an der Universität Bielefeld, unterstreicht: „Frauen zeigen bei den gleichen Erkrankungen aber häufig andere Symptome. So sind bei Männern die klassischen Symptome für einen drohenden Herzinfarkt starke Brustschmerzen, junge Frauen können in dieser Situation unter Übelkeit und Schwindel leiden. Asthma zeigt sich bei Jungen durch Geräusche beim Atmen, bei Mädchen oft durch trockenen Husten.“
Sie weist darauf hin, dass Frauen generell öfter unter Nebenwirkungen von Arzneimitteln leiden. Gleichzeitig könnten Medikamente bei Frauen aufgrund von Körpergröße, Gewicht und Hormonen anders wirken als bei Männern. Oertelt-Prigione: „Wir haben bei klinischen Studien zu Corona festgestellt, dass das Geschlecht kaum beachtet wurde, obwohl längst bekannt war, dass Männer und Frauen unterschiedlich betroffen sind – es hatte sich einfach so etabliert und war gesellschaftlich akzeptiert. Inzwischen sehen wir bereits einen Wandel bei der Auswahl der Probanden für Studien. Die geschlechterspezifische Analyse erfolgt aber weiterhin zu selten.“
Hersteller sollten Packungsbeilagen anpassen
Doch wo sind die Lücken? Laut der Untersuchung erwarten 82 Prozent der Befragten generell mehr Informationen, wie sich Symptome bei Erkrankungen wie zum Beispiel beim Herzinfarkt je nach Geschlecht unterscheiden. Auch die Pharmaindustrie sollte nach Ansicht von 87 Prozent der Deutschen ihre Packungsbeilagen anpassen und dort klar auf die Unterschiede bei der Verwendung durch Männer und Frauen hinweisen. 86 Prozent der Befragten sehen den Gesetzgeber in der Pflicht, klare Vorgaben zu einer geschlechterangepassten Gesundheitsversorgung zu machen.
„Der Wandel zur personengerichteten Medizin mit dem Ziel, einen kooperativen Prozess zwischen Patientinnen, Patienten, Ärztinnen und Ärzten zu schaffen, beginnt erst,“ bilanziert Oertelt-Prigione. Dafür müssten die Mediziner ihre Deutungshoheit aufgeben und die Expertise ihrer Patienten für die eigene Gesundheit wahrnehmen. Andere Länder wie die Niederlande, Kanada oder Großbritannien seien da weiter. Die jüngere Generation treibe diesen Wandel auch in Deutschland voran.
Die Studie „Geschlechtersensible Medizin“ wurde im Februar 2022 im Auftrag der pronova BKK durchgeführt. Bundesweit wurden 1.000 Erwachsene ab 18 Jahre repräsentativ online befragt
Das bisherige Norm-Maß war der Mann
Bis in die 1980er Jahre diente ausschließlich der männliche Körper als medizinisches Modell. Es herrschte die Annahme, die biologischen Prozesse im Körper von Mann und Frau gleichen sich. Bis in die 1990er Jahre wurden Medikamente zudem fast ausschließlich an Männern getestet. Zwar nehmen seither auch Frauen an Medikamentenstudien teil, doch liegt ihr Anteil oft bei nur etwa 30 Prozent.
Der Grund sind hormonelle Schwankungen bei der Frau, die beim Mann wegfallen. Mittlerweile wird eine stärkere Beteiligung des weiblichen Geschlechts an Studien angestrebt. Weiteres Ziel ist eine geschlechtsspezifische Anpassung von Dosierungen sowie Ergänzungen der Beipackzettel um Hinweise zu möglichen genderspezifischen Nebenwirkungen. Denn Männer benötigen häufig eine höhere Dosierung als Frauen und auch die Nebenwirkungen unterscheiden sich mitunter stark von jenen, die bei Frauen auftreten.
Quelle: pronova BKK