Die Kirsch-Zahnpasta Ihrer Majestät
Die Frau im silbernen Badeanzug hängt kopfüber am Trapez von der Decke. Sie beißt in ein Mundstück und hält damit ein gewaltiges Gewicht in der Luft. Die Akrobatin, deren Kunststück die Besucher des Dr. Samuel D. Harris National Museum of Dentistry in Baltimore begrüßt, ist eine Nachbildung von Penny Wilson, die schon als Zwölfjährige in den 1950er Jahren für ihren "Eisenkiefer" berühmt war.
Das originale Mundstück besteht aus dem Hartgummi eines Schuhabsatzes, Leder und einem Metallhaken. Es trägt noch den Abdruck von Penny Wilsons Gebiss und Spuren von Lippenstift.
Das Museum of Dentistry im US-Bundesstaat Maryland hat sich der anthropologischen, kulturellen und medizinischen Geschichte von allem verschrieben, was mit Zähnen, deren Gebrauch, Bedeutung und Therapie zu tun hat. Knochentrocken geht es dabei nicht zu – im Gegenteil. Die Exponate machen die frühe Zahnbehandlung bei den ägyptischen Pharaonen ebenso greifbar wie die verheerenden Folgen durch Zucker zu Shakespeares Zeiten oder die Anfänge der modernen Zahnmedizin im 18. Jahrhundert. Viele Teile der Ausstellung richten sich an Kinder. Sie sollen für Mundgesundheit begeistert werden: durch Zahnpasta-Spots zum Mitsingen, Zahnputzstationen und die spielerische „Plaque Attacke“.
Die Museumseröffnung: Statt der Schärpe wird ein Stück Zahnseide durchtrennt
Das Museum steht auf historischem Boden: Es gehört zum Campus der Universität Maryland, wo 1840 mit dem Baltimore College of Dental Surgery die älteste zahnärztliche Hochschule der Welt gegründet wurde. Zur offiziellen Museumseröffnung 1996 durchschnitt Namensgeber und Sponsor Dr. Samuel D. Harris anstatt einer Schärpe ein Stück Zahnseide.
Ziel der Institution ist, allgemein das Bewusstsein für Mundgesundheit zu stärken und zahnmedizinische Ahnenforschung zu betreiben. Er habe noch nie so viel Stolz gegenüber seiner Profession empfunden wie nach dem Besuch des Museum of Dentistry, sagte Roger Levin, ehemaliger Zahnarzt und erfolgreicher Praxisberater. In der Tat: Die Zahnheilkunde ist einen langen Weg gegangen. Zwischen dem Barbier, der auf dem mittelalterlichen Marktplatz Zähne zog und dabei die Schreie seiner „Kundschaft“ mit Trommeln übertönen ließ, und der heutigen hochprofessionellen Branche liegen Welten. Doch eins waren die Behandler immer: einfallsreich.
Kirschzahnpasta für die Queen
Die Ausstellung wirft einen Blick in die Zeit um 2500 v. Chr., als der afrikanische Beamte Hesi-Ré für die Pharaonen-Gebisse zuständig war. Hesi-Ré gilt als erster namentlich bekannter Arzt der Weltgeschichte. Es gibt Kopien von Inlays der Maya-Hochkultur zu sehen, zahnmedizinische Instrumente durch die Jahrhunderte, mit allerlei Behelfspedalen betriebene Bohrer und verzweifelte Beschwörungsformeln gegen den Zahnwurm.
Das prominenteste Ausstellungsstück stammt aus dem Mund von George Washington: eine Elfenbein-Prothese mit Goldfedern. Der so gut wie zahnlose Präsident kämpfte zeitlebens nicht nur mit wuchtigen Prothesen, sondern auch mit der Unterstellung, er trage ein Holzgebiss.
Zahnmedizinisches Besteck von Edwin Saunders, dem Behandler von Queen Victoria, gehört ebenfalls zur Sammlung. Darunter sind Instrumente mit Perlmuttgriff und Verzierungen aus vergoldetem Silber, ein Dentalspiegel mit einem Griff aus Achat und Büchsen mit der royalen Kirschzahnpasta.
Im alten Rom trugen Diebe den Zahn eines schwarzen Hundes bei sich
Zähne haben häufig eine große kulturelle und mythologische Bedeutung, das wird im National Museum of Dentistry deutlich. Sie sind Symbol für Status, Stärke, manchmal werden ihnen sogar magische Kräfte zugeschrieben. So besaß der griechische Gott Herkules der Sage nach eine zusätzliche Reihe Zähne. Hindu-Göttin Siva, die für Kreativität genauso wie für Zerstörung steht, wird stets mit ungewöhnlich langen, scharfen Zähnen dargestellt. Und im alten Rom trugen Diebe den Zahn eines schwarzen Hundes bei sich, um sich bei Einbrüchen vor den Haustieren der Wohnungsbesitzer unsichtbar zu machen. Auch heute noch werden Zähne als Reliquien verehrt, wie der linke Eckzahn Buddhas, der alljährlich in Kandy, Sri Lanka, bei einer feierlichen Prozession durch die Stadt getragen wird.
Japan: Schwarzgefärbte Zähne signalisierten Treue
In der westlichen Welt gilt ein Lächeln mit strahlend weißen, geraden Zähnen als erstrebenswert. Das war nicht immer und überall so. Die Mode, sich die Zähne zu schwärzen, hielt sich in Japan vom ersten Jahrtausend teils bis ins 20. Jahrhundert. Die Schwarzfärbung sollte unter anderem Treue signalisieren. Erreicht wurde sie durch ein übel riechendes Gebräu auf der Grundlage von Eisenacetat und Gerbsäure.
In verschiedenen Weltregionen sollten spitz gefeilte Zähne Wehrhaftigkeit suggerieren. Einige indigene Gruppen Australiens brachen sich Schneidezähne aus, um den Übergang ins Erwachsenenalter zu markieren. Rituelle Zahnentfernungen gab es auch in Polynesien, als Zeichen der Trauer. Aktuelle Zahnmodifikationen sind etwa das Aufkleben von Schmucksteinen aus Gold oder Kristallglas und das in der Rap- und Hip-Hop-Szene beliebte Anbringen von Grillz, protzigen Aufsätzen aus Gold oder Silber.
Über eine herkömmliche zahnhistorische Sammlung geht das National Museum of Dentistry weit hinaus. Ob es um Ethno-Zahnmedizin, Populärkultur und Schönheitstrends, die Geschichte der Dentalhygiene oder die Evolution der Zahnheilkunde geht, das Museum bringt alles unter ein Dach.
Mehr zum National Museum of Dentistry: www.dental.umaryland.edu/museum/index.html